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VORTRAG/088: Post-Psychiatrie - Psychiatrie in Bewegung ... Wo findet in Zukunft Behandlung statt? (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 145 - Heft 3, Juli 2014
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Psychiatrie in Bewegung
Wo findet in Zukunft Behandlung statt?

Von Matthias Heißler



Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre kam Bewegung in die Psychiatrie: Ein gewisser Klaus Dörner forderte die Auflösung der Anstalten (Sternmarsch auf Bonn, 1980), und viele stimmten ihm zu und engagierten sich mit ihm - bis heute.

Dörner selbst machte damit in Gütersloh ernst. 1996 konnten nach einem fünfzehnjährigen Prozess die letzten der 435 Langzeitpatienten in eigene Wohnungen entlassen werden: "Ende der Veranstaltung".(1) Bernd Meißnest hat die damals entlassenen Patienten vor kurzem erneut aufgesucht und konnte feststellen, dass viele trotz ihres damals schon hohen Alters noch leben - als ob sie nach der Entlassung aus der Anstalt ein zweites oder drittes Leben begonnen hätten, als ob sie nachholen wollten, auf was sie viele Jahre verzichten mussten: ein autonomes Leben.

Von Gütersloh lernen: Anstaltspsychiatrie vermeiden

Als letztem Leiter des Langzeitbereiches musste ich mir 1996 eine neue Arbeitsstelle suchen, weil ich den Ast, auf dem ich saß, mir mutwillig selber abgesägt hatte: In Geesthacht, besser bekannt als Krümmel,(2) wurde damals eine neue psychiatrische Abteilung für die Versorgung des Kreises Herzogtum-Lauenburg aufgebaut. Um eine "Anstaltspsychiatrie", gleich in welchem noch so aktuellen Design, zu vermeiden, setzten wir bei der Konzeption der Abteilung in Geesthacht nicht auf die angeblichen Erkenntnisse der modernen Psychiatrie, sondern auf die Erfahrungen mit den Langzeitpatienten: Wir wollten dieses Wissen, erworben im Umgang mit diesen Patienten, der Akutpsychiatrie zur Verfügung stellen, um damit einer Renaissance der Anstalt durch die Hintertür den Boden zu entziehen. Zum Beispiel importierten wir von Gütersloh die Immobilientherapie. In New York, Montreal und anderswo wird es mittlerweile "housing first" genannt. Hier wie dort wurde die Erfahrung gemacht, dass eine eigene Wohnung alle anderen Dinge leichter macht, unabhängig davon, ob jemand psychotisch, abhängig, dement oder obdachlos ist. Oder wir setzten auf Arbeit, weil jeder Mensch notwendig sein will, weil jeder Mensch Bedeutung für andere haben will oder auch weil jeder Mensch in seinem Sein und Wirken beantwortet werden will. Deshalb entwickelten wir dezentral im Abstand von zirka 15 Kilometern ein Netz von Zuverdienstfirmen, wo jeder nach Lust und Laune tätig sein kann.

Im Zuge von "supported employment", Arbeitsassistenz bzw. einem Vorgehen, das von dem österreichischen Verein 'Spagat' entwickelt wurde, werden sich zukünftig immer mehr Zuverdienstarbeitsplätze auf den ersten Arbeitsmarkt verlegen lassen. Im Unterschied zu aktuellen Vorgehensweisen geht es bei der österreichischen Variante nicht darum, dass behinderte Menschen dieselben Leistungen wie nicht behinderte Menschen erbringen müssen, sondern vor allem um Teilhabe an Arbeit, orientiert an dem individuell Möglichen. Das können 40 Stunden die Woche sein oder auch nur fünf Stunden. Wichtig ist, dass dort gearbeitet wird, wo alle arbeiten. Arbeit, Kollegialität bzw. tätige Gemeinschaft sind der wichtigste Normalisierungsbeschleuniger.

Neuer Schwung mit dem regionalen Budget

Richtig Schwung bekommt die Psychiatrie über ein regionales Budget, das als Sozialraumbudget interpretiert wird. Mit einem regionalen Budget nach § 64b SGB V darf man Psychiatrie neu erfinden. In Geesthacht haben wir unter dem Dach eines regionalen Budgets mittlerweile vier sektoriell arbeitende mobile Kriseninterventionsteams gebildet, die, ohne Ansehen der Diagnose, den Ort des Lebens zum Ort der Behandlung zur rechten Zeit machen. Solche Teams wurden in großen Städten wie Sydney, Birmingham, London etc. entwickelt, und die Frage im Hinblick auf eine flächendeckenden Einführung in Großbritannien, Skandinavien und anderswo war, ob sie auch für das platte Land geeignet sind. Dieses lässt sich eindeutig bejahen, vor allem wenn man die Teams dezentral sektoriell organisiert. Über die Kopplung und Verschränkung von Haus-zu-Haus-Besuchen im zuständigen Stadtteil, Dorf oder Sektor werden psychiatrisch Tätigen Möglichkeiten der Vernetzung eröffnet, die zum gegenseitigen Halt beitragen. Um stationäre Aufnahmen zu vermeiden und Inklusion zu wahren, wird ein Team binnen 24 Stunden vor Ort tätig. In der Klinik ist ein Mitarbeiter des Teams, der über einen Dienstpieper erreichbar ist. Er entscheidet über Hometreatment (ambulante Behandlung, Tagesklinik) oder stationäre Aufnahme (Schlüsselfunktion).

Durch diese und andere Elemente in der Lebenswelt bzw. im dritten Sozialraum schmolzen während der letzten fünf Jahre über zehntausend stationäre Krankenhausbehandlungstage weg. Im Kontext eines regionalen Budgets in Höhe von zirka sieben Millionen Euro jährlich brauchen wir für die Versorgung des Kreises Herzogtum-Lauenburg mit 188.000 Einwohnern nur noch eine Station, die durchschnittlich mit 20 Betten belegt ist - ohne Erhöhung von Mehraufnahmen (stationäre Verweildauer < 7 Tagen).

Damit diese Metamorphose gelingen kann, braucht man allerdings sowohl für psychisch erkrankte Menschen im engeren Sinn als auch für die manchmal "vergessene Mehrheit" (Günther Wienberg), die Suchtkranken, entsprechende Konzepte. Und eine geeignete Substitution, wenn die Behandlungstage im Krankenhaus weiter zurückgehen. Gott sei Dank ist mir dabei vor zirka drei Monaten im Traum Franco, Franco Basaglia, zu Hilfe gekommen. Er sagte nur ein einziges Wort: "Neurologia." Seitdem werden bei uns auf der psychiatrischen Station Patienten mit Schlaganfall, Parkinson, multipler Sklerose, epileptischen Anfällen etc. aufgenommen. Dies trägt zur besseren Versorgung dieser Personengruppe durch Alltagsorientierung bei, sorgt für Normalisierung, sprich eine Reduktion von Stigmatisierung und gibt der Station auch bei weiter fallenden psychiatrischen Behandlungstagen eine Perspektive.

Genauso wie mobile Kriseninterventionsteams bringen Gastfamilien, auch als Krisenfamilien oder "crisis homes" bezeichnet, Bewegung in die Psychiatrie: Der Aufenthalt in einer Gastfamilie "gewährt, was die prachtvollste und bestgeleitete Anstalt niemals gewähren kann, die volle Existenz unter Gesunden, die Rückkehr aus einem künstlichen und monotonen in ein natürliches, soziales Medium, die Wohltat des Familienlebens", führte schon Wilhelm Griesinger vor 150 Jahren aus. Statt stationärer Therapie mit entsprechenden Nebenwirkungen findet in einer Gastfamilie Mit-Sein im Alltag statt, und zwar rund um die Uhr in einer mehr oder weniger entspannten Atmosphäre, ähnlich wie es von Mosher und Ciompi als heilsames Milieu in 'Soterias' beschrieben wurde. Soterias in Bern und anderswo sieht man allerdings die institutionelle Verwandtschaft mit Stationen noch deutlich an, während Gastfamilien als "Soterias vor der Haustür" klein, familiär, überschaubar und zusätzlich vernetzt im Stadtteil oder Dorf, also kommunal, verankert sind. Um "Luft" auf eine Station zu bekommen, sind jedem Krankenhaus fünf bis zehn Gastfamilien "im kommunalen Bestand" zu empfehlen.

Wer will mit 80 noch auf eine psychiatrische Station?

Und vor allem muss sich Psychiatrie über mobile Kriseninterventionsteams zu alten Menschen bewegen: Kein Mensch will im Alter, mit 70, 80, 90 Jahren, noch auf eine psychiatrische Station, wenn ihm das bisher in seinem Leben erspart geblieben ist. Er und seine Angehörigen schämen sich, fürchten Stigmatisierung, was den Behandlungsbeginn zusätzlich hinauszögert. Außerdem reagieren gerade alte Menschen, insbesondere mit demenzieller Entwicklung, sehr vulnerabel auf Veränderungen des Alltäglichen. Häufig bringen schon geringe Veränderungen im Alltag die gerade noch ausbalancierte Alltagsroutine aus dem Gleichgewicht, mit schwerwiegenden Folgen wie Desorientiertheit, Verwirrtheit oder Delir-ähnlichen Symptomen.

Diese Gefahr haben als Erste Frauen auf dem Land, als Landfrauen belächelt, in ihrem ganzen Ausmaß erkannt und bis in letzter Konsequenz zu Ende gedacht - und Klaus Dörner wurde ihr Sprachrohr.(3) Auf dem Dorf kann schon der Wegfall eines Tante-Emma-Ladens oder der Wegzug von Jüngeren, die die Alten bisher unterstützt haben, bei Eintreten einer entsprechenden Erkrankung eine Katastrophe auslösen, sprich zur Krankenhauseinweisung mit anschließender Heimunterbringung führen. Weil diese Umstände tragisch und empörend sind und unter die Haut gehen, sahen sich die Landfrauen zum Aufstand genötigt: Sie setzten ihre Bürgermeister unter Druck, besetzten leer stehende Räume und wandelten aufgegebene Schulen, Gaststätten oder Kindergärten in tagesstrukturierende Angebote oder rund um die Uhr betreute Haushaltsgemeinschaften für ihre "Alten" um, gewissermaßen eine basisdemokratische Revolution, vergleichbar mit der Occupy-Bewegung. Mittlerweile hat diese emanzipatorische Bürgerbewegung auch die Städte erreicht. Während in den Dörfern der engere Kontakt und die Nachbarschaft die Empörung über die untragbaren Zustände schneller zum Handeln führte, verzögerte die städtische Anonymität zunächst den Zusammenschluss.

Wie bekannt wollen über 90 Prozent der Bürger - auch dann, wenn sie krank oder dement werden - nicht in ein Heim. Als Alternative haben vor allem Angehörige, aber auch Vereine wie 'Daheim' in Gütersloh oder 'Alt und Jung' in Bielefeld ambulante Wohnpflegegruppen bzw. Haushaltsgemeinschaften gegründet. Im Kreis Gütersloh beispielsweise verfügen inzwischen alle Dörfer und Stadtteile bis auf drei über mindestens eine Haushaltsgemeinschaft.

Während Heime Einrichtungen sind, nach deren Vorgaben und Bestimmungen man sich ausrichten muss, nimmt man in Wohngruppen die Leistungen eines Pflegedienstes in Anspruch, der sich nach den persönlichen Bedürfnissen des Mieters ausrichten muss, unermesslich überlebenswichtig, gerade dann, wenn ich dement werde (die mediane Überlebenszeit ist laut Statistischem Bundesamt in Heimen nur zirka halb so hoch: 29 zu 56 Monaten). Jedoch dürfen diese ambulanten Wohnpflegegruppen in der Regel nicht in Gebäuden untergebracht werden, die zu diesem Zweck errichtet werden, sondern in Häusern, die beispielsweise vormals als Wohnungen oder Praxen genutzt wurden, ohne dass beabsichtigt war, dass später Wohngruppen einziehen. Das würde dazu führen, dass die Gebäude über kurz oder lang zu Einrichtungen mit Ewigkeitswert werden, deren Zimmer belegt werden müssen. Wenn Vereine solche Häuser mieten, dann also quasi nur als Projekt, das nach einer gewissen Zeit dem zuständigen Stadtteil oder Dorf zu übergeben ist, damit es von den Bürgern vor Ort in den Dienst genommen und entsprechend genutzt werden kann, also von Bürgern für einzelne Bürger in Not als Projekt für den Stadtteil oder das Dorf.

Wenn notwendig stellt sich also Psychiatrie in den Dienst der Bürger und ihrer Bedürfnisse, jedoch nicht als Betreiber von Einrichtungen, sondern als Dienstleister, der Projekte kreiert, nicht um sie zu besitzen, nicht als Eigentum, sondern als Leihgabe, als Übergangsobjekte, bis die Bürger des zuständigen Stadtteils oder Dorfes sie in Eigenregie übernehmen, die Projekte "inklusiv" werden oder untergehen, weil sie überflüssig werden.

Und dies steht paradigmatisch für eine andere Psychiatrie, eine Psychiatrie ohne Einrichtungen, Einrichtungen gehören der Psychiatrie nicht. Sie müssen nach über 200 Jahren den Bürgern endlich zurückgegeben werden. Ähnlich wie das durch die Säkularisierung vollzogen wurde. Psychiatrie ist lediglich Transformator, Zwischenglied, An-Stifterin. "Geschäftsführer" ist der Stadtteil oder das Dorf. Es geht um die kommunale Revitalisierung von Einrichtungen und um die Revitalisierung von Vereinen und GmbHs, damit sie ihrer gemeinnützigen Satzung wieder entsprechen: Psychiatrie als projektiv orientiertes Vorgehen - auf Abruf.

Die therapeutische Potenz von Gastfamilien

Während sich Haushaltsgemeinschaften mittlerweile für die Herstellung einer 24-Stunden-Assistenz bewährt haben, muss man sich allerdings fragen, ob die Gastfamilie als "Soteria vor der Haustür" tatsächlich mit gutem Gewissen als Alternative zur Station taugt.

Differenzierte Studien aus Denver, Madison, Zürich, Lille und Tønder lassen daran keinen Zweifel.(4-6) Die Patienten in den Gastfamilien sind in Bezug auf die Schwere der Erkrankungen vergleichbar mit denen auf der Station. Im "Outcome" sind sie jedoch nicht nur gleichwertig, sondern sogar deutlich besser! Die Bürger im dritten Sozialraum, in der Nachbarschaft, haben also ähnliche, wenn nicht sogar eine bessere therapeutische Potenz als psychiatrisch Tätige auf einer Station. Verkraftet das unser professionelles Ego?

Bei der Umsetzung des Konzepts "Gastfamilie" war man der Ansicht, man müsste die Familien psychiatrisch ausbilden, bevor man sie auf Patienten loslässt. Man musste jedoch feststellen, dass dabei die therapeutische Potenz der Familien zurückging, und hat diese Versuche an allen Zentren wieder eingestellt. Danach wurden die Ergebnisse wieder besser. Wie ist so was nur möglich? Wie wirken Gastfamilien?

Um diese Frage zu beantworten, half mir Iain McGilchrist, ein Psychiater und Neurologe aus London. Er beschäftigt sich seit Jahren mit der Frage, warum das Gehirn in zwei unterschiedliche Hemisphären geteilt ist, und hat darüber ein Buch geschrieben: "The master and his emissary. The divided brain und the making of Western World" (Der Meister und sein Diener. Das geteilte Hirn und die Gestaltung der westlichen Welt).(7) Verkürzt und vereinfacht gesagt geht er davon aus, dass der Mensch mit der rechten Hemisphäre unmittelbar das Leben und die Welt wahrnimmt, und zwar Inhalt und Kontext gleich gültig, also ganzheitlich. Mit der anderen, der linken Hemisphäre versucht der Mensch das, was ihm widerfährt, in abstrakten Formen zu erfassen, in Worten, Bildern, Geschichten. Aus Leben wird Erleben. Mit der rechten Hemisphäre nehmen wir umfassend wahr, jedoch ohne Worte, ohne Bild, ohne Begriff, während wir mithilfe der linken Hemisphäre aus Leben Erleben machen, auf das wir bewusst zurückgreifen können, mit der Einschränkung, dass wir dafür aber immer nur einen Ausschnitt des Gesamten zu fassen bekommen.

Auch andere gehen von einer Zweiteilung aus: Goldstein spricht von einer konkreten und einer abstrakten Seinsweise. Grawe unterscheidet das Implizite vom Expliziten, andere das digitale vom analogen Leben. Wie immer man diese Zweiteilung fasst: Unsere Worte, unsere Beschreibungen kommen immer schon zu spät. Und: Es ist eigentlich eine Unmöglichkeit, darüber zu sprechen, weil Worte und Geschichten schon teilen, weglassen und unterscheiden, was unteilbar, ganz, uns unmittelbar widerfährt. Diese Welt existiert, bevor wir uns ein Bild von ihr machen und unabhängig von unseren Geschichten von ihr. Arm im Geist lebt man sie, einfach so, selig (Neues Testament), während sie "Geistesgrößen", verkopften Theoretikern, in der Regel verborgen bleibt. Sie kann nur im Rückspiegel des Erlebten geahnt werden. Kant ist sich sicher, dass das Leben als Erleben empirisch begriffen werden kann, aber nicht als Leben pur. Leben als Grundlage unseres Seins ist für uns unzugänglich, transzendent. Auch bei Goethe ("Faust") steht das Wort nicht am Anfang, jedoch kommt auch die Tat zu spät. Lévinas sieht die Rettung im Anblick eines nackten Antlitzes, das uns anfleht, nicht zu töten. Ohne diesen Aug-in-Aug-Kontakt erschlägt Kain Abel immer wieder. Diese Haltung gilt aber nicht nur meinem Gegenüber, sondern überhaupt gegenüber der Schöpfung. "Das Lebewesen, sagt Bateson, "das im Kampf gegen seine Umwelt siegt, zerstört sich selbst."

McGilchrist fürchtet durch die Überbetonung der Fähigkeit unserer linken Gehirnhälfte eine Dominanz des Abstrakten und des Digitalen, die unsere Kultur zugrunde richten wird, weil das Management des Lebens das analoge Leben erstickt.

Die Psychiatrie hat vor 200 Jahren schon mal Ähnliches versucht: Die "totale Institution" (Goffman) wollte herumirrendes Leben zur Räson bringen und endete im "tödlichen Mitleid".(8) Im Erschrecken darüber kam es nach dem Zweiten Weltkrieg zur "Abrüstung", zur Deinstitutionalisierung (Thornicroft, Tansella) weltweit; aus Anstalten wurden Einrichtungen, und aus Einrichtungen werden in Zukunft hoffentlich Projekte in der Hand von Bürgern werden, um Leben zu ermöglichen, das durch das Management des Lebens in Sackgassen geraten ist.

Mit-Sein statt Management

Der Mensch steht immer und erst recht zukünftig in der Gefahr, das Management des Lebens zu übertreiben, weil er so stolz ist, das Wesen zu sein, das notgedrungen gar nicht anders kann, als Bedeutungen zu schaffen, als Ausgangspunkt und Sehnsucht, das Leben zu vervollkommnen.

Damit diese Fähigkeit des Menschen das Leben nicht erdrückt und erschlägt, braucht es eine Gegentendenz, ein Gegenhalten, ein De- für Dekonstruktion, ein Re- für ein Zurück bzw. generell: eine Abrüstung für zu elaborierte Konzeptionalisierungen.

Statt Management ist Anschluss an das Leben in der Form von Mit-Sein notwendig, so wie in einer Gastfamilie die Bewältigung des Alltags als Mit-Sein begriffen und praktiziert wird.

Und dieses Mit-Sein im Alltäglichen übertrifft in seiner unbeabsichtigten Wirksamkeit das Management einer Klinikstation, um damit die eingangs gestellte Frage nach der Wirksamkeit von Gastfamilien zu beantworten. Der Mensch wagt wieder, selbstvergessen zu leben.

Um eine Balance zwischen Leben und Management des Lebens herzustellen und aufrechtzuerhalten, ist eine stete Wachsamkeit, eine permanente Gegenbewegung, ein beständiges Gegenhalten erforderlich und bleibt deshalb eine nie enden wollende Aufgabe. Eine Aufgabe für "Bürger und Irre"(9) mit dem Ziel, das Management über das Leben abzurüsten, damit dem Leben Luft zum Atmen bleibt.

Eine Sisyphus-Aufgabe. Aber, behauptet Albert Camus: "Sie müssen sich Sisyphus als einen glücklichen Menschen vorstellen." Oder sind Sie nach 80 Jahren unglücklich, Herr Dörner? [schüttelt den Kopf]: Sisyphus - Dörner - ein "exemplarischer Mensch".(10)

Ein Danke dafür ist mehr als angebracht und doch nicht richtig passend. Es ist Auftrag. Danke, Herr Dörner, dass Sie diesen Auftrag offengelegt haben.


Dr. Matthias Heißler, Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapie, ist Chefarzt der psychiatrischen Abteilung am Johanniter-Krankenhaus in Geesthacht. Der Artikel ist die verschriftlichte Fassung seines Vortrags auf dem Symposium zum 80. Geburtstag von Klaus Dörner am 2. Dezember 2013 in Gütersloh.
E-Mail: heissler@johanniter-krankenhaus.de


Anmerkungen:

(1) Dörner, K. (Hrsg.) (1998): Ende der Veranstaltung. Gütersloh (Verlag Jakob van Hoddis).

(2) Östlich gelegener Ortsteil von Geesthacht.

(3) Dörner, K. (2007): Leben und sterben, wo ich hingehöre. Neumünster (Paranus-Verlag).

(4) Lötscher, K.; Bridler, R. (2013): Psychiatrische Akutbehandlung in Gastfamilien. In: Rössler, W.; Kawohl, W. (Hrsg): Soziale Psychiatrie. Stuttgart (Kohlhammer-Verlag), S. 255-263.

(5) Lötscher, K; Stassen, H.H.; Leutenegger, G. et al. (2012): Gastfamilien - Gemeindenahe Versorgung für akut psychisch Kranke. Hohe Patientenzufriedenheit bei reduzierten Kosten. In: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 163(7), S. 245-251.

(6) Dresler, K.-D.; Neukirchner, J. (Hrsg.) (2005): Betreutes Leben in Gastfamilien: gestern - heute - morgen. Dokumentation der 20. Bundestagung Familienpflege in Jena: Freiersleben, M.: Netzwerkfamilien in Dänemark, und Lötscher, K., Bridler, R.: Gemeindeintegrierte Akutbehandlung mit Hilfe von Gastfamilien. Verlag Fachhochschule Jena.

(7) Bisher leider nur in Englisch erschienen: McGilchrist, I. (2009): The master and his emissary. The divided brain und the making of Western world. New Haven/London (Yale University Press).

(8) Dörner, K. (2002): Tödliches Mitleid Neumünster (Paranus-Verlag).

(9) Dörner, K. (1999): Bürger und Irre. 2. Aufl. Hamburg (Europäische Verlagsanstalt).

(10) Nigg, W. (1980): Der exemplarische Mensch: Begegnung mit Heiligen. Freiburg (Verlag Herder).

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 145 - Heft 3, Juli 2014, Seite 8 - 11
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. November 2014