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INTERVIEW/001: Hirntod im Handel - Alan Shewmon, Neurologe und Bioethiker (SB)


Die Hirntoddebatte in den USA - Positionen eines Kritikers



Interview am 21. März 2012 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

Der Neurologe Prof. Dr. Alan Shewmon, MD, ist Leiter und stellvertretender Vorsitzender des Olive-View Campus des Institutes für Neurologie der University of California, Los Angeles (UCLA). Er war aufgrund seiner prominenten Rolle in der Hirntoddebatte in den USA als Referent für das "Forum Bioethik: Hirntod und Organentnahme" des Deutschen Ethikrates geladen. Vor der Veranstaltung beantwortete Alan Shewmon dem Schattenblick einige Fragen.

Alan Shewmon - Foto: © 2012 by Schattenblick

Alan Shewmon
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Ihr 2001 im Journal of Medicine and Philosophy veröffentlichter Essay "The Brain and Somatic Integration: Insights Into the Standard Rationale for Equating 'Brain Death' With Death" veranlaßte den President's Council on Bioethics (PCBE), nicht mehr auf der Bedeutung des Gehirns als zentralem Integrationsorgan des menschlichen Körpers zu bestehen. Haben sie Ihre Forschung im Kontext einer bereits virulenten Debatte vollzogen? Wurden bereits vor 2001 Zweifel in den medizinischen Wissenschaften und der klinischen Praxis an der ethischen Validität des Hirntodkonzepts geltend gemacht?

Alan Shewmon: Es hat sicherlich eine Kontroverse um das Konzept des Hirntods gegeben, seit es eingeführt wurde. Obwohl die Mainstreammedizin das Konzept des Hirntods als Tod des Menschen anerkannt hat, gab es immer Kritiker innerhalb wie außerhalb der Medizin. Ich würde sagen, daß die Zahl der Kritiker während der letzten zehn bis zwanzig Jahre eher zu- als abgenommen hat. Doch schon zur bloßen Vorstellung vom Tod hat es innerhalb der medizinischen oder bioethischen Gemeinde keinen Konsens gegeben. Man kann die Standardvorstellung vom Tod als Verlust der integrativen Einheit des Organismus bezeichnen. Aber es gibt andere Todeskonzepte, die Fürsprecher gefunden haben wie der Verlust der Persönlichkeit aufgrund des unumkehrbaren Verlustes des Bewußtseins, was ein ganz anderes Konzept ist. Es gibt jedoch mehr und mehr Menschen, die behaupten, daß dies der Grund dafür sei, daß der Hirntod der Tod des Menschen ist. Das hat nichts damit zu tun, ob es einen biologischen Organismus gibt oder nicht.

Eine ganz andere Ansicht besteht darin, daß der Tod ein soziales Konstrukt ist, das von der Gesellschaft ganz nach ihrer Wahl definiert werden kann. Dies war im wesentlichen die Herangehensweise des Harvard Medical Committee 1968. Selbst auf der Ebene des grundlegenden Verständnisses des Todes hat es Kontroversen gegeben, und die sind noch nicht beigelegt. Tatsächlich würde ich sagen, daß die Debatte heute noch aufgeheizter ist als zur Zeit ihres Beginns.

SB: Gab es bereits vor 1968 andere Todesdefinitionen als die des Herz-Kreislaufversagens?

AS: Der kardiopulmonäre Stillstand war eher ein Kriterium des Todes als eine Definition des Todes. Es geht eher darum, wie Ärzte den Tod feststellen. Es ist sicherlich nicht das Konzept oder die Definition des Todes. Ich glaube allerdings, daß die Vorstellung, der Verlust der Persönlichkeit sei der Tod, etwas relativ neues ist.

SB: Im Januar 2009 veröffentlichte PCBE das White Paper "Controversies in the Determination of Death". Hatte die Entscheidung des PCBE, den Begriff "Hirntod" durch "Totales Hirnversagen" zu ersetzen, etwas mit Ihrer Intervention acht Jahre zuvor zu tun?

AS: Ich hatte mit dem PCBE einige Stunden an einem Tag zu tun, daher kenne ich seine inneren Mechanismen oder die Erwägungen, die im Verlauf der Erstellung des White Paper vorgenommen wurden, nicht. Ich bezweifle, daß meine Präsentation viel, wenn überhaupt etwas, mit ihrer Entscheidung zu tun hatte, den Begriff "Hirntod" durch "Totales Hirnversagen" zu ersetzen. Ich denke, daß es eine weise Entscheidung war, den Begriff zu verändern, aber ich glaube, es handelt sich um eine Einsicht des Rates selbst. Ich glaube nicht, daß ich damit etwas zu tun habe.

SB: Daß der Ethikrat vom Konzept des neurologischen Todes abrückt und zu einem Konzept gelangt, laut dem der Verlust der dynamischen Interaktion mit der äußeren Welt den Tod des Menschen bedeutet, erscheint als Paradigmenwechsel mit weiterreichenden Implikationen. Auf der einen Seite die Idee selbsterhaltender kybernetischer Systeme, auf der anderen Seite die Dominanz äußerer Einflüsse auf den Organismus - welche Bedeutung könnte diese Veränderung für das medizinische Verständnis vom Menschen als singuläre und autonome Entität haben?

AS: Nun, ich denke man wird sehen müssen, welche Gültigkeit diese Vorstellung vom Austausch mit der Umgebung haben wird. Das war eine neue Idee des Ethikrats, und ich muß ihm zugutehalten, daß es wirklich die erste neue Idee zum Konzept des Hirntodes ist, die im Grunde genommen seit den 1970er oder bestenfalls 1980er Jahren entstanden ist. Bis jetzt hat sie sich jedenfalls nicht durchgesetzt. Es gibt nicht viele medizinische Institutionen und Bioethiker, die dieses Konzept anerkannt haben. Ich glaube zudem, daß es einige Probleme aufweist. Wenn man das White Paper zum Beispiel hinsichtlich des Gedankens von der essentiellen Arbeit des Organismus genau liest, dann wird nicht vollständig klar, was in der Vorstellung des Ethikrats als tatsächlicher Austausch von Informationen zwischen dem Organismus und der Umgebung gilt oder was den inneren Antrieb betrifft, mit der Umgebung zu interagieren. Das ist ein großer Unterschied. Einige Passagen des White Paper legen nahe, daß es der tatsächliche Austausch ist, andere Passagen vermitteln, daß es der innere Antrieb dazu ist, selbst wenn dieser Antrieb durch eine pathologische Entwicklung ausgelöst sein könnte. Ich glaube, daß es sich um ein neues Konzept handelt, das noch sehr viel umfassender ausgearbeitet werden muß, bevor es angewendet werden kann.

SB: Hat die Auffassung vom Tier als niederem Wesen ohne Bewußtsein eine Rolle bei der Frage nach der Rolle des Gehirns als integratives Organ gespielt?

AS: Es ist ganz eindeutig so, daß es, je mehr man in der phylogenetischen Skala nach unten geht, desto weniger eines Gehirns bedarf, um ein Organismus zu sein. So gibt es niedrige Formen tierischen Lebens, die überhaupt kein Gehirn haben. Daher ist klar, daß man kein Gehirn benötigt, um ein Organismus zu sein. Die Frage stellt sich für höhere Organismen wie Wirbeltiere. Je höher man geht, desto wichtiger ist das Gehirn. Ich denke, die Frage nach dem Hirntod gilt fast ausschließlich für den Menschen, weil das Gehirn weit wichtiger für uns ist als für einen Hund oder eine Ratte. Ich weiß nicht, ob das Ihre Frage beantwortet, aber ich denke, wir werden weit mehr wertvolle Informationen zur Rolle des menschlichen Gehirns bei der Integration des Organismus erhalten durch klinische Beobachtungen an Hirntoten als durch Experimente im Tierlabor.

Alan Shewmon - Foto: © 2012 by Schattenblick

Leistet wissenschaftlich fundierte Kritik am Hirntodkonzept Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: In Europa gibt es eine große Bewegung zur Legalisierung ärztlicher Sterbehilfe. Glauben sie, daß die Debatte über die Definition des Todes irgendeine Relevanz für die Liberalisierung dieser Form von Euthanasie hat?

AS: Eine interessante Frage. Ich vermute, daß es sich dabei doch um voneinander recht unabhängige Angelegenheiten handelt. Die Debatte über Euthanasie und die Ethik der Euthanasie wird schon seit Jahrtausenden geführt, und die Argumente dafür und dagegen sind im wesentlichen die gleichen wie seit jeher. Daher glaube ich nicht, daß die Einführung des Hirntodes viel Einfluß auf die Debatte über ethische Fragen der Euthanasie gehabt hat.

SB: Könnten sie bitte etwas zum Stand der bioethischen Debatte in den USA sagen? Wird die kritische Debatte zur Hirntodkonzeption eher von Gruppen mit religiösem Hintergrund angeführt, oder geben dort eher säkulare Kritiker des biomedizinischen Fortschritts den Ton an?

AS: Ich glaube, die Kritik ist vor allem säkular geprägt. Ich sage das aus mehreren Gründen. Die Argumente gegen den Hirntod oder zumindest die Begründung des Hirntods als Ausfall der integrativen Einheit des Organismus sind wissenschaftliche Argumente. Sie haben nichts mit Religion oder Ideen zur menschlichen Seele zu tun. Sie haben mit Biologie und empirischen Tatsachen zu tun. Es gibt explizite Kritiker der Auffassung vom Hirntod, die nicht den geringsten religiösen Hintergrund haben. Zum Beispiel nimmt Robert Truog einen ganz anderen ethischen Standpunkt zur Legitimität von Organtransplantationen ein als ich. Wir stimmen jedoch darin überein, daß Hirntod eine rechtliche Fiktion ist, und er akzeptiert das aus den gleichen Gründen wie ich, obwohl wir vollständig unterschiedliche ethische Ansichten haben.

Stuart Youngner ist ein anderer Kritiker der Gleichsetzung des Hirntods mit dem Tod des Menschen, aber er würde mehr oder weniger mit Truog übereinstimmen, daß dies nichts zur Sache tut, daß diese Patienten so gut wie tot seien und daß es, insofern sie mit der Organspende einverstanden sind, eine gute Sache ist, ihre Organe zu nutzen, um jemand anderem neues Leben zu schenken. Es ist interessant, daß es Kritiker der Hirntodkonzeption aus dieser ethischen Perspektive ebenso gibt wie aus einer traditionelleren bioethischen Perspektive. Zudem erkennen viele Religionen die Idee, daß der Hirntod der Tod des Menschen ist, an. Daher kann man kaum sagen, daß die Kritik am Hirntod religiös motiviert ist. Und ich selbst bin ganz gewiß einer rein wissenschaftlichen Herangehensweise verpflichtet.

SB: Die Frage nach religiöser Kritik am Hirntodkonzept ergibt sich unter anderem daraus, daß der frühere Präsident George Bush sich aus religiösen Gründen gegen Stammzellforschung an Embryonen entschieden hatte, es also unter evangelikalen Christen eine ablehnende Haltung gegenüber biomedizinischen Manipulationen zu geben scheint.

AS: Die Frage der Stammzellforschung an Embryonen hat natürlich fast nichts mit der Frage des Hirntods zu tun. Ich denke es ist wichtig hervorzuheben - und das bewegt sich außerhab unseres Themas Hirntod, aber da Sie es ansprechen -, daß die Frage, ob ein menschlicher Embryo ein menschliches Wesen mit vollständigen Menschenrechten usw. ist, von profunder philosophischer Art ist. Sie basiert auf Biologie, auf der Natur des Embryonen, der dynamischen Vorgänge in ihm und wie seine weitere Entwicklung verläuft. Ich glaube nicht, daß das irgend etwas mit Religion zu tun hat. Vielleicht interessieren sich religiöse Menschen sehr für die Antwort auf diese Frage, aber ich glaube nicht, daß es letztendlich eine religiöse Frage ist.

SB: Menschen Organe zu entnehmen, die per Definition nicht tot sind - könnten Sie sich vorstellen, daß das die Zukunft der Transplantationsmedizin ist?

AS: Wir tun dies bereits mit Bluttransfusionen, mit Blutspenden. Wir tun es mit Lebendspenden einzelner Nieren, Knochenmark, Leberlappen. Daher ist klar, daß man nicht tot sein muß, um ein Organ oder Gewebe zu spenden. Das Kriterium sollte sein, daß der Akt der Spende dem Spender nicht schadet, und das es unter seiner vollständigen Informiertheit (fully informed consent) erfolgt. Wenn man diese beiden Kriterien hat, dann sollte es ethisch möglich sein.

SB: Das schließt die Entnahme von Organen aus, die für die Aufrechterhaltung des Lebens unverzichtbar sind.

AS: Das macht es sicherlich schwieriger (lacht).

SB: Denken Sie, daß der moralische Druck, mit dem etwa hier in Deutschland versucht wird, die Verfügbarkeit von Spenderorganen zu steigern, eine Art manipulativen Effekt auf die Hirntoddebatte hat, oder sind Sie der Ansicht, daß die Art und Weise, in der diese Fragen verhandelt werden, wissenschaftlich korrekt ist?

AS: Meiner Ansicht nach hat der Wunsch, die Verfügbarkeit von Organen für die Transplantation zu steigern, manipulative Auswirkungen auf die Hirntoddebatte, und zwar in einem grundlegenden Sinne. So wird in vielen Diagnoseprotokollen und -statuten für die Hirntodfeststellung verlangt, daß die Ärzte, die den Hirntod bestätigen, nicht dieselben sind wie diejenigen, die mit der Transplantation befaßt sind, um einen Interessenkonflikt zu vermeiden. Ich glaube, eine solche Trennung ist auf dem Papier leichter zu erreichen als in der Wirklichkeit.

Bezüglich der Argumente, die den Hirntod rechtfertigen, ist es sogar noch schwieriger, diese beiden Aspekte voneinander zu trennen. Der einzige Grund dafür, warum wir den Hirntod als Tod des Menschen überhaupt benötigen, ist zum Nutzen der Transplantationsmedizin. Wenn es nicht darum ginge, gäbe es keinen Grund, den Hirntod auf solch aufwendige Weise zu rechtfertigen und entsprechende Prozeduren für seine Diagnose zu entwickeln.

Ein gutes Beispiel für die Beeinflussung der Hirntodtheorie durch das Bedürfnis der Transplantationsindustrie nach Spendeorganen ist ein letztes Jahr veröffentlichtes Buch über Hirntod, das von einem der führenden Experten auf diesem Gebiet verfaßt wurde. In diesem Buch gibt es ein ganzes Kapitel über Organbeschaffung, obwohl der Titel des Buches "Hirntod" lautet. Im gesamten Text des Buches finden sich Klagen darüber, wie viele Hirntote an Herzstillstand sterben, bevor ihnen Organe entnommen werden können. Dieser Autor hat zweifelsohne ein Motiv, den Hirntod mit der Organtransplantation zu verbinden und den Hirntod als Tod des Menschen zu rechtfertigen, um die Organernte zu steigern. In einem großen Teil der Literatur zum Thema kann man diesen Einfluß feststellen.

SB: Würden Sie persönlich eine Debatte bevorzugen, die auf weniger nutzenbezogene Weise geführt wird?

AS: Mein Interesse an dem Thema wurde stets vom Grundsatz wissenschaftlicher Sorgfalt und Exaktheit bestimmt. Wenn man die Vielzahl der Artikel und Studien zum Hirntod der gleichen Art von wissenschaftlicher Genauigkeit, von Peer-Review-Begutachtung und evidenzbasierten Kriterien aussetzte, wie es mit allen anderen wissenschaftlichen Fragen geschieht, dann wären wir nicht dort, wo wir jetzt sind.

SB: Das ist ein schönes Schlußwort. Vielen Dank, Herr Shewmon.

(Aus dem Englischen von Schattenblick-Redaktion)

Zum Vortrag Alan Shewmons am 21. März 2012 in Berlin siehe:
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/report/morb0004.html

Im Interview - Foto: © 2012 by Schattenblick

Alan Shewmon mit SB-Redakteur
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6.‍ ‍April 2012