Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → PSYCHIATRIE


VORTRAG/099: Der "aggressive Risikopatient" - als Konstrukt (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 176 - Heft 2/22, April 2022
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Der "aggressive Risikopatient" - als Konstrukt

von Stephan Debus


Mit dem Narrativ des "aggressiven Risikopatienten" werden die Beschreibung von Gefährdungssituationen und daraus resultierende Zwangsmaßnahmen unangemessen personalisiert. Der Beitrag zeigt, dass in der Psychiatrie zahlreiche weitere Faktoren beschrieben werden müssen, die zur Gewalteskalation führen. Unser Autor fordert daher eine Forschung, die die individuelle Perspektive überschreitet und mehr Ansätze der System-, Situations-, Interaktions-, Sprach- oder Diskursanalyse einbezieht.


In der DGPPN-S3-Leitlinie (kurz: S3-LL) zur Verhinderung von Zwang (1, Kap. 14) ist nachzulesen: "Trotz der von allen Seiten beteuerten Haltung, freiheitsbeschränkende Maßnahmen nur als Ultima Ratio einzusetzen, variiert die Häufigkeit von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen zwischen verschiedenen Ländern und Settings enorm, ohne dass dies durch Krankheits- und Patientenmerkmale ausreichend erklärt würde."

Dieses Zitat ist der Ausgangspunkt für folgende Überlegungen: Zur Rechtfertigung psychiatrischer Zwangsmaßnahmen gehört die Konstruktion des "aggressiven Risikopatienten", der - von sozialen Stressoren oder von seiner Psychopathologie, Intoxikation oder Gewaltvorerfahrung getriggert - die Impulskontrolle verliert und zu Mitteln der Fremd- oder Selbstgefährdung greift. Ohne wissenschaftliche Evidenz erscheinen Zwangsmaßnahmen in diesem Narrativ als notwendiger Gegenpol zur Eindämmung des Kontrollverlusts. Ein anderes, ebenso absurdes Narrativ zeichnet das Bild vom "aggressiven Pflegepersonal" in einer "Zwangspsychiatrie", wonach Patientinnen und Patienten willkürlich durch Zwangsmaßnahmen eingeschüchtert, isoliert oder bestraft werden. Es gibt sehr gewichtige Gründe dafür, dass beide Narrative nicht die Realität abbilden. Die gemeinsame narrative Strategie besteht darin, die Gewalteskalation in Gefährdungssituationen zu personalisieren, das heißt, es werden individuelle Motive, Defizite und Merkmale unterstellt und adressiert. In der epidemiologischen Forschung dominiert die Strategie der Personalisierung und stützt solche Narrative durch inadäquate Datenverknüpfungen (siehe unten). Jedoch zeigt gerade der Erfolg von Maßnahmen zur Gewaltreduzierung, dass Personalisierung keine gute Erklärungsstrategie ist. Wir müssen dazu nur einmal die positiven Argumente im Umkehrschluss betrachten:


1. Risikoleitung

In den letzten Jahren haben innovative Klinikkonzepte zur Gewaltvermeidung gezeigt, dass Zwangsmaßnahmen weitgehend (bis zu 90 Prozent) reduziert werden können: Hierzu zählen beispielsweise die Neuenheimer Klinik um deren (damaligen) Chefarzt Martin Zinkler (2), das St. Marien-Hospital Eikel um den Chefarzt Peter Nyhuis in Herne und auch das Weddinger Modell (3) in einem Berliner Brennpunktbezirk um die (mittlerweile) Chefärztin Liselotte Mahler. Drei engagierte Menschen in Leitungsfunktion führen innovative Konzepte zur Gewaltreduzierung ein, motivieren Berufskollegen und verändern mit diesen Konzepten für wichtig gehaltene Klinikregeln und Abläufe. Sie machen sich auf einen Weg, der nicht immer einfach zu gehen war und anfangs nicht von allen begrüßt wurde. Denn "natürlich" gab es Widerstand, aus welchen Gründen auch immer, gegen diese Pläne. Klinikleiter sind für gewöhnlich in eskalierenden Situationen nicht anwesend. Sie haben keinen unmittelbaren Einfluss auf die Verlaufsdynamik von Gewalt und Zwang auf Station. Ihr Einfluss vermittelt sich nicht über ihre Person, sondern über ihre Leitungsfunktion, neue Regeln und Abläufe einzuführen und aufrechterhalten. Was sagt dieser Wirkmechanismus (Neureglung → Gewaltreduktion) im Umkehrschluss über die Leitungsfunktion in denjenigen Kliniken aus, die solche Innovationen nicht einführen? Sind sie für das hohe Niveau an Gewalt mitverantwortlich, indem sie nicht innovativ handeln, indem sie klinikorganisatorische Defizite passiv zulassen? Inwieweit kann das Konstrukt des "Risikopatienten" den Wirkmechanismus erklären? Müssten wir bei Untätigkeit von Klinikleitungen nicht von Führungsversagen oder, etwas polemisch formuliert, von einer "Risikoleitung" sprechen? Wäre es denkbar, in eine ehrliche Dokumentation von Zwangsmaßnahmen die folgenden beiden Datenfelder einzuführen?

[  ] [x] Gewalteskalation wegen Systemversagen

[  ] [x] Gewalteskalation wegen Leitungsversagen (betr. S3-LL-Nr. nn)

Unter Systemversagen soll hier verstanden werden: Eine unregelmäßig auftretende, aber ungünstige klinikorganisatorische Konstellation neutralisiert das Handeln der Akteure im Team, sodass aus ihrer Sicht eine Zwangsfixierung nicht vermieden werden kann. Von Leitungsversagen wird man sprechen müssen, wenn Systemversagen nicht zufällig, sondern regelmäßig auftritt und hingenommen wird; wenn also Systemversagen nicht reflektiert und defiziente Regeln nicht durch bessere Regeln ersetzt werden. Systemversagen ist eine Form der institutionellen Gewalt, da das Delegationssystem nicht funktioniert. Leitungsversagen ist dagegen eine Form der strukturellen Gewalt* insofern, dass die Schädigung von Patienten prinzipiell hätte vermieden werden können, obwohl das Wissen zur Vermeidung verfügbar gewesen ist. Es ist gerade das Verdienst der S3-LL, dass das verfügbare Wissen zur Verhinderung von Zwang auf dem aktuellen wissenschaftlichen Stand präzisiert wurde. Dadurch wird es möglich, die regelmäßige Übertretung einer Leitlinien-Empfehlung (nn) als "strukturelle Gewalt" (4) im Sinne von Johan Galtung zu identifizieren. Wir müssten diese Übertretung nur dokumentieren.


2. Teamkohärenz

Konzepte zur Gewaltreduzierung betonen immer wieder die Bedeutung der "Teamkohärenz der Behandler", insbesondere in eskalierenden Gefährdungssituationen. Teamkohärenz trägt zur Klarheit und Eindeutigkeit, Empathie und Vertrauensbildung, Handlungskoordination und zum Sicherheitsempfinden aller Akteure bei. Dies wird bestätigt durch sprachhandlungsbezogene Prozess-Studien (z.B. GIHRE = "Group Interaction in High Risk Environments" [5]) auch außerhalb der Psychiatrie. Die GIHRE-Forscher untersuchten Gefährdungssituationen in Hochrisiko-Umgebungen (z.B. Intensivstation, Operationssaal, Flugverkehr oder Atomkraftwerk) daraufhin, wie Kommunikation und Gruppeninteraktion die Entstehung und den Verlauf von Unfällen ursächlich beeinflussen (vgl. [6], Kap. 4.3.). Eine zentrale Aussage von GIHRE lautet, dass Teams in einer Notsituation eine gemeinsame soziale Definition der Gefährdungssituation benötigen, um effektiv an der Lösung arbeiten zu können. Diese Situationsdefinitionen erreichen Teams durch Absichtsberichte, mit denen jedes Mitglied seinen nächsten Handlungsschritt erklärt. Indem die Crew laut denkt, arbeitet sie daran, dass alle das gleiche Modell der Situation im Kopf haben und dadurch in die Lage versetzt werden, gemeinsam und koordiniert zu handeln. Erfolg oder Misserfolg in einer Gefahrensituation hängt nach GIHRE weniger von der Bedrohungslage oder der Technik ihrer Beherrschung ab als davon, wie die Teams in dieser Lage kohärent funktionieren. In außerklinischen Gefährdungssituationen im Rahmen der Notfallrettung wird diese Kohärenz über die Rettungsleitstelle (Feuerwehrleitstelle) organisiert. Auf einer psychiatrischen Akutstation dagegen wird die Koordination in den Teambesprechungen vorbereitet, während in den Gefährdungssituationen selbst viele Handlungen improvisiert werden müssen. Die Chancen und Risiken der Improvisation zur Verhinderung von Fixierungsmaßnahmen hängen also wesentlich von der Qualität der Vorbereitungen bzw. Nachbesprechungen ab.

Wenn nun Teamkohärenz ein so wichtiger Einflussfaktor für Gewaltreduktion ist, was ist dann im Umkehrschluss zu folgern: Teaminkohärenz ist ein Einflussfaktor für das Entgleisen einer Gefährdungssituation, das heißt für die Gewaltentstehung? Können wir uns in einer ehrlichen Dokumentation von Zwangsanwendungen ein Datenfeld neben "Fremd- bzw. Selbstgefährdung" vorstellen, das besagt: "Fixierung aufgrund mangelnder Teamkohärenz"?

[  ] [x] Gewalteskalation wegen Teaminkohärenz


3. Impulskontrolle

In Untersuchungen zur Wirkung von komplexen Programmen auf die Reduktion von Zwang (vgl. www.prevco.de) zeigte sich ein erstaunlicher Sachverhalt, der auch in anderen Studien immer mal wieder berichtet wird: In der Zeit nach Bekanntgabe der Teilnahme einer Klinik an einer Studie bis zum Zeitpunkt des eigentlichen Studienbeginns sanken die Fixierungsraten in den Kontrollgruppen. Die Fallzahlen fielen allein aufgrund und ab dem Zeitpunkt der Ankündigung der Studienteilnahme. Wie kann man dieses Phänomen erklären - sicher nicht durch Patientenmerkmale. Vielleicht so: Im Team der Kontrollgruppe erwacht der "Kampfgeist". Man will nicht schlechter abschneiden als die Kollegen in der Untersuchungsgruppe, denen ja noch ein Training bevorsteht. Das Team strengt sich an und will zeigen, zu welchen Leistungen es fähig ist, auch ohne zusätzliches Training. Das Team "reißt sich zusammen", es erhöht dadurch seine "Impulskontrolle", um im Wettbewerb mit den Kollegen nicht schlechter dazustehen. Das wäre eine verständliche Reaktion und eine plausible Hypothese. Dazu passt auch die Beobachtung (vgl. [1], S3-LL, Kap. 14, S. 240-244), dass das Ausmaß an Zwangsmaßnahmen sich dann reduziert, wenn in einer Klinik Nachbesprechungen regelmäßig durchgeführt oder Dokumentationssysteme neu eingeführt werden. Es wird vermutet, dass die Häufigkeit von Zwangsmaßnahmen deshalb sinkt, weil deren Anordnungen vor anderen Mitarbeitern kritisch reflektiert und verantwortet werden müssen. Das Team übt in diesem Sinne eine "bessere kollektive Impulskontrolle" bei sich selbst aus.

Wie groß mag dieser Effekt sein, der in den Studien bisher nur beiläufig erwähnt, nicht aber systematisch und großflächig (mit Randomisierung über Kliniken; nicht über Personen) untersucht wird? Nehmen wir an, es zeigte sich ein signifikanter Effekt, dann wäre auch "mangelnde Teamimpulskontrolle" ein Einflussfaktor, der das Ausmaß an Gewalt auf einer Akutstation erhöht. Es zeigte sich ein weiterer Wirkfaktor zur Gewaltentstehung, der mit den oben genannten Faktoren eines "Risikopatienten" nichts zu tun hat. Das zusätzliche Datenfeld in einer ehrlichen Fixierungsdokumentation sähe dann in etwa so aus:

[  ] [x] Gewalteskalation wegen mangelnder Teamimpulskontrolle


4. Medizincontainer

Seit langem (7) ist bekannt, dass Gewalteskalationen in Kliniken von Ort und Zeit abhängen. Als Hauptentstehungsorte konnten die Stationstüren und die Flure vor den Dienstzimmern ausgemacht werden. Zu den Hauptentstehungszeiten sind zu rechnen: der Montagmorgen, wenn die Therapieprogramme nach dem Wochenende beginnen, und die Mittagszeiten, wenn sich die Teams in ihre Dienstzimmer zurückziehen und für Gespräche nicht zur Verfügung stehen.

Warum müssen Akutstationen wie sterile Medizincontainer aufgebaut sein: Mittelgang und davon rechts und links abgehend Schlafräume (doppelt bis sechsfach belegt) sowie Sozial- bzw. Funktionsräume. Manchmal sind sie sogar in den lichtarmen Untergeschossen großer Gebäudekomplexe angesiedelt. Von Ausnahmen abgesehen sieht so die heutige Kontroll- und Hygiene-Architektur einer psychiatrischen Durchschnittsklinik aus. Welche ignorante Sparökonomie lässt es zu, die Behandlung von psychisch hilfebedürftigen Menschen ausgerechnet in enge und sterile Medizincontainer zu verlagern. Es gibt mittlerweile so viele gute und kreative Ideen, wie die Psychiatrie aus dieser Container-Architektur aussteigen könnte, um förderliche Therapie-Atmosphären zu erzeugen (8), (9), (1, S3-LL Kap. 10.1). Diese werden aber häufig mit Verweis auf die Haushaltslage abgewehrt. (Warum eigentlich? Geld für eine umfassende Psychiatriestrukturreform stünde doch genügend zur Verfügung. Jeder zusätzliche Steuerfahnder erbrächte dem Staat 1.000.000 Euro, und es fehlen in Deutschland ca. 15.000 bis 20.000 Steuerprüfer [10], wie der Bundesrechnungshof und die Steuergewerkschaft berechnet haben. Durch Steuerhinterziehung entgehen dem deutschen Staat jährlich 123 Mrd. Euro [11] [de.statista.com: Murphy 2015]; allein 10 Mrd. Euro durch manipulierte Kassen.)

Wir fügen in die "Neue und ehrliche Fixierungsdokumentation" folgende Datenfelder ein:

[  ] [x] Gewalteskalation wegen misslungenem Zeitmanagement
         [  ] [x] Gewalteskalation wegen unzureichender Gesprächsangebote
         [  ] [x] ...

[  ] [x] Gewalteskalation wegen inadäquater räumlicher Gestaltung der Station
         [  ] [x] Gewalteskalation wegen räumlicher Enge
         [  ] [x] ...


5. Trainingsdefizit

In vielen Studien (siehe 1, S3-LL: Kap. 11.3.1. bis 11.3.3.) konnte gezeigt werden, dass Deeskalations-, Abwehr- oder Kombinationstrainings Zwangsmaßnahmen reduzieren. Wenn aber solche Trainings wirken, kann die Gewaltdynamik nicht allein an die Patienten adressiert werden. Denn hinge die Gewalteskalation allein vom Patienten ab, wären Deeskalationsmaßnahmen wirkungslos. Die Ergebnisse legen im Umkehrschluss folglich nahe: Weil Trainings wirkungsvoll sind, trägt ein Trainingsdefizit zur Erhöhung von Gewalt auf Station bei. Müssten wir nicht ehrlicherweise in die neue Fixierungsdokumentation folgendes Datenfeld einfügen:

[  ] [x] Gewalteskalation durch Trainingsdefizite/mangelnde Trainingsangebote


6. Negative Reziprozität

Die sprechaktanalytischen Untersuchungen unseres Forschungsprojektes "Simulation und Reduktion von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie" (kurz: SRZP, [12], vgl. www.srzp.de) hat einen erstaunlichen, jedoch eigentlich schon lange bekannten Sachverhalt empirisch genauer beschreibbar gemacht: Die Kontrahenten in bestimmten typischen Situationen, in denen die Gewalt zwischen Patienten und Pflegenden eskaliert, streiten prinzipiell immer um das gleiche Thema. Sie streiten mit einem hohen Maß an sprachlicher Rationalität, die weniger zum Bild eines "verwirrten, psychotischen Risikopatienten" als vielmehr zu einer verirrten klinischen Streitkultur passen. Wie kann man das verstehen? Sieht man einmal von den konkreten Streitanlässen ab (wie: Rauchverbot, Ausgangssperre, Verstoß gegen die Hausordnung, Verlegung, Complianceanforderung, Wechsel des Bezugstherapeuten, Medikamenteneinnahmekontrolle etc.), dann werden die Interessenskonflikte innerhalb eines wiederkehrenden Kommunikationsmusters ausgetragen, das als "negative Reziprozität" bekannt ist. Die Streitenden sprechen sich, wohlgemerkt gegenseitig (!), das Rede- oder das Bestimmungsrecht ab, zweifeln an der Glaubwürdigkeit, der Ernsthaftigkeit oder der Offenheit des Gegenübers oder untergraben diese durch Drohungen oder Versprechungen.

In verschiedenen Spielarten fallen Äußerungen wie: "Das dürfen Sie nicht.", "Sie haben mir nichts zu sagen.", "Das überzeugt mich nicht.", "Das ist nicht Ihr Ernst.", "Das wollen Sie nicht im Ernst.", "Sie enthalten mir etwas vor.", "Warum machen Sie das überhaupt." Alle Patienten und Krankenpflegende kennen solche Dialoge bis zur Erschöpfung. Dieses Muster ist in so vielen filmisch gut dokumentierten Gefährdungssituationen gefunden worden, dass wir mittlerweile im Umkehrschluss einen bestimmten Situationstyp, in Abgrenzung zu anderen Situationstypen, durch eben dieses Muster identifizieren können. Der hohe Grad an Rationalität der Dialogstrategie besteht darin, dass mit diesen Äußerungen die Kommunikation selbst, bzw. alle ihre Gelingensbedingungen, infrage gestellt werden sollen. Die Kontrahenten versuchen sich gegenseitig auszubremsen, und zwar mit einem kommunikativen Mechanismus, der im Gegenteil die Eskalationsgefahr "explosionsartig" ansteigen lässt.

Dieses duale Kommunikationsmuster allein an Patienten zu adressieren, ist unfair, denn es funktioniert nur gegenseitig. Wie wäre es also, wenn in der neuen und ehrlichen Fixierungsdokumentation folgendes Datenfeld auszufüllen wäre:

[  ] [x] Gewalteskalation durch negative Reziprozität/misslingende Dialogstrategie


7. Fehlanreize

Eine gute Personalausstattung ist nach S3-LL (1, Kap. 10.2, S. 83) "unverzichtbar zur Vermeidung von Zwang und Gewalt". Was geschieht, wenn die Personalausstattung quantitativ und qualitativ nicht ausreicht? Unter den realen Bedingungen einer durchökonomisierten Psychiatrieversorgung entstehen Situationen, in denen sich das Team entscheiden muss zwischen einer zeitsparenden Zwangsfixierung und einer zeitexpansiven Intensivbegleitung unter Verzicht von Zwangsmaßnahmen. Wie sich das Team in einer solchen Situation entscheidet, hängt natürlich von vielen Faktoren ab: Ein Faktor ist sicher auch das Patientenverhalten. Aber es gibt viele weitere Faktoren, die mit dem Patienten nichts zu tun haben: z.B. An- bzw. Abwesenheit des Bezugstherapeuten, der den Patienten besser versteht. Und es gibt systemisch-ökonomisch gewichtige Faktoren, die die Entscheidung der Teams triggern und die ebenfalls nichts mit dem Patientenverhalten zu tun haben: z.B. aktueller Personalschlüssel, Krankenstand des Teams, Überlastung durch Dokumentationsanforderungen etc. Unter guten Arbeitsbedingungen mit "quantitativ und qualitativ ausreichender Personalausstattung" (ebd.) wäre es eventuell leicht gewesen, die Gefährdungssituation mit Zeit und ohne Zwang zu deeskalieren. Das Team, das sich aus arbeitsökonomischen Gründen für die zügige Variante entscheiden muss, wird gewissermaßen durch eine Zeitersparnis "belohnt". Tritt dieser Mechanismus sehr häufig auf, muss man von ökonomisch-systemischen Fehlanreizen sprechen. Es dürfte eigentlich nicht sein, und doch bestehen diese vom Patienten völlig unabhängigen Fehlanreize. In der Fixierungsdokumentation stünden dann ehrlicherweise die folgenden Datenfelder:

[  ] [x] Zwangsfixierung aufgrund systemischer Fehlanreize:
         [  ] [x] Personalmangel
         [  ] [x] hoher Krankenstand
         [  ] [x] Arbeitsüberforderung
         [  ] [x] ...

Allen Lesenden dürfte klar sein, dass eine solche ehrliche und für die öffentliche Auswertung bestimmte Dokumentation unmöglich erstellt werden kann: Denn sie würde Zusammenhänge dokumentieren, die nach der Gesetzeslage verboten sind. Eine Zwangsfixierung, die z.B. auf Teaminkohärenz zurückgeführt werden könnte, wäre nicht erlaubt, obwohl unter Experten großes Einverständnis darüber besteht, dass Teamkohärenz Gewalt und Zwang reduziert. Dieses ist das eigentliche Dilemma und m.E. der Hauptgrund dafür, dass die Konstruktion des "aggressiven Risikopatienten", der mit seinem individuellen Verhalten die Zwangsmaßnahme herausfordert, scheinbar notwendig macht. Dieses Dilemma ist auch ein Hinderungsgrund für die Entwicklung einer ergebnisoffenen Fehlerkultur. Solange wir Risikogründe (wie die obigen Beispiele zeigen) ausschließlich als individuelles Risikoverhalten konstruieren, kommen wir im Verständnis der realen Dynamik von Gefährdungssituationen nicht voran. Die Personalisierung der Gewaltgründe verstellt den Blick auf Gründe, die außerhalb des Individuellen liegen. Es geht dabei nicht darum, die Existenz individuellen Risikoverhaltens grundsätzlich zu bestreiten, sondern darum, dieses Verhalten im situativen Zusammenhang mit den anderen Risikogründen zu analysieren.

Sehr häufig wird die Kritik an der Personalisierung des Gewaltrisikos verbunden mit der Kritik an den sogenannten quantitativ-statistischen Verfahren der Epidemiologie. Diese letzte Kritik teile ich nicht ganz. Denn ganz grundsätzlich ist es möglich, auch systemische, interaktive, sprachliche und diskursive Merkmale zu zählen und statistisch auszuwerten. Es ist prinzipiell möglich, nicht nur über Personen, sondern auch über Kliniken, Stationen, Situationen oder Interaktionen zu randomisieren. Das Erklärungsproblem der Epidemiologie entsteht unter anderem dann, wenn systemische Daten, wie z.B. das Gewaltvorkommen** ausschließlich mit individuellen Patientenmerkmalen (Diagnose, Alter, Schulbildung etc.) korreliert werden. Durch diese unkritisch übernommene, im psychiatrischen Mainstream weit verbreitete, aber höchst begründungsbedürftige Datenverknüpfung, tritt das Problem auf, von dem im Eingangssatz dieses Artikels die Rede ist. Die Forschung übernimmt unkritisch das problematische Narrativ des "aggressiven Risikopatienten" in ihre Analyseverfahren und - was Wunder: sie produziert Prädiktoren, die dieses Narrativ "wahrscheinlicher" machen. Dieses Vorgehen ist zirkulär, und der Patient wird "falsch vermessen". In der psychiatrischen Gewaltforschung benötigen wir daher mehr unvoreingenommene Forschung, die die individualistische Perspektive überschreitet mit Ansätzen, wie sie etwa in der System-, Situations-, Interaktions-, Sprach- oder Diskursanalyse angewendet werden.

PD Dr. Stephan Debus, Medizinische Hochschule Hannover, einer der drei Sprecher des FA "Netzwerk: Psychiatrie ohne Gewalt" (NPOG) der DGSP

Hinweis
Der Beitrag basiert auf dem Vortrag des Autors "Auf dem Weg zur gewaltfreien Psychiatrie" auf der DGSP-Jahrestagung 2021 in Bremen.


Anmerkungen
* Nach dem Friedensforscher Johan Galtung ist "strukturelle Gewalt" eine nachweisbare Eigenschaft eines sozialen Systems, das die körperliche und psychische Integrität von Menschen aktual schädigen kann, obwohl diese Schädigung nach den vorhandenen Ressourcen und dem Stand des verfügbaren wissenschaftlichen Wissens potenziell vermieden werden könnte.

** Zur systemischen Variablen "Gewaltvorkommen" gehören zumindest die komplexen Merkmale der Einweisungspraxis sowie Klinik- und Stationsmerkmale (z.B. die der obigen fiktiven Dokumentation). Die Variable "Alter" beispielsweise ist dagegen ein ausschließlich individuelles Patientenmerkmal.


Literatur
1  Steinert, T. (2018) S3-Leitlinie "Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen". Hrsgg. von Fachgesellschaften AW-M (www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/038-022.html), Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, 2018, 305

2  Zinkler, M; Waibel, M. (2019) Auf Fixierungen kann in der klinischen Praxis verzichtet werden - ohne dass auf Zwangsmedikation zurückgegriffen wird. In: PsychPrax, 46, S6-S10

3  Mahler, L.; Jarchov-Jadi, I.; Montag, C.; Gallinat, J. (2014) Das Weddinger Modell - Resilienz- und Ressourcenorientierung im klinischen Kontext. Köln: Psychiatrie Verlag

4  Soßdorf, A. (2008) Der Gewaltbegriff bei Johan Galtung. Berlin: VDM Verlag

5  Dietrich, R.; Childress, T.M. (2004) Group Interaction in High Risk Enviroments (GIHRE). Bodmin (Cornwall): MPG Book Ltd

6  Debus, S. (2019) Ein Kommunikationsmodell zur Durchsetzungsmacht in psychiatrischen Gefährdungssituationen - PART V: "Simulation und Reduktion von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie" (SRZP). In: PsychPrax, 46, S50-S59

7  Nijman, H. (1997) Aggressive behavior on an acute psychiatric admission ward. In: Eur J Psychiatry, 11, 106-114

8  Debus, S.; Posner, R. (Hrsg.) (2007) Atmosphären im Alltag. Über ihre Erzeugung und Wirkung. 1. Aufl. Bonn: Psychiatrie-Verlag; kostenloser Download über:
https://forschen-und-teilen.de/atmospha-eren-im-alltag/

9  Hoffmann, H. (2007) Soteria - Atmosphäre als Therapeutikum in der Schizophreniebehandlung. In: Debus, S.; Posner, R. (Hrsg.) (2007) Atmosphären im Alltag. Über ihre Erzeugung und Wirkung. Bonn: Psychiatrie-Verlag, S. 15-41

10  Kolhoff, W. (2015) Laut Steuergewerkschaft fehlen 20.000 Prüfer. Saarbrücken: Saarbrücker Zeitung vom 13. August

11  Murphy, R. (2019) The European Tax Gap - A report for the Socialists and Democrats Group in the European Parliament. In: Tax Research UK, 38

12  Debus, S.; Radovic, M. (2019) Zur Kommunikationsdynamik von Gefährdungssituationen - PART III: "Simulation und Reduktion von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie" (SRZP). In: PsychPrax, 246, S29-S37

*

Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 176 - Heft 2/22, April 2022, Seite 8-12
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Telefon: 0221/51 10 02, Fax: 0221/52 99 03
 
Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 28. Oktober 2022

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang