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VORTRAG/100: Zur Problematik des Normalen in der Sozialpsychiatrie (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 178 - Heft 04/22, Oktober 2022
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Zur Problematik des Normalen in der Sozialpsychiatrie

von Stefan Weinmann


Auf der Tagung "Die Zukunft der Sozialpsychiatrie" hielt Stefan Weinmann einen vieldiskutierten Vortrag zum Normalitätsbegriff und den Konsequenzen für die Theorie und Praxis der Sozialpsychiatrie.


Das Normale - ein Problem für die Sozialpsychiatrie?

Die Beschäftigung mit dem Begriff des "Normalen" bekommt eine besondere Brisanz, wenn wir sie im Zusammenhang mit der Sozialpsychiatrie (und nicht der Psychiatrie als Fachgebiet) und eben als Problem derselben betrachten. Denn zum einen macht sich die Sozialpsychiatrie unnötig klein, wenn sie sich als sozialmedizinischer Zweig der Psychiatrie oder als eine Arbeitsrichtung innerhalb der Psychiatrie versteht, die sich mit sozialen Ursachen und Folgen psychischer Störungen beschäftigt. Zum anderen war es schon immer ein sozialpsychiatrisches Anliegen, Menschen mit Auffälligkeiten im psychischen Erleben und Verhalten ein möglichst "normales" Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen, ohne für sie Sonderwelten zu schaffen. Ob sie bei uns in Mitteleuropa beides erreicht hat, kann bezweifelt werden - ebenso kann bezweifelt werden, dass der Begriff der Normalität bei der Beurteilung der erreichten Fortschritte hilfreich ist.

Wir wissen wahrscheinlich immer noch viel zu wenig über die Menschen, die wir sozialpsychiatrisch unterstützen, haben zu wenig Gespür dafür, welche Funktion ihr Erleben und Verhalten hatte oder hat - und daher können wir auch nur schwache und oberflächliche Aussagen dazu treffen, was für sie "Normalität" bedeutet. Denn um ihre Normalität sollte es gehen, nicht um unsere. Diese Aussagen sagen meist mehr über unsere eigenen Vorurteile aus als über die Menschen, mit denen wir zu tun haben.


Die Psychiatrie als Fachgebiet

Wer hilft uns, wenn wir uns dem Begriff "Normalität" nähern? Die Psychiatrie als Fachgebiet hilft uns wenig. Die Medizin und insbesondere die Psychiatrie sind bei der Abgrenzung von Gesundheit und Krankheit vergleichsweise hilflos - ebenso wie bei der Definition des Normalitätsbegriffs. Zwar wurde jüngst Rosenhan mit seiner Studie, welche die Fähigkeit der Psychiatrie, psychisch krank und "normal" zu unterscheiden, methodisch kritisiert (Cummings 2017). Alle Anstrengungen, biologische, neurobiologische, psychologische oder gar anthropologische Marker für psychische Erkrankung zu definieren, sind allerdings gescheitert. Dies scheint die sogenannte biologische Psychiatrie in ihrem Selbstverständnis nicht zu beeinträchtigen. Sie produziert - als "Ankerpunkte", wie Kahnemann (2012) es definiert - immer neue neurobiologische Befunde, die spannend sind, aber wenig bis kaum anwendbar, die in den Fach- und allgemeinen Medien gut positioniert werden, um nicht selten später wieder in der Versenkung zu verschwinden. Eines der größten Motive für die neurobiologische Forschung besteht ja darin, herauszufinden, welche pathologischen Befunde eine Abgrenzung zwischen psychisch krank und gesund ermöglichen und was bei Menschen mit definierten psychischen Erkrankungen "anders ist": Diese Arbeit liegt ihr schlicht "in den Genen". Die Vielzahl der Befunde zu Rezeptoren, Genen, neuronalen Netzen und Hirnstrukturen (unterstützt durch die vielen Forschungsgelder, die sie gegenwärtig noch erhält) führen aber insbesondere dazu, dass die klinisch-biologische Psychiatrie meist im Vorsprung gegenüber anderen Herangehensweisen an Menschen mit psychosozialen Krisen ist und den Diskurs zu psychischer Erkrankung und Unwohlsein anführt. Sie hat gegenwärtig immer noch die Deutungsmacht über psychische Erkrankung und Anomalität, die viele nichtärztlich sozialpsychiatrisch Tätige ihr irgendwie ja auch überlassen, weil sie nicht die Letztverantwortung für diese Menschen übertragen bekommen haben - also die Definition von Eigen- oder Fremdgefährdung und Selbstbestimmung und Fürsorge (Unterbringung und gesetzliche Betreuung). Der Festigung dieser Deutungsmacht dient auch das medizinische Modell psychischer Erkrankung.


Annäherung an das Thema Normalität

Begriffe und Haltungen zur Normalität während unseres Handelns im psychiatrischen Kontext sind durchaus entscheidend dafür, wie wir handeln, was wir tun, und welche Signale wir den Menschen, die wir unterstützen, geben. Bei unseren Handlungen im nichtpsychiatrischen Alltag verlassen wir uns darauf, Menschen und Situationen einschätzen zu können und zumindest ein Verständnis davon zu bekommen, warum sie sich so oder so verhalten. Um uns in der Welt bewegen zu können, bedarf es einer gewissen Nachvollziehbarkeit des Verhaltens von Mitmenschen. Diese schafft Orientierung. Wenn wir umgangssprachlich den Begriff "anormal" verwenden, meinen wir am ehesten das Unverständliche, nicht Einschätzbare und nicht Verstehbare, manchmal auch das Außergewöhnliche.

"Normal" kann sich auf die Abweichung von einem (gesetzten) Standard beziehen, auf einen bestimmten zu definierenden Grad der Abweichung von einem statistischen Durchschnitt, oder auf das "Gesunde". Keine Definition scheint uns weiterzuhelfen. Auch eine juristische oder menschenrechtliche Definition ist nicht möglich. Das medizinische Kriterium des Gesunden kann wiederum nur für die körperliche Gesundheit gelten, denn psychische Gesundheit entzieht sich mit besonderer Hartnäckigkeit einer positiven Definition. Oft wird psychische Gesundheit als ein Zustand des Wohlbefindens angesehen, in dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpft, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zu ihrer Gemeinschaft leisten kann. Diese Definition ist so allgemein wie unbrauchbar.

Die klinische Psychiatrie hat eine eigene Sicht von Normalität, die vom Pathologischen und einem eigenen Konstrukt psychischer Krankheit ausgeht. Das Fachgebiet überträgt als Teilgebiet der Medizin, wie oben erwähnt, die medizinischen Methoden auf die Psyche und fordert als medizinisches Krankheits- und damit Anomalitätskriterium ein "klinisch erkennbares Muster von Symptomen oder Verhaltensweisen, die in den meisten Fällen nicht als positiv erlebt werden, und die persönlichen Lebensbereiche und -funktionen beeinträchtigen" (WHO 1992).

Insbesondere die aktuellen Klassifikationssysteme ICD und DSM stellen das Leiden oder Unwohlsein (distress) ins Zentrum, ergänzen es jedoch auch durch Behinderung (der Beeinträchtigung eines oder mehrerer Funktionsbereiche) und durch ein deutlich erhöhtes Risiko, zu sterben oder Schmerz, Behinderung oder einen bedeutsamen Verlust von Freiheit zu erleben. Die medizinische Definition impliziert damit, dass Krankheit nicht "normal" sei und eine Intervention erfordert (Finzen 2018). Diagnosen sind allerdings lediglich Hilfskonstrukte, die Ansprüche auf Leistungen und soziale Kontrolle darstellen, uns aber in Normalitätsdiskursen nicht weiterhelfen. Denn Diagnosen gründen sich nicht auf natürliche Krankheitseinheiten, sondern sind das Ergebnis eines mehr oder weniger hilfreichen Konsenses unter Expertinnen und Experten. Die evidenzbasierte Psychiatrie, die sich auf Diagnosen gründen muss, ist dem auf Gedeih und Verderb ausgeliefert und gerade nicht wertneutral: Sie hat, weil wenig standardisiert nichts Messbares publiziert wird, einen Messbarkeits-Bias, sie missachtet die soziale Natur der Wissensproduktion und gewichtet die vermeintliche Evidenz höher als die Präferenzen der gemeinten Personen.

Auch in der klinischen Psychologie (als Wissenschaft und Fachgebiet) haben wir oft das Pathologische in den Vordergrund gestellt als das "Andere", nicht allgemeinpsychologisch Nachvollziehbare, wenngleich auch "Erklärbare". Die Dichotomisierung des entweder allgemeinpsychologisch Verstehbaren oder eben nicht (für uns westlich sozialisierte Vernunftbegabte) Verstehbaren ist eine tödliche Kategorisierung, welche Psychologisierung und Psychiatrisierung gefördert hat: Wir haben, basierend u.a. auf Karl Jaspers, das mutmaßlich nicht Verstehbare als Kriterium dafür genommen, Menschen zu "Anderen" zu machen. Dabei haben wir unsere eigenen Voreingenommenheiten übersehen und glauben, vernünftiger zu sein, als wir es wirklich sind. Mit dieser Dichotomisierung in wir und sie verunmöglichen wir beispielsweise die Nutzung des Konzeptes der psychischen Krise für den Personenkreis der schwer psychisch Erkrankten. Denn anscheinend fehlt bei diesen Personen, beispielsweise, wenn sie "psychotisch" werden oder eigensinnig handeln (Bock 2021), das "Trauma" als auslösendes Lebensereignis und das typische Hilfesuchen beim Zusammenbruch der direkten sozialen Hilfenetzwerke. Dabei übersehen wir ihre Traumata!

Psychische Krisen zu haben (auch solche, die der Krankheitsdefinition genügen), ist für den Menschen "normal". Erst seit der zunehmenden Ausweitung der Krankheitsbegriffe in den psychiatrischen Klassifikationssystemen und der damit einhergehenden Psychiatrisierung scheint dies nicht mehr der Fall zu sein. Die anscheinende Verfügbarkeit wirksamer Therapien führt dazu, die menschliche Welt um uns als potenzielles Ziel von Interventionen und damit immer mehr Anormalität zu sehen, ohne klare medizinische, also biologische Kriterien dafür zur Verfügung zu haben. Die Depression in der modernen Form ist beispielsweise erst seit der Verfügbarkeit von Antidepressiva und spezifischer Psychotherapien konstruiert worden. In Japan war bis vor einigen Jahrzehnten depressiver Rückzug keine Erkrankung, sondern Teil einer spirituellen Reaktion. Erst seit der Vermarktung von Antidepressiva durch westlich trainierte Psychiaterinnen und Psychiater und Arzneimittelhersteller wurde das Konzept der Depression nach Japan getragen - um Anwendungsgebiete für diese Therapien zu haben. Zur Verringerung dessen, was als depressiv erlebt wird, hat dieser Zugang allerdings wenig beigetragen.

Eine Definition des Begriffes "normal" für die Medizin, die Psychiatrie oder auch die Soziologie ist damit nicht allgemein möglich. Normalität wird immer "konstruiert", und das Normale ist kulturellen Wandlungsprozessen unterworfen. Normalität und Abweichung sind soziale Konstruktionen, die auch wieder dekonstruiert werden können.


Unser Unwohlsein und die Frage nach dem Normalen

Asmus Finzen bezeichnet es als einen Kurzschluss, "verrückt", "abnormal" und "psychisch krank" gleichzusetzen. Dem würden viele beipflichten. Denn diese Gleichsetzung folge einem kategorialen Missverständnis - auf der Grundlage unserer Vorstellung davon, was psychosoziale Anomalität sei, und nicht aufgrund konkret vorliegender Symptome und Zeichen psychischer Störungen. Wir konstruieren eine solche Anomalität nicht, weil sie wirklich vorhanden ist, sondern weil wir sie zur Erklärung für ein Problem des Zusammenlebens benötigen, das wir anders nicht verstehen und nicht bewältigen zu können glauben.

Aber: Was sind denn Symptome und Zeichen psychischer Störungen? Sind sie nicht immer im sozialen Kontext zu sehen - und auch nur dann zu verstehen? Wenn wir das Symptom im Kontext sehen, verliert das Symptom manchmal das Pathologische. Und Symptome sind immer schon Reaktionen auf etwas (bei Menschen, die traumatisiert sind) -, aber diese Reaktionen sind außerhalb des "Normalpsychologischen" - und gehen manchmal mit Risiken einher (Fremd- oder Eigengefährdung). Die Begriffe "Eigengefährdung", "Fremdgefährdung" sind (genauso wie die von Thomas Bock hervorgehobenen Begriffe "Krankheitseinsicht" und "Compliance") Höllenhunde vor dem Eingang der psychiatrischen Hilfesysteme. Müssen Menschen wirklich an ihnen vorbei?

Die Verwendung des Begriffs "Normalität" und die Pathologie in der Psychiatrie hat viel mit uns zu tun und zeigt unser eigenes Unwohlsein und unsere eigenen Spannungen angesichts von auffälligem Erleben und Verhalten und sagt mindestens genauso viel über uns aus wie über den "anderen"! Wir brauchen offensichtlich die Kategorie "anomal", um uns unserer eigenen Gesundheit zu versichern und unser Handeln, unser Therapieren (mit dem wir Geld verdienen) zu rechtfertigen. Gleichzeitig sind wir Akteure im Rahmen der sozialen Ordnungsfunktion der Psychiatrie.


Wenn wir also schwimmen - wie kommen wir weiter?

Auch Auffälliges gehört zum Normalen dazu. Es ist, wenn wir es als normal betrachten, Teil unserer gesellschaftlichen Realität und in unserem Bezugs- und Verantwortungsbereich. Wir müssen uns dann irgendwie dazu "verhalten". Wenn nicht, fördern wir Sonderinstitutionen, die "zuständig" sind,

• entweder als Institutionen zur "Normalisierung"
oder
• als Institutionen der "Versorgung" und "Verwahrung".

Beides kennen wir allzu gut. Und angesichts dieser Zuständigkeiten wird dann immer wieder die Frage auftauchen, ob eine normalisierende Behandlung möglich ist, oder ob die Schwelle zur bloßen Versorgung schon überschritten ist und es darum geht, den dort versorgten Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen und gleichzeitig die Umwelt vor ihm zu schützen und / oder fernzuhalten. Auch der frühere Begriff des "komplementären Versorgungssystems" spiegelt diese Logik und Hybris wider.

Was aber, wenn diese Institutionen gegen die Logik rebellieren oder sich zumindest dagegen wehren? Dahin muss es unweigerlich kommen, wenn menschliche Beziehungen im sogenannten sozialpsychiatrischen Versorgungssystem aufgebaut werden. Denn wenn wir beginnen, den Menschen zu sehen, sind wir jenseits von Normalisieren, Behandeln oder Versorgen.


Exklusion

Wenn wir das Unnormale als das Pathologische klassifizieren, schaffen wir Exklusion, wenn eine "Normalisierung" nicht möglich ist. Das medizinische System kann uns als sozialpsychiatrisch Tätigen nicht wirklich helfen - auch oder gerade nicht die sogenannte evidenzbasierte Psychiatrie oder Sozialpsychiatrie. Denn ein starker und wünschenswerter psychotherapeutischer Zugang in der Sozialpsychiatrie hat viele Vorteile, birgt aber die Gefahr eines Schulenstreites und einer frustranen Auseinandersetzung über die richtige Methode der Unterstützung. Dabei ist Dialog und Resonanz wichtiger als Therapie.

Warum? Weil wir Menschen in psychosozialen Krisen dann auf Augenhöhe begegnen und nicht als Expertinnen oder Experten. Wir haben es, wie Asmus Finzen betont, in der Sozialpsychiatrie meist mit normalen Menschen zu tun, deren Erleben und Verhalten wir nicht pathologisieren sollten. Eine Trennung von Behandlung und Versorgung ist schädlich; nicht nur die Gesellschaft, sondern auch das Hilfesystem ist Bedeutungsraum. Hilfen, für die es nicht die Expertinnen und Experten gibt, sollten Teil gesellschaftlicher Realität werden. Die Verantwortung liegt überall, und wir dürfen sie gerne der Gesellschaft zurückspielen, die auch Unterstützung braucht in der Aneignung dieser Verantwortung. In gleicher Weise brauchen wir die Unterstützung als Professionelle (durch Psychiatrieerfahrene und durch die Gesellschaft selbst), um eigene Verzerrungen zu vermeiden. Denn auch wir sind Krisenerfahrene oder können dazu werden (neben der Erfahrung eigener psychischer Krisen): Wir erfahren die Krise der Psychiatrie, die immer auch eine Krise der Gesellschaft ist.


Begegnungsräume

Wir brauchen Hilfestrukturen, aber diese entwickeln immer ein Eigenleben und können Alltag und "echte Begegnungen", die für eine Normalität wichtig sind, behindern. Viel mehr als normalisierende Institutionen brauchen wir Raum für normale Begegnungen - und diese Begegnungen finden oft in therapiefreien Räumen statt. Normalität im Sinne resonanter menschlicher Begegnungen (Hartmut Rosa) findet statt, wenn wir keine Therapie und keine Normalisierung be-absichtigen. Hierzu braucht es Mut und Offenheit. Und einen möglichst bewertungsfreien Raum. Leider gibt es keine bewertungsfreien Räume - nur Offenheit für Bedeutungsvielfalt.

Die Frage nach der Normalität hat immer auch mit der Frage zu tun, was Menschen tun, um ein "moralisches Leben" zu führen - angesichts von Unsicherheit und Gefahr. Und diese Gefahr kann tatsächlich sein oder aus der Erfahrung und als Angst - die Art der Reaktion auf Angst hat erheblich damit zu tun, was wir als normal erachten. Aktuell geben wir uns etwa weiterhin (in der bisher vertrauten westlichen Welt) dem Gedanken hin, dass wir unsere Umwelt kontrollieren können, dass verschiedene Arten von Unglück uns nicht persönlich treffen, dass wir die meisten körperlichen Erkrankungen gut behandeln können und dass wir mit Technologie grundsätzlich weiterkommen. Aber eigentlich zeigt sich immer mehr, dass die Welt unsicher ist und dass, wenn wir uns der ganzen Realität stellen würden, wir vielleicht morgens am liebsten im Bett bleiben und verzweifeln würden.

Diese Verdrängung unserer eigenen Vulnerabilität und unserer eigenen Grenzen ist beachtlich und wird durch Konsumismus und den Mythos von Kontrolle befördert. Wenn Menschen also anscheinend "unnormal" reagieren, haben sie vielleicht einfach nur die Normalität der Verdrängung aufgegeben, die Fassade verloren oder den Glauben in die Kontrollierbarkeit der Welt. Vielleicht haben sie keine Hoffnung mehr, ein Leben nach ihren Wertmaßstäben führen zu können?


Hilfesysteme

Die Diskussion über das Normale in der (Sozial-)Psychiatrie läuft auf eine Diskussion über Versorgungsmodelle und komplexe Hilfen hinaus. Wir leben in der (Sozial-)Psychiatrie in einem Spannungsfeld: Wir beklagen die frühere Trennung von Sozialpsychiatrie (konkrete Hilfe im Bereich Wohnen, soziale Beziehungen, Arbeit) und Psychotherapie. Wir beklagen, dass nicht überall eine psychotherapeutische Haltung herrscht, und dass es schwer ist, in der Sozialpsychiatrie verändernde therapeutische Prozesse anzustoßen. Wir beklagen die fehlende Bedarfsgerechtigkeit und den Mangel an Ressourcen dafür, was wirklich hilft.

Andererseits sehen und erleben wir täglich, dass eher in therapiefreien Räumen und Kontexten positive Veränderungsprozesse passieren. Therapeutische Prozesse laufen am besten, wenn sie im Rahmen absichtsfreier Therapien stattfinden. Die Schlussfolgerung kann aber nicht sein, möglichst wenig Therapie in der Sozialpsychiatrie zu machen (oder diese Therapie an Psychologen und Ärzte zu delegieren), sondern veränderungsoffen zu sein und therapeutische Prozesse zuzulassen, ohne sie mit dem jeweiligen Modell, was wir im Kopf haben, zu steuern!

Daran sollten wir unsere Hilfesysteme und eben auch die Psychiatrie orientieren, auch wenn wir dann zugeben müssten, dass unsere Hilfesysteme in weiten Bereichen dysfunktional sind. Beispiele für weniger pathologisierende Elemente von Hilfesystemen sind etwa aufsuchende Behandlung (Home Treatment), Kooperativen, die Verbindung von Unterstützung und sozialen Bewegungen, Begegnungsräume, unterstütztes Arbeiten etc. - vieles, was auch Matthias Heißler in seinem Buch "Psychiatrie ohne Betten" beschrieben hat (Heißler 2021).


Schlussfolgerung - jenseits der Polarisierung

Wenn wir also helfen wollen, das Leben von Menschen mit psychischen Krisen zu verbessern, sollten wir uns verabschieden von Normalitätsdiskursen und von der Delegation von Zuständigkeiten: Denn "jeder ist für alles vor allen verantwortlich " (Dostojewski). Und wir sollten uns bewusst sein, dass wir es im Wesentlichen mit "normalen Menschen" zu tun haben, für die ganz normale menschliche Verhaltensweisen gelten und sinnvoll sind - auch die nicht gleich verstehbaren. Es gibt viele Gründe, die Polarität von Normalität und Abweichung hinter uns zu lassen und mehr danach zu fragen, welche Ressourcen (nicht nur: welche Unterstützung und Hilfe, denn dies schafft wieder Abhängigkeit) Menschen in spezifischen Lebenssituationen brauchen, um zu einer erfüllten und befriedigenden Lebensführung zu gelangen.


Dr. Dr. Stefan Weinmann, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Gesundheitswissenschaftler, Oberarzt in der Psychiatrischen Klinik im Theodor-Wenzel-Werk in Berlin


Literatur

Bock, T. (2021) Psychose und Eigensinn: Noncompliance als Chance. Köln: Paranus im Psychiatrie Verlag

Cummings, I. (2017) Rereading Rosenhan. In: Illness, Crisis & Loss 28(1), 38-50

Finzen, A. (2018) Normalität: Die ungezähmte Kategorie in Psychiatrie und Gesellschaft. Köln: Psychiatrie Verlag

Heißler, M. (2021) Psychiatrie ohne Betten: Eine reale Utopie. Köln: Paranus im Psychiatrie Verlag

Kahnemann, D. (2012) Schnelles Denken, Langsames Denken. München: Siedler

World Health Organization (1992) The ICD-10 classification of mental and behavioural disorders: clinical descriptions and diagnostic guidelines. World Health Organization. Verfügbar unter:
https://apps.who.int/iris/handle/10665/37958
(letzter Zugriff: 26.07.2022)

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 178 - Heft 04/22, Oktober 2022, Seite 17-20
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 2. Juni 2023

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