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ORGANSPENDE/001: Herzkreislauftod - transplantationsbegünstigend ... (SB)



Wenn über die abnehmende Bereitschaft der Bevölkerung zur Organspende geklagt wird, dann nicht nur anhand der Entwicklung innerhalb Deutschlands, sondern vor allem im Vergleich zu anderen Staaten und deren Gesundheitssystemen. Als leuchtendes Vorbild wird gerne Spanien angeführt, weil die Diskrepanz zur Organernte in der Bundesrepublik besonders deutlich ausfällt. So ist einer Meldung unter der Überschrift "Organspende: Spanier liegen vorn" der Stiftung Warentest [1] zu entnehmen, daß 43,4 Prozent Spanier pro 1 Million Einwohner im Jahr 2016 Organe spendeten, während es im Vergleichszeitraum hierzulande nur 10,4 Prozent pro 1 Million Einwohner waren. Begründet wird dieser Unterschied mit der in Spanien geltenden Widerspruchslösung, die aktiven Einspruch gegen eine Organentnahme voraussetzt, während in der Bundesrepublik die erweiterte Zustimmungslösung gilt. Dabei können Angehörige über eine Organentnahme anhand des mutmaßlichen Willens der Verstorbenen entscheiden, doch ansonsten kann nicht ohne Vorliegen einer bei Lebzeiten gegebenen Zustimmung explantiert werden.

In diesem Leistungsvergleich bleiben mehr Faktoren ungenannt als die rechtlichen Unterschiede, die den Zugriff auf die Organe Sterbender regulieren. Allein das ethische Problem der Widerspruchslösung, die alle möglichen Eingriffe ins Leben der Bevölkerung vorstellbar macht, wenn die Gesellschaft nach dem utilitaristischen Argument organisiert wird, daß der größere Nutzen einer größeren Menge von Menschen vor individuellen Schutzrechten rangiert, bedürfte bei der Frage, ob in der Bundesrepublik nicht wie in Spanien verfahren werden sollte, einer umfassenderen Diskussion. Sicherlich würden viele Menschen der Frage, ob es nicht grundsätzlich gut sei, für wohltätige Zwecke zu spenden, zustimmen. Daraus folge aber nicht, so der Medizinethiker Jochen Vollmann, daß allen Menschen automatisch ein Beitrag vom Konto abgebucht werde, es sei denn, sie widersprechen im Vorwege aktiv. Im Falle der aktuell diskutierten Widerspruchslösung geht man jedoch davon aus, daß nicht mehr gefragt werden müsse, weil ein prinzipielles Einverständnis vorliege. Mit karitativen Argumenten notdürftig bemäntelten materiellen Übergriffen auf den einzelnen Menschen, die allemal Partikularinteressen repräsentieren können, werde so Tür und Tor geöffnet.

Erschwerend für die Legitimität des spanischen Modells kommt hinzu, daß die Organspende dort auch nach Herzkreislaufstillstand und nicht nur dem ohnehin problematischen Konstrukt des Hirntodes erlaubt ist. So können dort Organe von PatientInnen entnommen werden, deren Kreislauf außerhalb oder innerhalb des Krankenhauses versagt und bei denen 30 Minuten lang durchgeführte Wiederbelebungsmaßnahmen erfolglos bleiben. Dabei werden vor allem Nieren entnommen, weil sie besonders resistent gegen die nicht mehr erfolgende Durchblutung nach Ausfall des Kreislaufsystems sind. Allerdings wird versucht, mit Hilfe organerhaltender Maßnahmen auch andere vitale Organe wie Lunge und Leber für die Transplantation zu gewinnen.

An Herzkreislaufversagen sterbende Menschen sind auch wenige Minuten nach Ende der erfolglos verlaufenden Wiederbelebungsmaßnahmen, wenn in Spanien und anderen Ländern organprotektive Maßnahmen eingeleitet und Organe entnommen werden können, nicht zweifelsfrei tot. Laut dem deutschen Transplantationsgesetz können für den Fall, daß kein Hirntod diagnostiziert wurde, Organe erst drei Stunden nach Eintreten des Herzstillstandes entnommen werden. Das macht allerdings nur noch Sinn bei Geweben, deren Funktionsfähigkeit keiner permanenten Durchblutung bedarf.

Im allgemeinen geht man davon aus, daß es sich bei der Todesfeststellung um eine Diagnose und nicht um eine Prognose handelt. Letzteres jedoch ist bei der zügigen Organentnahme nach Feststellung des Ausfalls der Herzkreislauftätigkeit der Fall. 75 Sekunden oder auch fünf Minuten nach Ende der Wiederbelebungsmaßnahmen kann kein Arzt ohne das Auftreten klassischer Todesmerkmale wie Totenflecke und Leichenstarre den Totenschein unterschreiben, ohne daß ein Restzweifel bleibt. In einem solchen Fall wird daher auch von einem "permanenten" und nicht von einem "irreversiblen" Herzkreislaufversagen gesprochen.

Unterschiedlichen Todesdefinitionen gleichwertige Gültigkeit zu verschaffen ist ein Ergebnis der Fortschritte intensivmedizinischer Versorgung, mit Hilfe derer einzelne Organfunktionen technisch substituiert werden können. Erst 1966 hat das Conseil de l'Ordre des Medicins in Frankreich das Coma Depassé als Todeskriterium anerkannt. Dies erfolgte ebenso aus transplantationsmedizischer Zweckmäßigkeit wie die zwei Jahre später durch das Ad Hoc Committee of the Harvard Medical School erfolgte Schaffung des Kriteriums "Hirntod". Man befürchtete, die Organentnahme bei noch lebenden Spendern, wie unter anderem bei der weltweit ersten Herztransplantation durch Christiaan Barnard 1967 geschehen, werde zuviel öffentlichen Widerstand hervorrufen, und schlug statt dessen eine neue Todesdefinition vor.

Der damit geschaffene Standard einer Organentnahme nach Hirntod trat praktisch als zweite Todesdefinition neben die bis dato übliche Todesfeststellung nach Herzkreislaufstillstand. 1981 wurde diese zweigleisige Todeskonzeption in den USA im Uniform Determination of Death Act kodifiziert und in den meisten Gliedstaaten der Vereinigten Staaten wie einigen anderen Ländern zur gesetzlichen Norm erhoben. Seitdem ist ein Mensch tot, wenn er entweder das irreversible Ende seiner Kreislauf- und Atemfunktion oder das irreversible Ende aller Funktionen des gesamten Gehirns inklusive des Hirnstamms erlitten hat.

Auch in der Bundesrepublik gilt die Hirntoddiagnose als legales und legitimes Mittel der Organentnahme, weil der Verlust des Bewußtseins irreversibel sein soll. Bereits 75 Sekunden nach Stillstand eines potentiellen Spenderherzens Organe zu entnehmen, wie in Spanien und anderen Ländern legal, stellt zweifellos einen Wettbewerbsvorteil dar, wenn es um die Zahl explantierter Organe geht. Ob der Mensch von der schmerzhaften Prozedur noch etwas mitbekommen kann oder nicht, scheint demgegenüber eine zu vernachlässigende Frage zu sein.


Fußnoten:

[1] https://www.test.de/Organspende-Spanier-liegen-vorn-5143492-0/?mc=socialshare

5. März 2018


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