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BERICHT/002: Bezichtigungsmedizin am Beispiel der Proteomanalyse - Teil 2 (SB)


Die Proteomanalyse als Instrument der Bezichtigung

Paradigmenwechsel, quo vadis?


Im Vorfeld einer der größten Medizinmessen ergab sich für den Schattenblick auf der MEDICA PreView am 6. Oktober in der ENDO-Klinik in Hamburg die Gelegenheit, im Zuge eines Vortrags und anschließenden Interviews mit dem Referenten näheren Einblick in eine dieser neuen Diagnosemethoden zu nehmen, die einen Paradigmenwechsel im bereits beschriebenen Sinne (*) deutlich werden lassen, während sie gleichzeitig mit der Zukunftsvision werben, Krankheiten zu verhindern.

(*) siehe unter Medizin -> Report ->

     BERICHT/001: Bezichtigungsmedizin am Beispiel der Proteomanalyse - Teil 1 (SB)


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Vorbereitungen zu entscheidenden Änderungen werfen ihre Schatten voraus

Vorbereitungen zu entscheidenden
Änderungen werfen ihre Schatten voraus

Stellen Sie sich vor, Sie gehen zum Arzt, geben dort eine Urinprobe ab und erhalten nach absehbarer Frist den Bescheid, daß alles wunderbar in Ordnung ist. An diese Vision des wissenschaftlichen Fortschritts in der Medizin glauben auch heute noch die meisten Menschen. Selbst ein neuer Ansatz für die Früherkennung und eigenverantwortliche Vorbeugung fördert spontan Vorstellungen, wie man sie noch aus der frühen Zahnpastawerbung kennt: "Mutti, Mutti - er hat überhaupt nicht gebohrt". Entsprechend erwartet man von einem neuen Trend in der Medizin, der mit Attributen wie "individualisiert" und "personalisiert" versehen ist, auch das vorbeugend wirksame therapeutische Äquivalent für diese "Zahnpasta".

Bei genauerer Betrachtung sind erste Entwicklungen in diese Richtung, wie die im folgenden vorgestellte Proteomanalyse, nicht nur weit von dieser Vision entfernt, man muß sich sogar fragen, ob der Patient nicht eher als Opfer dieser fortschrittlichen Medizin betrachtet werden muß. Denn bei besonders gründlicher Suche nach sensiblen Spuren einer Krankheitsäußerung bzw. Biomarkern ist ein positives Ergebnis höchst wahrscheinlich. D.h. anstelle der Nachricht, es sei "alles wunderbar in Ordnung", wird der Patient - die vorangestellte Vision einmal zuende gedacht - mündlich, fernmündlich oder gar per E-Mail die erschütternde Nachricht erhalten, die Routine-Untersuchung habe ergeben, daß er in ein oder zwei Jahren mit einem Herzinfarkt oder einer anderen schweren Zivilisationerkrankung zu rechnen habe...

Für den noch beschwerdefreien Patienten bedeutet das zum einen, daß die Beurteilung seines körperlichen Zustands zunehmend von maschinengestützen Rechenprogrammen, mathematischen Korrelationen und Testverfahren abhängig wird, in die er selbst keinen Einblick nehmen, geschweige denn, auf sie Zugriff erhalten kann.

Zum anderen werden, wie schon in Teil 1 beschrieben, zahlreiche Verhaltensvorschriften und Vorsorgemaßnahmen einschließlich entsprechender Finanzierungsvorsorge über sein weiteres Leben bestimmen, denen er Folge zu leisten hat. Denn unter der Voraussetzung, daß Krankheiten generell vermeidbar sind, ist der früherkannte Nochnicht-Kranke schuldig und gehalten, die Bewährungsauflagen zu erfüllen.

Daß in den Köpfen von Medizinern und Wissenschaftlern ein Wertewandel zur Bezichtigungsmedizin schon längst etabliert ist, wurde bereits in den einführenden Worten von Prof. Harald Mischak zu der von ihm entwickelten Proteinmustererkennung bzw. Proteomanalyse deutlich:

[...] wir haben versucht, Wege zu finden, wie wir chronische Erkrankungen früherkennen können, um eben wirklich auch früh zu intervenieren. Im Prinzip kann man ja sagen, chronische Erkrankungen sind eine Erfindung des 20./21. Jahrhunderts. Früher sind die Leute an solchen Erkrankungen gestorben. Heute leben sie damit jahrelang, leiden zum Teil auch und verursachen gewaltige Kosten. Das läßt sich auf Dauer nicht mehr finanzieren.
(aus dem Vortrag von Prof. Harald Mischak, am 6. Oktober 2009, MEDICA PreView, ENDO-Klinik Hamburg)

In deutlicher Sprache, drastischen Zahlen und Bildern, beschwor Mischak, wie viele der Referenten, die auf der Medica ihre medizinischen Einsparlösungen einer größeren Öffentlichkeit zu verkaufen hoffen, das Gespenst des Kosteninfarkts am Beispiel der Diabetesentwicklung, indem er gleich zu Beginn seines Referats auf die extrem kostspieligen Diabetesfolgenschäden wie Niereinsuffizienz hinwies und seinen Ausführungen damit eine gesundheitspolitische Brisanz voranstellte.

Und somit gibt es damit also die Möglichkeit, die meisten dieser chronischen Erkrankungen einige Jahre vorher zu therapieren, bevor sie überhaupt auftreten. Denn die pathophysiologischen Veränderungen im Körper passieren über die Jahre hinweg. Es tut mir nicht weh, deswegen wird es normalerweise auch nicht detektiert. Und das andere, was wir damit natürlich erreichen, ist: Wir können enorm Kosten einsparen.
(aus dem Vortrag von Prof. Harald Mischak, am 6. Oktober 2009, MEDICA PreView, ENDO-Klinik Hamburg)

Prof. Harald Mischak

Prof. Harald Mischak

Der Wertewandel hat schon stattgefunden

Der häufig zitierte Paradigmenwechsel (gemeinhin als Fortschritt von der Behandlung von Folgeschäden hin zur Prävention verstanden) hat als Wertewandel bestimmter, neutraler äußerer Faktoren hin zu bezichtigenden Krankheitsattributen schon längst stattgefunden, denn der Referent konnte - wie an der Resonanz ablesbar - voraussetzen, daß keiner der Zuhörer die subtile Gleichsetzung von "übergewichtig = diabeteskrank" hinterfragen würde. Nicht von ungefähr erläuterte Mischak, angesichts des aus den 70er Jahren bekannten Posters von vier stark übergewichtigen Texanern (hier: Diabetikern!), von hinten an einer Bar abgelichtet, das er zur Illustration der These und allgemeinen Belustigung an die Wand projizierte, das "eigentliche Problem", die sogenannten Folgeerkrankungen:

Die Grunderkrankung ist in vielen Fällen noch relativ leicht zu beherrschen. Diabetes kann ich ganz gut einstellen und wenn wir jetzt mal sehen - das zum Beispiel wären vier verschiedenen Diabetiker -, so können wir sie morphologisch nicht gut voneinander unterscheiden. Wir können nicht feststellen, wer davon einen massiven Krankheitsverlauf haben wird, welche dieser vier Menschen tatsächlich an den entsprechenden Folgeerkrankungen leiden wird und wer nicht. Und diese Folgeerkrankungen sind das eigentliche Problem.
(aus dem Vortrag von Prof. Harald Mischak, am 6. Oktober 2009, MEDICA PreView, ENDO-Klinik Hamburg)

Um diesen Wertewandel vollständig in der Öffentlichkeit zu verankern, kommt der drohende Kosteninfarkt gerade recht, der die schmaler werdende Börse der Solidargemeinschaft belastet und somit alle treffen könnte, nicht nur die, die besonders leiden:

8 Millionen Diabetiker in Deutschland, die im ganzen Kosten von etwa 22 Milliarden Euro pro Jahr verursachen, davon fallen aber nur 20 Prozent auf die Grunderkrankung Diabetes selbst. Die anderen 80 Prozent der Kosten sind effektiv Kosten von den Begleiterkrankungen, das heißt koronare Herzerkrankung, diabetische Neuropathie, diabetische Nephropathie, also im Prinzip Krankheiten, die ausgelöst und im Lauf von Jahren immer massiver werden. Und Sie können sich vorstellen, daß zunächst das natürlich die Patienten sind, die besonders leiden, und zum zweiten diese Kosten auf Dauer nicht finanzierbar sind.
(aus dem Vortrag von Prof. Harald Mischak, am 6. Oktober 2009, MEDICA PreView, ENDO-Klinik Hamburg)

Schon die mögliche Vermeidbarkeit der Erkrankung stempelt hier den "besonders Leidenden" zum Sündenbock einer zukünftigen Kostenexplosion und schafft sukzessive eine öffentliche Akzeptanz dafür, daß der Kranke die Hauptlast nicht nur seiner Erkrankung, sondern auch der dadurch entstehenden Kosten tragen sollte.

Publikum bei der MEDICA PreView

Publikum bei der MEDICA PreView

Darüber, wieweit die Einbindung des Patienten gehen könnte, wenn seine Interessen z.B. hinsichtlich bestimmter noch nicht in der Standardtherapie enthaltenen Medikamente betroffen sind, äußerte sich Prof. Harald Mischak gegenüber dem Schattenblick:

Und dann wiederum muß sich die Gesellschaft überlegen, wollen wir da vielleicht gegenlenken. Man könnte ja auch überlegen, daß man z.B. an Selbsthilfegruppen, die ja betroffen sind, herantritt, denen einen kleinen Teil des Gesundheitsbudgets gibt und sagt, versucht ihr doch damit mal, Verbesserungen für eure Patienten durchzusetzen. Und die könnten das dann für solche Studien und Entwicklungen einsetzen. Warum nicht? Es wird wirklich genug Geld für sinnlose Dinge in der Richtung ausgegeben.
(Prof. Harald Mischak gegenüber dem Schattenblick, 6. Oktober 2009, ENDO-Klinik Hamburg)

Einmal der nachweislichen Risikofaktoren überführt, wird der Patient die Schuld nie wieder los, wenngleich ihm durch gewisse Bewährungsauflagen, sprich Lebensstiländerungen, Ausschluß von Risikofaktoren, vorgetäuscht wird, er könne sich durch entsprechendes Wohlverhalten davon entlasten. So unterstrich Prof. Mischak dann auch auf einen Einwand aus dem Publikum, "ein Mensch, der die Nachricht bekäme, in fünf Jahren an Diabetes zu erkranken, würde wohl nicht unbedingt einsehen, seine Eßgewohnheiten zu ändern", daß auch eine frühe Diagnose durchaus als Druckmittel ausreicht:

Also ich kann da nur aus meiner praktischen Erfahrung sagen, die Leute reagieren zum Großteil schon so, wie ich das oder wie der Arzt das gerne hätte. Der Grund ist, es macht einen großen Unterschied, ob Sie einem Patienten sagen: "Naja, Ihre Chance, daß Sie eine bestimmte Erkrankung kriegen, die ist, wenn Sie rauchen, ein bißchen höher oder wenn Sie Alkohol trinken, ein bißchen höher", oder ob Sie einem Patienten sagen: "Die Erkrankung ist schon da und dagegen kann man etwas unternehmen". Und ich glaube, genau dieser wesentliche Unterschied hilft dann die Sache umzusetzen und zwar ganz massiv.
(aus dem Vortrag von Prof. Harald Mischak, am 6. Oktober 2009, MEDICA PreView, ENDO-Klinik Hamburg)


Eine Präventivmedizin für alle läßt sich gar nicht finanzieren

Darüber hinaus wurde anhand einer Zwischenfrage, ab welchem Alter eine solche Routineuntersuchung sinnvoll würde, eindrücklich dargelegt, daß die Analyse mit 443 Euro pro Einzeluntersuchung für eine breitangelegte Vorbeugemaßnahme zur "Gesunderhaltung der gesamten Bevölkerung" viel zu teuer wäre. Das reduziert auch den Zweck modernster Diagnoseverfahren auf die Bestätigung einer potentiellen Erkrankung bei Menschen mit entsprechender Disposition oder deutlich ausgeprägten Risiken. Hierzu äußerte sich Prof. Mischak:

So wie der Stand der Technik jetzt ist, würde ich sagen, es macht vielleicht ab 40, 50 Jahren beim Vorliegen von gewissen Risikofaktoren Sinn. Es ist immer eine gewisse Risikoabschätzung. Ich persönlich bin natürlich schon der Meinung, es wäre vernünftig, das auch schon früher und ohne irgendwelche Anzeichen von Erkrankungen durchzuführen. Aber das ist zum Teil eine Kostenfrage und deshalb die persönliche Entscheidung von Leuten. Aber bei einem Alter unter dreißig Jahren ist das Risiko einfach so gering, es sei denn, Sie haben Risikofaktoren vorliegen.
(aus dem Vortrag von Prof. Harald Mischak, am 6. Oktober 2009, MEDICA PreView, ENDO-Klinik Hamburg)

Die Angst vor Krankheit, schwerem Leiden, Schmerzen und Tod, mit der heute schon das Auftreten von Risikofaktoren belegt wird, reicht gemeinhin vollkommen aus, daß sich Menschen den Anordnungen der weißbekittelten Götter unterwerfen. Wer mag denn schon sein eigenes Leid verantworten. Und schließlich bleibt, angesichts neuer diagnostischer Urteilsverfahren, doch immer die nagende Ungewißheit, es könnte etwas an der Vorhersage daran sein, selbst bei eigenem Wohlbefinden und wenn Zweifel an der Aussagekraft des Verfahrens durchaus berechtigt wären.

Der Biochemiker Mischak behauptet zwar, mit seiner Methode verdächtige Eiweißspuren in Körperflüssigkeiten und damit Krankheiten mit einer bisher nicht für möglich gehaltenen Genauigkeit - und das bereits vor der Organschädigung - diagnostizieren zu können. Doch bleibt das Verfahren bislang nur auf ganz bestimmte Krankheiten wie Tumoren im Urogenitalbereich, Nieren- und Gefäßerkrankungen, sowie Komplikationen bei Transplantationen beschränkt. Darüber hinaus lassen sich mit dieser speziellen Analyse aus einer Urinprobe theoretisch nur rund 6.000 verschiedene Proteine unterscheiden. Im Normalfall würden laut Mischak sogar bei den derzeit verwendeten Diagnosen höchstens 1.000 bis 2.000 Proteine aus einer Probe gemessen. Das sind zwar sehr viel mehr Daten, als sie gemeinhin für Biomarker üblich sind, doch wird nur ein Bruchteil der Eiweiße erfaßt, die im menschlichen Körper produziert werden.

Was die Unterscheidung in pathologische und nicht pathologische Erscheinungen angeht, lassen sich daraus somit nur sehr beliebige statistische Zusammenhänge, sogenannte Korrelationen erfassen, die der Entwickler des Verfahrens allerdings für ausreichend aussagekräftig hält. Er selbst mußte aber einräumen, man könne bisher noch nicht hundertprozentig sicher sein, daß alle in dem für eine Krankheit spezifischen Muster auftauchenden Proteine auch eine direkte Folge der Krankheit oder eine zufällige Begleiterscheinung sein müssen, die bei den bisher untersuchten Probanden eine zufällige Korrelation ergibt. Auf diese Weise könnte sich die Anzahl der Veränderungen im Proteinbild im Zuge weiterer Forschung noch um weitere Faktoren reduzieren lassen.


Proteomanalyse, was ist das?

Bei der Proteinmuster-Erkennung werden alle möglichen Protein-Stoffwechselprodukte im Körper erfaßt, die an das Blut abgegeben und über die Niere im Harn ausgeschieden werden, deren individuelle Zusammensetzung sich jedoch schon zu Beginn einer körperlichen Entuferung (beispielsweise die arteriosklerotische Plaqueentwicklung an Blutgefäßen) verändern kann. Diese müssen dann in einem sehr aufwendigen Verfahren sorgfältig voneinander getrennt, gesäubert, entsalzt und aufbereitet werden, um zu den entsprechenden Proteinmustern zu kommen. Wörtlich sagte Mischak:

Wir nehmen also so eine Urinprobe, die nun all diese Proteine enthält, und messen den Großteil dieser Proteine. Wir bedienen uns dazu der Technik der Kapillarelektrophorese, das heißt die Probe geht in diese Glaskapillare, wird im Hochspannungsfeld (etwa 30.000 Volt pro Meter) aufgetrennt und nach der Auftrennung geht die Probe in den Massenspektrometer und wird dort vermessen. Ich hab somit die Möglichkeit, alle diese Proteine und Peptide über ihre genaue Masse und über ihre Wanderungsgeschwindigkeit in der Kapillarelektrophorese zu messen. Und je mehr Signal, desto höher werden die Piks.
(aus dem Vortrag von Prof. Harald Mischak, am 6. Oktober 2009, MEDICA PreView, ENDO-Klinik Hamburg)

Prinzip der Kapillarelektrophorese (© mosaiques diagnostics and therapeutics AG - DiaPat®)

Prinzip der Kapillarelektrophorese
(© mosaiques diagnostics and therapeutics AG - DiaPat®)

Unter der Voraussetzung, daß sich sämtliche körperliche Prozesse in der Produktion oder Produktionshemmung von bestimmten Proteinen niederschlagen, werden dann aus der individuellen Konzentration und Zusammensetzung der verschiedenen Eiweißanteile spezifische Muster erkennbar, die Aufschluß über den Gesundheitszustand des Körpers geben könnten, wenn man sie zu interpretieren weiß.

Die persönlichen Daten aus den Protein-Cocktails zu allgemeindiagnostischen Aussagen zu nutzen, ist bisher aber noch Wunschdenken und Spekulation. Doch scheint es nur eine Frage der Zeit, bis man mit Hilfe von Computerauswertung, Statistiken und Simulationsverfahren aus der Chemie einer einfachen Urinprobe Zuordnungen in "gesund" und "krankheitsverdächtig" bestimmt. Dafür müssen noch unzählbare Datenmengen von nachweislich Kranken erfaßt und die jeweils 6.000 mit der CE-MS Methode identifizierbaren Proteine darstellbaren Mustern zusortiert werden. [CE-MS steht für das gekoppelte Verfahren aus Kapillarelektrophorese und Massenspektroskopie s.o.].

Muster für gesund oder krank setzen sich aus unzähligen Einzelanalysen zusammen - (© mosaiques diagnostics and therapeutics AG - DiaPat®)

Muster für gesund oder krank setzen sich aus unzähligen Einzelanalysen zusammen
(© mosaiques diagnostics and therapeutics AG - DiaPat®)

Da statistische Aussagen von der Menge der Ereignisse, d.h. hier der Menge der Probanden, abhängen, sind die annähernd 1.000 Probanden und Patienten, auf die Prof. Mischak seine Proteomanalyse stützt, noch eine sehr geringe Zahl. Das wurde auch anhand der Frage deutlich, wie viele Einzelproben nötig wären, um ein gesichertes Proteinmuster für eine Krankheit herzustellen. Zwar meinte Prof. Mischak, das hänge sehr von der Erkrankung selbst ab, d.h. wie deutlich sich der Unterschied zwischen gesund und krank auf der Proteinebene abzeichne, doch in der Praxis überraschte er dann doch mit recht kleinen Datenmengen für die statistische Relevanz.

Im Normalfall brauchen wir so etwa zwischen 20 und 100 Proben von Patienten, um Biomarker zu finden, die nach allen herkömmlichen Verfahren tatsächlich statistisch signifikant sind. Vielleicht noch einmal dieselbe Menge, um das entsprechend zu verfeinern, weil die Krankheit in vielen Fällen nicht homogen, sondern heterogen ist. Da muß man sehr vorsichtig sein. Und dann nochmal in der Größenordnung eine geblindete Studie [...]. Also in Summen sollte man von etwa zwei-, dreihundert Proben ausgehen. Dann kommt man auf eine Zahl, bei der man eigentlich relativ sicher sein kann, daß da kommt auch was rauskommt.
(Prof. Harald Mischak gegenüber dem Schattenblick, 6. Oktober 2009, ENDO-Klinik Hamburg)

Selbst noch kleinere Zahlen an Probanden seien denkbar, etwa zehn bis zwölf, anhand derer man dann in sogenannten Permutationsanalysen, also entsprechenden Computerprogrammen, berechnen könne, wieviele Patienten im Endeffekt überhaupt nötig sind, um einen signifikanten Biomarker zu finden.

Um allein statistische Tragfähigkeit zu erlangen, müßten normalerweise Millionen dieser Untersuchungen gemacht und ihre Daten rechnerisch erfaßt werden. Das relativiert diese Aussagen immens.

Angesichts eindrucksvoll dreidimensionaler, graphischer Darstellungen, welche am Ende auf den Bildschirmen oder Ausdrucken des Rechnerparks erscheinen, wird meist vergessen, daß die entsprechende Zuordnung, nämlich was wie dargestellt, graphisch betont oder vergrößert und was weggelassen oder vernachlässigt wird, in irgendeiner Form in den von hochqualifizierten Wissenschaftlern erstellten Computerprogrammen verankert wurde, d.h. willkürlich und keineswegs objektiv ist, da darin selbstverständlich die subjektiven Auslegungen und Vorstellungen der beteiligten Personen und die theoretischen Grundlagen rechnerisch zum Ausdruck gebracht werden, ob sie nun schlüssig sind oder nicht.

Daß die Datenmengen aus den späteren, zur Diagnose verwendeten Analysen ebenfalls nur mittels leistungsfähiger Computer an Universitäten und spezialisierten Instituten und nur mit entsprechenden Fachleuten zu verarbeiten sind, um dann auch wieder auf die gleichen Ergebnisse zu kommen, wurde nur beiläufig auf eine Publikumsfrage hin erwähnt:

Die Datensätze stehen den Projektpartnern zur Verfügung und wir helfen natürlich den potentiellen Partnern weiter, ihre Datensätze zu evaluieren. Das heißt, es gibt immer die Möglichkeit, uns Daten zu schicken, und wir versuchen dann, das gemeinsam zu erarbeiten. Die Geräte per se werden zwar verkauft, aber nur einzeln, man braucht jemanden, der das Know How hat, die Geräte "zusammenzurechnen". Es gibt noch kein Routinegerät, das Sie tatsächlich im Laden kaufen können und man braucht auch entsprechende Sofware, um die Sache dann wirklich gut betreiben zu können.
(aus dem Vortrag von Prof. Harald Mischak, am 6. Oktober 2009, MEDICA PreView, ENDO-Klinik Hamburg)

Schon die Anschaffungskosten für diese Geräte liegen bei etwa 400.000 bis 500.000 Euro. Dazu wird Fachpersonal nötig, um die entsprechenden Daten zu gewinnen und zu interpretieren. Daher sei es laut Mischak heute noch einfacher, Urinproben an entsprechend eingerichtete Labors zu schicken, was aber die allgemeine Anwendung des Verfahrens sehr einschränkt.

Trotz des gewaltigen apparativen Aufwands erscheint die Proteomanalyse prinzipiell einfacher als die Analyse des Genoms, die im Hinblick auf die personalisierte Medizin derzeit Hauptgegenstand kontroverser Diskussionen ist, aber eigentlich nur eine statische Disposition für eine bestimmte Erkrankung anzeige:

Mit Proteinen kann ich den tatsächlichen Status eines Organismus abbilden. Das heißt, ich kann sehr wohl sehen, in welcher Form der Organismus vorliegt, wie seine Physiologie und auch wie die Pathophysiologie der Erkrankung ist.
(aus dem Vortrag von Prof. Harald Mischak, am 6. Oktober 2009, MEDICA PreView, ENDO-Klinik Hamburg)

Da das Proteom u.a. die Expression des Genoms in Form entsprechender Proteine darstellt, aber darüber hinaus auch andere Faktoren, die die Eiweißsynthese steuern, mit berücksichtigt, muß man die Proteomanalyse als eine Qualifizierung der Genomanalyse betrachten. Das scheinen Ethiker bisher nicht erkannt zu haben, die zwar mögliche Konsequenzen durch den Blick ins Erbgut diskutieren, aber nicht sehen, daß inzwischen schon eine viel größere individuelle Datenmenge aus den spezifischen Proteinen gewonnen werden kann. So mußte Mischak auf eine Zwischenfrage einräumen, daß ein Mißbrauchspotential, was die Interessenten an solchen Daten angeht, durchaus gegeben ist:

Theoretisch gibt es natürlich ein Mißbrauchspotential. Das ist gar keine Frage. In der Praxis hält sich das sicher einstweilen noch in Grenzen, das ist nicht so weit verbreitet. Aber natürlich wären Lebens- und auch Krankenversicherungen auf solche Informationen angewiesen, die eine relativ sichere Projektion in die Zukunft sind. Auch ein Arbeitgeber ist möglicherweise ganz froh, wenn er solche Informationen erhält: Soweit ich weiß - ich bin kein Jurist -, ist es aber derzeit ein vollkommen unbeackertes Feld. Also es gibt hierzu keine Gesetze!
(aus dem Vortrag von Prof. Harald Mischak, am 6. Oktober 2009, MEDICA PreView, ENDO-Klinik Hamburg)


Resümee: Daß die Proteomanalyse für den Patienten selbst ohne Nutzen bleiben wird, ist längst bekannt ...

Viel mehr als ein auf eine größere Datenmenge gestütztes Instrument der Bezichtigung ergibt die neue Analyse nicht. Zum einen wäre die Entwicklung und Anwendung genereller Tests mit größerer allgemeiner Aussagekraft im Sinne einer Medizin, die sich selbst erübrigt, zu teuer, zum anderen gibt es bisher keine Therapeutika für diese frühen Phasen der Erkrankung. Die pharmazeutische Industrie habe laut Mischak schon allein aus ökonomischen Gründen kein Interesse an kostspieligen Entwicklungen, die mit konventioneller Medizin und pharmazeutischen Therapeutika behandelbare Krankheiten verhindern helfen würden. Wörtlich sagte er gegenüber dem Schattenblick zum Thema Früherkennung von Alzheimer:

Es macht keinen Sinn, Alzheimer früh zu erkennen, weil ich es nicht therapieren kann. Ich lauf' mir einen Ast, um die Leute davon zu überzeugen, daß man dann eben Therapeutika für die Frühphase entwickeln muß, aber dann kommen wieder politische Überlegungen von der Pharmaindustrie zum Tragen, die sagen: "Es macht für uns keinen Sinn. Uns ist das Risiko zu hoch. Uns ist die Studiendauer dann zu lang."
(Prof. Harald Mischak gegenüber dem Schattenblick, 6. Oktober 2009, ENDO-Klinik Hamburg)

Und daran wird sich gerade bei einer Entwicklung von Frühdiagnostika so schnell auch nichts ändern, wenn man allein die derzeitige Gesetzeslage hinsichtlich Wirkstoffzulassung und Patentschutz betrachtet, auf die Prof. Mischak ebenfalls aufmerksam machte. Da der Patentschutz für den Wirkstoff eines Frühtherapeutikums nach Beginn der Studie normalerweise schon nach 9 Jahren ausläuft, der Wirkungsnachweis aber allein schon eine 10jährige Studie erfordert, ist die Entwicklung von Frühtherapeutika generell ohne wirtschaftliche Relevanz für Pharmaunternehmen. Hier sieht Prof. Mischak einen möglichen Ansatzpunkt für politische Maßnahmen:

Also, ich finde nicht, daß Pharmaunternehmen arm sind und bemitleidenswert, aber man muß sich schon überlegen, ob die Regularien, die man jetzt hat, sinnvoll sind. Ob man nicht auf die Art und Weise im Endeffekt mögliche klinische Fortschritte vom Tisch wegwischt. [...] Wenn Sie wissen, Sie müssen eine halbe Milliarde bezahlen und haben später dann keinen Schutz für Ihr Produkt, dann werden Sie das nicht machen."
(Prof. Harald Mischak gegenüber dem Schattenblick, 6. Oktober 2009, ENDO-Klinik Hamburg)


... es bleibt allein seine Verwendung als Bezichtungsinstrument

Nachdem sich die frühere Koalition nach jahrelangen Debatten im April dieses Jahres auf das neue Gendiagnose-Gesetz geeinigt hat und die Möglichkeiten der Genomanalyse in vielen Bereichen gesetzlich geregelt wurden, scheint es nicht von ungefähr, daß nun die Proteomanalyse in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen und gesundheitspolitischen Interesses nachrückt, die noch keinen gesetzlichen Einschränkungen unterliegt, aber als Werkzeug der Früherkennung und Frühbezichtigung das Mittel der Genomanalyse ersetzen könnte.

Doch nicht nur für den Laien, auch für den Mediziner, der sich auf solche Diagnosen stützt, sind die verwendeten maschinen- und computergestützten Verfahren im einzelnen nicht mehr zu durchschauen. Ebensowenig lassen sich Analysefehler erkennen. Der zweifelhafte Vorteil, daß der mittels nichtinvasiver Methode gewonnene Urin Leid erspare, relativiert sich nicht nur angesichts des psychischen Schmerzes, von dem Patienten bei einer frühzeitigen Entdeckung und Schuldzuweisung betroffen sind. Daß möglicherweise auch "unschuldig Bezichtigte", sprich fälschlich als krank Diagnostizierte die "Maschinerie der Vorsorge" treffen könnte, mußte Mischak am Ende des Vortrags selbst auf eine Zwischenfrage einräumen, womit er quasi gleichzeitig die Aussagekraft seiner Methode relativierte:

Ja, im Prinzip haben Sie recht, wenn man das vollkommen ungesteuert macht. Aber einerseits ist es ja so, daß ich damit nicht sage, der Patient ist auf jeden Fall krank, sondern da liegen Veränderungen vor. Ich bin mir sicher, die pathologischen Veränderungen, die wir sehen, sind vorhanden, die kann man auch nicht wegdiskutieren. Die müssen aber nicht notwendigerweise dazu führen, daß sich die Krankheit ausprägt. Das heißt, ich hab eine sehr gute Möglichkeit abzuschätzen, welcher Patient vermutlich diese Krankheit kriegen wird und welcher mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht, kann dann andere Parameter aber auch noch abnehmen. Und natürlich ist das in erster Linie dafür entwickelt worden, um, wie schon vorher gesagt, Patienten, die ein erhöhtes Risiko haben, zu untersuchen, zum Beispiel jemand, der schon fünf Jahre lang Diabetes hat, oder jemand, der einige Jahre schon Hypertoniker ist. Sprich, eine genaue Zielgruppe wird zu einer bestimmten Erkrankung untersucht, ob das jetzt eine Nierenerkrankung ist oder kardiovaskuläre Veränderungen. Ich werde auch Transplantatabstoßungen nur bei Patienten suchen, die ein Transplantat haben.
(aus dem Vortrag von Prof. Harald Mischak, am 6. Oktober 2009, MEDICA PreView, ENDO-Klinik Hamburg)

Wenn aber das eingangs erwähnte, wirksame therapeutische Äquivalent für die berüchtigte "Zahnpasta", die bekanntlich auch nie hielt, was sie versprach, nicht einmal angestrebt wird und es im wesentlichen nur um den Nachweis und das Ausschalten von beeinflußbaren, längst bekannten Risikofaktoren geht, bleibt mehr als fraglich, wozu man überhaupt noch eine derart kostspielige Proteomanalyse braucht.

Empfang auf der MEDICA PreView

Empfang auf der MEDICA PreView

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In einem Interview mit dem Schattenblick-Team nahm der Erfinder Prof. Harald Mischak zu diesen Fragen noch einmal persönlich Stellung.

(*) siehe unter Medizin -> Report ->

     BERICHT/003: Bezichtigungsmedizin am Beispiel der Proteomanalyse - Teil 3 (SB)

9. Dezember 2009