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INTERVIEW/011: Das System e-Card - Kathrin Vogler, Bundestagsabgeordnete Partei Die Linke (SB)


Gegen den Ausverkauf des Gesundheitswesens, für Patientenautonomie



Interview mit Kathrin Vogler, MdB, am 26. April 2012

Kathrin Vogler ist Mitglied im Deutschen Bundestag für die Partei Die Linke. Als stellvertretende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses ist sie unter anderem mit der Einführung der Elektronischen Gesundheitskarte (eGK) und der Neuregelung des Transplantationsgesetzes befaßt, wozu sie dem Schattenblick einige Fragen beantwortete.

Porträt - Foto: © Deutscher Bundestag / H. J. Müller

Kathrin Vogler
Foto: © Deutscher Bundestag / H. J. Müller

Schattenblick: Frau Vogler, Sie haben in einer Kleinen Anfrage zum "Entwicklungsstand bei der neuen Elektronischen Gesundheitskarte" von der Bundesregierung die Antwort [1] erhalten, daß die Realisierung der e-Card schrittweise und unter Maßgabe der Wirtschaftlichkeit erfolgt. Das legt nahe, daß es keine definitive Zielsetzung gibt, sondern ein versuchsweises Vorgehen, eine Art trial and error-Verfahren. Trifft das zu?

Kathrin Vogler: Das muß man so feststellen. Uns fehlen ganz wesentliche Informationen. Das Projekt ist sozusagen ein work in progress, weswegen es auch die Vertreter der gematik bei unserem Fachgespräch, das wir als Linksfraktion geführt haben, so dargestellt haben. Da gab es ganz viele "könnte" und "sollte" und relativ wenig klare definitive Aussagen. Definitiv klar ist nur, daß der Online-Abgleich der Versichertenstammdaten mitsamt Bild kommt. Allerdings kann die Karte, die jetzt im Augenblick ausgegeben wird, nicht wesentlich mehr als die alte.

SB: Könnte es sich bei dieser Nichtfestlegung um ein systematisches Vorgehen der gematik handeln, um sich auf diese Weise Kritik zu ersparen?

KV: Zum einen muß man sagen, daß die gematik bisher relativ schlechte Erfahrungen mit den Feldtests gemacht hat. Sie sind durchweg gescheitert. Daß heißt, wenn man sich vorher nicht detailliert festlegt, in welchem Zeitabschnitt man welche Funktionen entwickelt und implementiert haben möchte, dann kann einem natürlich auch nicht vorgeworfen werden, Zeitpläne nicht eingehalten oder Versprechen nicht eingelöst zu haben. Insofern ist das für die gematik ein Freibrief, weiter so herumzuwurschteln wie bisher, und das wird von der Politik auch gedeckt. Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) scheint auf diesem Kurs voll mitzufahren.

SB: Sie hatten in der Kleinen Anfrage auch das Thema Mehrwertdienste angesprochen. Im Rahmen des europäischen Projekts Electronic Health Records for Clinical Research (EHR4CR) ist bereits die "Sekundärnutzung von Daten aus elektronischen Patientenakten für die klinische Forschung" [2] geplant. Könnte das möglicherweise ein Einfallstor für das Interesse Dritter an diesem gigantischen Datenfundus sein?

KV: Es ließe sich vielleicht noch darüber diskutieren, ob es nicht sogar sinnvoll wäre, einige dieser Daten auch für die Forschung zu nutzen. So kranken wir in vielen Bereichen daran, daß keine ordentliche Versorgungsforschung betrieben werden kann, weil es keine Stellen gibt, die diese Daten zentral zusammenführen. Meine Sorge ist allerdings, daß es große kommerzielle Interessen an der Auswertung solcher Daten gibt, beispielsweise um die Nachfrage nach bestimmten Gesundheitsdienstleistungen oder Produkten der Pharmaindustrie besser planen und zuschneiden zu können. Damit würden meiner Ansicht nach die Daten der Patientinnen und Patienten für kommerzielle Zwecke mißbraucht, und das sehe ich sehr kritisch.

SB: Die Freiwilligkeit der Anwendung erscheint wie ein Zugeständnis an die Selbstbestimmung des Patienten. Nun kann diese Freiwilligkeit aber auch durch ökonomischen oder moralischen Druck in eine bestimmte Richtung manipuliert werden. So werden etwa bei Chronikerprogrammen in der ärztlichen Praxis erhobenen Daten mit dem Einverständnis der Patienten an die Krankenkassen weitergegeben. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

KV: Selbst wenn eine Anwendung freiwillig ist, stellt sich doch die Frage, wer die Kontrolle darüber hat, ob also die Patientin oder der Patient tatsächlich bis ins Letzte kontrolliert, was mit diesen Daten passiert. Daran ist zu zweifeln, wenn diese Daten tatsächlich auf zentralen Servern gespeichert und damit für die Krankenkassen zugriffig werden. Die Freiwilligkeit ist auch deshalb in Frage gestellt, weil es eine Zugriffsinfrastruktur geben muß, damit die Patientinnen und Patienten ihre Daten selber verwalten. An der Theke meines Hausarztes ist immer relativ viel Betrieb und auch das Wartezimmer ist voll. Ich stelle mir das ausgesprochen schwierig vor, selbst wenn man ein sogenanntes Terminal hinstellt, dort in Ruhe selbstbestimmt die Daten auf meiner e-Card zu verwalten. Ich glaube, das sind Potemkinsche Dörfer, die da aufgebaut werden. Das wird so nicht stattfinden. Wenn man zum Beispiel eine USB-Stick-Lösung einführt, bei der der Patient seine Daten mit nach Hause nimmt und selber an seinem heimischen PC bearbeiten kann, wäre Selbstbestimmung gewährleistet, aber doch nicht, wenn man in einer Arztpraxis oder im Wartezimmer seiner Krankenkasse an einem Terminal steht und sich beeilen muß, weil der nächste schon hinter einem wartet.

SB: Die Kritiker der e-Card bemängeln in erster Linie die zentrale Verwaltung der Daten. Gilt das auch für die Linkspartei?

KV: Wir haben noch weitere Kritikpunkte, so zum Beispiel, daß das Ganze ein völlig unüberschaubar teures Projekt von sehr begrenztem Nutzen ist. Gerade wir als Linksfraktion achten auch in allen anderen Bereichen im Gesundheitswesen darauf, daß die Kosten im vernünftigen Verhältnis zum Nutzen stehen, und zwar zum Nutzen für die Patientin oder den Patienten bzw. für die Versicherten. Und das können wir beim derzeitigen Stand überhaupt nicht erkennen. Zum einen wissen wir noch gar nicht, wie hoch die Kosten sein werden, zum anderen kann uns niemand überzeugend darlegen, wo der Nutzen für die Patientin oder den Patientin liegt. Das ist ein gewichtiges Argument, weil wir finden, daß Versichertengelder, also die Mittel aus den Krankenkassen, zur Versorgung der Patientinnen und Patienten dienen sollten. Und da haben wir eigentlich genug Baustellen, die meiner Ansicht nach eine Prioritätsstufe höher stehen sollten als die Finanzierung dieses Telematik-Projekts.

Eine andere Frage betrifft des Arzt-Patienten-Verhältnis und wie es sich durch die Zwischenschaltung dieser technischen Lösung verändert. Dazu haben wir allerdings keine abschließende gemeinsame Position, aber ich finde, daß man da noch einmal genauer nachfassen muß. Viele Patientinnen und Patienten berichten, daß ihnen in der Arztpraxis kaum noch ins Gesicht geschaut, sondern immer nur auf den Monitor und ihre Daten geblickt wird. Da muß man ein Fragezeichen setzen. Was bedeutet es eigentlich für das Arzt-Patienten-Verhältnis, wenn der Patient immer mehr zu einem Bündel Daten wird, was bedeutet dies für das Verständnis von Therapie und Diagnose?

SB: Im Rahmen des neuen Organspendegesetzes ist geplant, daß die Entscheidung des jeweiligen Inhabers einer e-Card zur Organspende dort eingetragen wird. Das könnte zur Folge haben, daß die Krankenkassen ein Schreibrecht auf der e-Card bekommen. Was halten Sie von dieser Lösung?

KV: Dem gegenüber bin ich sehr kritisch eingestellt, und deswegen habe ich auch gemeinsam mit anderen Kolleginnen und Kollegen einen Änderungsantrag zu diesem Gesetzentwurf erarbeitet, den wir in den nächsten Tagen ins Parlament einbringen werden, um diese Möglichkeit der Speicherung auf der E-Card aus dem Gesetzentwurf vollkommen streichen zu lassen. Unsere Kritik hat mehrere Gründe. Zum einen stellt die Frage des Schreibrechts von Krankenkassenbeschäftigten eine Ausweitung des e-Card-Projekts in eine Richtung dar, die wir für bedenklich halten. Zum anderen bedeutet es, selbst wenn man die e-Card befürwortet, daß nützliche Anwendungen noch weiter in die Zeitleiste geschoben werden, weil die gematik ja keine zusätzlichen Mittel dafür bekommt, sondern die Kosten für die Entwicklung aus ihrem laufenden Haushalt tätigen muß bzw., wenn sie es nicht schafft, die Bundesregierung andere Firmen beauftragen und bezahlen muß, um diese Entwicklung vorzunehmen.

Hinzu kommt, daß die Speicherung auf der e-Card perspektivisch die Möglichkeit zu umfassender Kontrolle ermöglicht, was unserer Ansicht nach nicht geeignet ist, das Vertrauen der Menschen in das System Organspende zu befördern. Wir kennen solche Debatten aus allen möglichen Bereichen des Gesundheitswesens, wo die Zuteilung von Gesundheitsversorgung an Menschen mit einem bestimmten erwünschten Verhalten rationiert werden soll. Wir hatten erst gestern eine Anhörung über den 52 Abs. 2 des SGB V, in dem es darum geht, daß Menschen, die sich tätowieren oder piercen lassen oder sich sogenannten Schönheitsoperationen unterziehen, mögliche gesundheitliche Folgen selber zu tragen haben und die gesetzlichen Krankenkassen dafür nicht aufkommen. Das war auch ein großes Problem bei den unsicheren Brustimplantaten, wo sich die Debatte darum drehte, welches Verhalten dazu führen müßte, daß man Versorgungsansprüche aus den Leistungen herausnimmt.

Im öffentlichen Diskurs um die Organspende gibt es tatsächlich Stimmen, die fordern, daß nur jemand, der sich selber als Organspender hat registrieren lassen, bei Bedarf auch ein solches Spenderorgan bekommt. Für mich ist das eine ganz gefährliche Debatte, weil damit menschliche Gesundheit und Lebenschancen zur Ware werden, wenn auch zunächst nur auf der Ebene eines Tauschäquivalents. Zum anderen sehen wir riesige praktische Probleme, die man mit dem bisherigen Organspendeausweis gar nicht hat. Einmal angenommen ich bin in den Niederlanden unterwegs, das ist bei mir in der Nachbarschaft, und habe dort einen Unfall oder erleide eine schwere Krankheit, dann wäre ich eine potentielle Organspenderin, aber das kann dort gar nicht umgesetzt werden, weil die Karte in den Niederlanden nicht funktioniert. Hinzu kommt, daß die Privatversicherten von dieser e-Card-Lösung ausgenommen sind, weil die privaten Krankenversicherungen sich nicht beteiligen. Das würde die Spaltung der Gesellschaft an dieser Frage nochmal vertiefen. Es gibt also viele Argumente dafür, das Ganze sein zu lassen. Ich hoffe, daß wir im Zuge der parlamentarischen Debatte die eine oder andere Kollegin oder Kollegen von unserer Position überzeugen können.

SB: Dazu gäbe es möglicherweise auch den politischen Anhaltspunkt des neoliberalen Primats der Eigenverantwortung. Wenn man das auf die Gesundheitspolitik anwendet, dann zeigt sich, daß der Versuch, die Menschen für ihr Schicksal selbst verantwortlich zu machen, auch dazu im Widerspruch steht, daß sie in einer Gesellschaft leben, die eine ganze Reihe krankmachender Faktoren aufweist, für die sie nichts können. Ist das in der Partei Die Linke ein Diskussionsgegenstand?

KV: Natürlich, das ist auch ein Punkt an dieser Stelle des Rationierungsdiskurses, wo wir uns verweigern und eine Demokratisierung fordern. Auch die Frage, wer Spenderorgane bekommt, darf man meines Erachtens nicht in privatrechtlich verfaßte Gremien auslagern, wie das im Augenblick passiert. Dafür müßte in irgendeiner Art und Weise eine staatliche Stelle, die dann auch parlamentarisch kontrollierbar ist, Verantwortung übernehmen. Das Problem mit dem neoliberalen Eigenverantwortungsdiskurs geht ganz tief hinein in alle anderen Parteien. Uns wird ja immer wieder vorgehalten, daß man die Leute zu bestimmten Verhaltensweisen verpflichten muß oder sie andernfalls bestraft werden. Bei der zahnärztlichen Versorgung wurde von Rot-Grün durchgesetzt, daß beim Zahnersatz umso mehr erstattet wird, je mehr man das erwünschte Verhalten an den Tag legt und regelmäßig mit seinem Scheckheft zur Vorsorgeuntersuchung geht. Das kann man aber auch in anderen Bereichen durchbuchstabieren, und dementsprechend haben die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien kein vernünftiges Präventionskonzept. In ihren Augen bedeutet Prävention, daß man irgendwo ein paar bunte Plakate aufhängt, um den Leuten zu erklären, wie man dies oder jenes gesundheitsfördernd richtig macht. Aber die gesundheitsgefährenden Arbeitsbedingungen durch die enorme Arbeitsverdichtung und Entgrenzung von Arbeitszeiten spielen dabei keine Rolle. So kann man Prävention nicht wirklich sinnvoll betreiben.

SB: Der medizinische Vorstand der Deutschen Stiftung Organspende (DSO), Günter Kirste, plädierte vor der ersten Lesung um die Neuregelung des Transplantationsgesetzes dafür, daß die Ärzte noch vor Feststellung des Hirntodes über die Entscheidung zur Organspende des jeweiligen Patienten informiert werden, damit die Beatmung des Sterbenden sichergestellt werden kann. Das kann der Patientenverfügung widersprechen, wenn dort verlangt wird, daß lebenserhaltenden Maßnahmen eingestellt werden. Was halten Sie von dieser Forderung?

KV: Dazu sage ich nur einen Satz: Ich finde das vollkommen indiskutabel. Und einen zweiten möchte ich noch anhängen: Ich bin sehr zuversichtlich, daß die meisten Ärztinnen und Ärzte solche Gedankenspielchen scharf zurückweisen werden.

SB: Sie haben in der ersten Lesung zum Organspendegesetz am 22. März eine kritische Position bezogen. Im Plenarprotokoll [3] ist nachzulesen, daß der Abgeordnete Jens Spahn von der Unionsfraktion in Ihre Rede den Zwischenruf "Verschwörung" eingeworfen hatte. Und der Unionsabgeordnete Wolfgang Zöller meinte sogar, wenn man hierzulande die Möglichkeit in Erwägung zieht, daß Kontrolle über Patienten ausgeübt würde, wäre das quasi ein Rückfall in die DDR, und diese Zeiten hätte man ja längst überwunden. Erleben Sie so etwas öfter?

KV: Ja, natürlich erlebe ich so etwas öfter, vor allem als Mitglied meiner Fraktion. Das ist durchaus der übliche Umgang insbesondere aus der Unionsfraktion mit uns. Ich war aber auch sehr aufgeladen, weil es sich ja um eine ethische Debatte handelte. Und gerade in diesen ethischen Debatten, wo Fraktionszwänge aufgehoben werden, gehen wir eigentlich anders miteinander um. Für mich macht das noch einmal deutlich, daß die Kollegen es relativ schwer hatten, meiner Position wenigstens zuzuhören, ganz zu schweigen davon sie nachzuvollziehen. Da steckt ein großer politischer Druck dahinter, dieses Gesetz, so wie es eingebracht worden ist, zu verabschieden, und alles, was dann quer kommt, führt gleich zu der Aufregung, kritische Fragen nicht mehr stellen zu dürfen. Ich finde, daß so etwas dem gemeinsamen Anliegen der Organspende überhaupt nicht dienlich ist. Natürlich sind das Fragen, die sich auch die Menschen stellen. Als gewählte Abgeordnete des ganzen Volkes ist es deshalb unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, diese Fragen hier auch zu debattieren. Dafür haben wir ein Parlament, und wenn man das nicht aushält, dann ist man dort fehl am Platz.

SB: Bei der Durchsicht des Plenarprotokolls fällt auf, daß zum Thema Hirntod relativ wenig gesagt wurde. Die Abgeordnete der Grünen, Birgitt Bender, hat immerhin darauf hingewiesen, daß der als hirntot diagnostizierte Mensch am Beginn eines Sterbeprozesses steht. Und der Unionsabgeordnete Norbert Geis hat die Zweifel, die Mediziner heutzutage am Hirntod hegen, bestätigt, aber gleichzeitig erklärt, daß dies der Organentnahme nicht im Wege stehen dürfe. Was sagen Sie dazu, daß diese elementare Frage in einer Debatte, in der es um eine so wichtige Entscheidung geht, eher beiläufig abgehandelt wurde?

KV: Das ist der Wichtigkeit solcher Debatten nicht wirklich angemessen. Auf der anderen Seite sind wir weder ein Medizinerkonzil noch ein Ethikrat. Die Ethikkommission der Bundesregierung hat sich ja vor unserer Debatte wesentlich ausführlicher mit diesen Fragen beschäftigt. Ich glaube und empfinde es auch so, daß auf den Abgeordneten hoher Druck liegt, solche kritischen Fragen in den Hinterkopf zu verbannen, weil wir alle Angst davor haben, wie sich kritische Debatten auf die Zahl der zur Verfügung stehenden Spenderorgane auswirken könnten.

Allerdings bin ich der Auffassung, wenn man diese kritischen Fragen nicht debattiert und offen anspricht, daß dann erst recht Raum für das entsteht, was der Kollege Spahn vielleicht "Verschwörungstheorie" nennen würde. Im Positionspapier meiner Fraktion und in der Antragsbegründung des Gesetzentwurfes bzw. in den Papieren der anderen Fraktionen werden Transparenz und Vertrauen als notwendige Basis der Organspende ausgewiesen. Wenn wir diese Transparenz nicht herstellen, werden wir kein Vertrauen erzeugen. Und deswegen bin ich dafür, alle auf dem Tisch liegenden Fragen offen zu diskutieren und auch einzugestehen, an der Stelle können wir wissenschaftliche Erkenntnisse vorlegen, an dieser und jener Stelle nicht. Das ist dann vielleicht eher eine Glaubens- oder Einschätzungsfrage, aber es ist immens wichtig, den Menschen gegenüber die Ehrlichkeit aufzubringen und ihnen zu sagen, das sind die und die Fragen, die jeder für sich selber beantworten muß vor dem Licht unterschiedlicher Erkenntnisse.

SB: Die Absicht, eine größere Organernte einzufahren, könnte schlichtweg daran scheitern, daß möglicherweise gar nicht so viele Organe zur Verfügung stehen. Da in erster Linie Schädel-Hirn-Patienten zur Organspende herangezogen werden, ist natürlich irgendwo eine Grenze erreicht, die noch enger werden könnte, wenn zum Beispiel einmal eine Höchstgeschwindigkeit auf den Autobahnen eingeführt wird und die Sicherheitsmaßnahmen im Straßenverkehr noch besser greifen. Gibt es wirklich einen objektiven Grund dafür, diesen enormen Aufwand für die Entscheidungslösung zu betreiben, um darüber wesentlich mehr Organe zur Verfügung zu bekommen?

KV: Jein. Es gibt sicherlich ein Potential, das bisher nicht erreicht wurde, aber das hat nach meinen Erkenntnissen sehr viel weniger mit der Art der Dokumentation der Entscheidung zu tun als mit anderen Faktoren. Uns wird immer vorgehalten, daß in Spanien die Widerspruchslösung zur Anwendung kommt und es dort auch viel mehr Organspender gibt. Niemand schaut darauf, wie zum Beispiel die Verkehrsunfallstatistik von Spanien im Vergleich zu Deutschland ist. Es schaut auch niemand darauf, daß in Spanien ungefähr zehnmal so viele Koordinatoren für die Transplantation unterwegs sind wie in Deutschland. Aber diese Menschen muß man einstellen und bezahlen. Der Vorteil an der Entscheidungslösung ist doch, daß sie außer den gesetzlichen Krankenkassen und Privatversicherungen niemanden wirklich Geld kostet, nicht einmal für die im Gesetzentwurf vorgesehene ergebnisoffene Beratung. Wenn ich 70 Millionen Menschen über die Möglichkeit einer Organspende informiere und ihnen sage, mach' dich über die Beratungstelefonnummern schlau, dann scheine ich davon auszugehen, daß das niemand wahrnimmt, denn sonst muß ich doch Geld für die entsprechenden Einrichtungen und ausgebildetes Personal zur Verfügung stellen. Das sind alles Fragen, die völlig offen bleiben und bei mir den Eindruck erwecken, daß man versucht hat, etwas Populistisches auf den Weg zu bringen und die wirklich großen Fragen, die sich damit verbinden, einerseits die ethischen, andererseits aber auch tatsächlich die Fragen nach Infrastruktur und Mitteln, unbeantwortet zu lassen.

SB: Die e-Card ist auch ein großindustrielles Wirtschaftsprojekt, das wie etwa der elektronische Personalausweis voraussichtlich in andere Länder exportiert wird. Muß man im Zusammenhang mit der Organspende nicht befürchten, daß in Ländern, in denen nicht so sehr auf die Datensicherheit und andere Patientenschutzrechte geachtet wird, schwerwiegender Mißbrauch mit einem solchen System betrieben wird?

KV: Natürlich muß man immer damit rechnen. Der elektronische Personalausweis war noch nicht 24 Stunden in Umlauf, da war er schon gehackt. Wenn man weiß, daß Patientendaten, Krankheitsdaten oder Versorgungsdaten ein hochbezahltes Wirtschaftsgut sind, dann kann man sicher sein, daß sowohl legale wie auch kriminelle Interessen in Milliardenhöhe von diesem Projekt tangiert sind, und das ist es auch, was mich mißtrauisch macht. Ich habe den Eindruck, daß es eben nicht in erster Linie um das geht, was in der Gesundheitspolitik im Vordergrund stehen sollte, nämlich bestmögliche Versorgung, sondern um Wirtschafts- und Technologieförderung auf Kosten der Patientinnen und Patienten.

SB: Früher war es für Linke selbstverständlich, Kritik an Gesundheitspolitik und Biomedizin zu üben. Das scheint heute weitgehend passé zu sein. Innerhalb der Linksfraktion tritt Herr Gysi persönlich für die Widerspruchslösung ein, und Ihre gesundheitspolitische Sprecherin Frau Bunge ist gegenüber der Transplantationsmedizin sehr positiv eingestellt und hält sie für ein Gebot der Solidarität. Wie bewerten Sie die Chance dafür, daß es innerhalb der linken Bewegung allgemein wie auch Ihrer Partei noch einmal zu einem fundamentaleren Einstieg in diese Thematik kommt?

KV: Ich halte die Transplantationsmedizin auch für eine Frage der Solidarität und bin deswegen der Auffassung, daß man das Vertrauen in das Gesundheitswesen herstellen muß, um sagen zu können, ich vertraue darauf, daß niemand etwas mit mir macht, was ich nicht möchte. Nur dann kann ich bereit sein, meine Organe nach meinem Tod Leuten zur Verfügung zu stellen, die sie nötiger brauchen. In diesem Punkt bin ich auch für Solidarität, nur daß wir eine unterschiedliche Herangehensweise haben. Ich finde es völlig in Ordnung, daß es keine ethische Marschlinie gibt, wo wir alle die gleiche Position haben. Es gibt Kollegen, die für die Widerspruchslösung eintreten, aber durchaus bereit sind, die offenen Fragen zu diskutieren und kritisch zu hinterfragen. Schließlich handelt es sich dabei um ein vielschichtiges Problem.

Tatsächlich haben Sie recht, wenn Sie der Linken vorwerfen, daß wir uns bei Themen, wo wir unterschiedlicher Auffassung sind, schwertun, darüber zu diskutieren. Daß es keinen ausgeprägten innerlinken Diskurs um ethische Fragen gibt, erlebe ich als großes Manko. Ich glaube aber, daß das Zeit und Vertrauen braucht. Wir sind ja in dieser Zusammensetzung noch keine alteingesessene Partei, und daß man in einem politischen Umfeld, in dem man permanent von außen angegriffen wird, Schwierigkeiten hat, auch untereinander kritische Fässer aufzumachen, finde ich plausibel. Aber auf der anderen Seite erlebe ich auch ganz oft, daß Leute auf mich zukommen und sagen, ich bin völlig anderer Meinung als du, aber ich finde, du hast deine Position hier nachvollziehbar vorgetragen. Das gibt es auch. Ich glaube, zu einer wirklich pluralistischen breiten linken Bewegung oder Partei gehört auch, daß man solche Diskurse organisiert, sie vernünftig führt und auch Respekt vor der Haltung des anderen hat, auch wenn man sie nicht teilt.

SB: Könnte es nicht auch auch aus parteistrategischer Sicht von Interesse sein, die Ökonomisierung des Gesundheitswesens und diesen Durchmarsch in ein ziemlich menschenfeindliches System aufzugreifen?

KV: Natürlich. Ich glaube auch, daß es weite Teile in der Bevölkerung gibt, allein in den Gesundheitsberufen, wo wir mit dieser Argumentation Bündnispartner finden. Man hat ja immer das Gefühl, relativ alleine dazustehen. Aber mit einer Kritik an der Ökonomisierung des Gesundheitswesens, die unser ganzes Verständnis von Gesundheit und Krankheit, von der Rolle der Patientin und des Patienten, der Ärztin und des Arztes auf eine destruktive Basis stellt, bekomme ich auch Zuspruch von Leuten, von denen man nie erwarten würde, daß sie einer Linken zustimmen. Viele, die in diesem System arbeiten, merken, daß sie in die Rolle hineingedrängt werden, nur noch Unternehmer zu sein, um Produkte zu verkaufen, Ware zu produzieren und sie bestmöglich auf dem Markt anzubieten. Das wollen sie eigentlich gar nicht. Sie wollen vielmehr kranken Menschen helfen, wollen heilen und Menschen in der Krankheit und im Sterben beistehen. Das ist etwas, was man relativ oft erlebt und worauf die anderen Parteien in der Breite tatsächlich keine Antwort haben. Auch wenn ich einräumen muß, daß es in allen Parteien Leute gibt, die kritische Fragen stellen, auch in der Union.

SB: Frau Vogler, vielen Dank für das Gespräch.

Fußnoten:

[1]‍ ‍http://dokumente.linksfraktion.net/drucksachen/22065_1705838.pdf

[2]‍ ‍http://www.aerzteblatt.de/archiv/122714/Forschung-Sekundaernutzung-von-Behandlungsdaten

[3]‍ ‍http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/17/17168.pdf

Kathrin Vogler - Foto: © Sahin Aybin

Gegen die Ökonomisierung des Gesundheitswesens ...
Foto: © Sahin Aybin

5.‍ ‍Mai 2012