Soziale Psychiatrie Nr. 135 - Heft 1, Januar 2012
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Psychiatrie, Psychotherapie und Internet
Das Internet als Gesundheitsmedium - ein Überblick zu verschiedenen
Schnittstellen
Von Christiane Eichenberg
Der Einsatz des Internets ist im privaten wie beruflichen Alltag fest verankert und in die täglichen Lebensabläufe von weiten Teilen der Gesellschaft integriert. Durch die breite Nutzung von Internetkommunikation verändert sich auch das Gesundheitswesen. Während der Begriff E-Health (oder auch Telemedizin, Cybermedizin, Online Health, Health 2.0) als Sammelbegriff für unterschiedlichste Aspekte der Schnittstelle von Internet und Medizin verwendet wird, fokussiert E-Mental-Health speziell die Zusammenhänge von digitalen Medien und psychischer Gesundheit.
Die Auswirkungen des "Internetzeitalters" auf die psychische Gesundheit werden in der Tendenz polarisierend diskutiert: Kulturpessimistische Stimmen warnen zum Beispiel vor den Gefahren exzessiver Internetnutzungsformen, das andere Lager bietet optimistisch "Psychotherapie via Internet" für unterschiedliche Störungsbilder an (siehe beispielsweise die Interapy-Programme(1), Wagner/Lange 2008).
Hilfreicher als einseitig geführte Kontroversen um die Chancen, aber
auch die Risiken des Internets für Psychiatrie und Psychotherapie ist,
zunächst die unterschiedlichen Berührungspunkte zu differenzieren.
Insgesamt lassen sich vier zentrale Schnittstellen zwischen der
Psychiatrie und Psychotherapie mit dem Medium Internet identifizieren
(vgl. Ott/Eichenberg 2003; Stetina/Kryspin-Exner 2009). Erstens ist
das Internet ein Informationsmedium mit Ressourcen zu
psychischen Störungen, zweitens kann es als Kommunikationsmedium
therapeutische Interventionen unterstützen, was drittens eine
Beziehungsänderung zwischen Behandler und Patient impliziert. Viertens
hat die Internetnutzung (z.T. klinisch relevante) Effekte und
Wechselwirkungen in Bezug auf das menschliche Verhalten und
Erleben.
A. Information
Nachfrage
Insbesondere bei Gesundheitsthemen scheint sich das Internet nach den
traditionellen Ratgebern wie Ärzten, Psychologen, Apothekern,
Familienangehörigen und Freunden als wichtige Anlaufstelle etabliert
zu haben. Laut einer bevölkerungsrepräsentativen Studie mit N = 2411
Befragten (Eichenberg/Blokus/Brähler 2010) greifen 63,5% der deutschen
Internetnutzer bei Gesundheitsfragen auf das Internet zurück, womit es
sich auf einer Stufe mit Ratgebern in Fernsehen, Hörfunk und
Printmedien befindet. Das Internet würde im Bedarfsfall für ein
Viertel aller Deutschen und ungefähr die Hälfte aller deutschen
Internetnutzer bei psychischen Problemen eine Anlaufstelle
darstellen. Im Vordergrund stünde dabei für 90,3% aller deutschen
Internetnutzer die Suche nach Informationen. Der Austausch in
Selbsthilfeforen (40,8%), die Suche nach einem niedergelassenen
Psychotherapeuten (30,6%) und die Diagnostik mittels psychologischer
Onlinetests (28,2%) sind dem eindeutig nachgeordnet.
Qualitätssicherung
Gerade aufgrund der starken Beliebtheit stellt sich die Frage nach der
Qualität der verfügbaren Internetinformationen. Die generellen
Vorteile gesundheitsbezogener Internetressourcen wie z.B.
unkomplizierter, zeit- und ortsunabhängiger und diskreter Zugriff
stärken insgesamt die Rolle des Ratsuchenden in Richtung "mündiger
Patient" (Eichenberg unter Mitarbeit von Dies, 2011). Studien belegen
jedoch, dass der Großteil der Nutzer nicht die Herkunft der
recherchierten Quellen überprüft (Fox 2006).
Neben dem Problem der Informationsüberflutung stellt sich insbesondere das Problem der mangelnden Qualitätssicherung von Web-Informationen. Eine Reihe von inhaltsanalytischen Studien zur Qualität gesundheitsbezogener Websites kam bei unterschiedlichsten Erkrankungen zu problematischen Befunden mit einer hohen Anzahl fehlerhafter oder unvollständiger bis hin zu gefährlichen Informationen (z.B. für Angststörungen siehe Ipser/Dewing/Stein 2007; für bipolare Störungen siehe Barnes et al. 2009). Auch die Einseitigkeit von Informationen ist bemerkenswert wie besorgniserregend: So zeigte sich bezüglich der posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS), dass 42% der 50 Top-Websites zu Trauma von Pharmafirmen unterhalten oder gesponsert werden mit signifikant mehr Hinweisen zu Psychopharmaka als Therapie der Wahl (Mansell/Read 2009). In einer Studie zur Qualität deutschsprachiger Webseiten zu PTBS war die Darstellung psychodynamisch fundierter Traumatherapien gegenüber den kognitiv-behavioralen Ansätzen dramatisch unterrepräsentiert (Eichenberg/Blokus/Malberg, under review).
"Neben dem Problem der Informationsüberflutung stellt sich das Problem der mangelnden Qualitätssicherung von Web-Informationen"
Um der Verbreitung von gesundheitsbezogener Falsch- oder
Fehlinformationen im Internet mit der Gefahr negativer Folgen für das
psychische und das körperliche Wohlbefinden gegenzusteuern, wurden
verschiedene Modelle der Qualitätskontrolle entwickelt (siehe
Sander/Schult 2010). Ein Beispiel hierfür ist der HONcode, der durch
die Stiftung Health On the Net (HON) vergeben wird. Der HONcode ist
ein Ehrenkodex und enthält Richtlinien für Webmaster mit einem Minimum
von Standards (z.B. Sachverständlichkeit, Datenschutz, Transparenz).
Bisher wurden 7300 Websites mit dem HONcode zertifiziert.
Inhaltsanalytische Studien zeigen, dass HONcode-zertifizierte Websites
hinsichtlich der Qualitätsbewertung deutlich besser abschneiden als
nicht zertifizierte (siehe z.B. Zermatten et al. 2010, mit einer
Analyse von Depressions-Websites).
B. Intervention
Neben den Optionen des Internets zur gesundheitsbezogenen Information und Selbsthilfe unterstützt es auch den Austausch zwischen Behandlern und Patienten. Onlinekommunikation kann bei bestehenden Arzt-Patient-Beziehungen als zusätzliche Kontaktform genutzt werden, aber auch ausschließlich über das Internet stattfinden (Onlineberatung).
Rechtliche Aspekte
Potenzielle Anbieter stehen vor der Frage, welche technikbasierten
Beratungs- und Behandlungsangebote aus rechtlicher Sicht erlaubt sind
und welche Regeln dabei zu beachten sind. Während reine
Beratungsangebote, bei denen es sich nicht um Therapie handelt,
sondern um Angebote der Lebenshilfe oder Krankheitsfragen geht, keinen
spezialgesetzlichen Anforderungen unterliegen, ist der Einsatz des
Internets in der (Psycho-)Therapie in Deutschland nur bedingt
zulässig. Sowohl die Berufsordnungen der Ärzte als auch Psychologen
statuieren als Grundsatz die Pflicht zur persönlichen
Behandlung. Die Ärzte unterliegen dem so genannten
Fernbehandlungsverbot nach § 7 Abs. 3 der Musterberufsordnung für
Ärzte (MBO-Ä 2004). Verboten ist allerdings nur die ausschließliche
Fernbehandlung. Das Verbot erlaubt die Option, dass der Arzt in
Einzelfällen seinen Patienten auch durch den Einsatz neuer Medien
therapeutische Ratschläge erteilt (Ratzel/Lippert 2006). Voraussetzung
hierfür ist allerdings, dass der Arzt den Patienten aus der laufenden
Behandlung persönlich kennt. Auch den Psychologischen
Psychotherapeuten ist die Fernbehandlung ihrer Patienten im Grundsatz
verboten (§ 5 Abs. 5 der Musterberufsordnung für Psychologische
Psychotherapeuten, MBO-PP/KJP 2006) und die Pflicht zum persönlichen
Kontakt gegeben. Allerdings lässt die MBO-PP/KJP in begründeten Fällen
Ausnahmen von dem Fernbehandlungsverbot zu, z.B. wenn die
therapeutische Nachsorge den Einsatz neuer Medien sinnvoll und
erforderlich macht, wie es zum Beispiel bei "E-Mail- oder SMS-Brücken"
(ausführlich für entsprechende Konzepte siehe Bauer/Kordy 2008) der
Fall ist. Bei gesonderter Genehmigung sind auch Modellprojekte
möglich, in denen die psychotherapeutische Behandlung ausschließlich
unter Einsatz der neuen Medien erfolgt.
Onlineberatung
Die Onlineberatung hat in Deutschland die Pionierphase überwunden und
erfährt eine zunehmende Institutionalisierung. So vereint zum Beispiel
'das-beratungsnetz.de' als Plattform inzwischen über 300 psychosoziale
Einrichtungen unter einer einheitlichen Benutzeroberfläche, die für
unterschiedliche Probleme und Störungen internetbasierte
Beratungsdienste anbieten. Die Onlineberatung lässt sich
beispielsweise hinsichtlich verschiedener Dimensionen beschreiben und
unterscheiden (z.B. Ausbildung der Helfer, Kommerzialisierungsgrad,
genutzter Netzdienst, therapeutische Richtung und Fundierung, Grad der
Seriosität und Professionalität, webbasierte Programme ohne
therapeutischen Kontakt versus Interaktionen mit einem professionellen
Helfer).
Möglichkeiten und Grenzen
Therapeutische Internetangebote bieten gegenüber herkömmlichen
Face-to-Face-Angeboten eine Reihe von Vorteilen wie z.B. das
Ansprechen von Zielgruppen, die herkömmliche Versorgungsangebote
gegebenenfalls nicht in Anspruch nehmen würden, oder das Absenken von
Scham- und Hemmschwellen durch die typischen Merkmale des Internets
wie Anonymität und die Möglichkeit, sich schriftlich mitzuteilen.
Gleichzeitig sind entsprechenden Angeboten aber auch Grenzen gesteckt,
z.B. hinsichtlich der Wirksamkeit bei schwereren psychischen oder
psychiatrischen Erkrankungen (ausführlich siehe Eichenberg unter
Mitarbeit von Deis, 2011).
"Positiv: Hochbrisante und prekäre Themen werden im Vergleich zum Face-to-Face-Setting schneller angesprochen"
Ebenso müssen im therapeutischen Onlinesetting die Auswirkungen der
computervermittelten Kommunikation auf die therapeutische Beziehung
und den Prozess vom Onlineberater reflektiert werden, um ein
tragfähiges und hilfreiches Arbeitsbündnis herstellen zu können. Erste
Befunde zeigen, dass Ratsuchende im Onlinesetting dem
Face-to-Face-Setting vergleichbare Beziehungen zum Therapeuten erleben
(Cook/Doyle 2002; Knaevelsrud/Maercker 2006). Dennoch bestehen
Unterschiede. So ist der so genannte Disinhibition Effect (z.B. Suler
2004) bekannt, der ungünstigenfalls dazu führt, dass der Berater im
Onlinesetting eher mit aggressiven Impulsen oder sehr salopper Sprache
konfrontiert wird. Aber auch die positive Seite dieses Effekts kann
genutzt werden: Hochbrisante und prekäre Themen werden im Vergleich
zum Face-to-Face-Setting schneller angesprochen bzw. können manchmal
überhaupt nur im virtuellen Raum ausgesprochen werden (z.B. von
traumatisierten Menschen, vgl. Bollinger 2004, Eichenberg/Malberg
2011). Mit den psychologischen Aspekten der computervermittelten
Kommunikation vertraut zu sein bildet die Basis, um mit den
Besonderheiten im Onlinesetting konstruktiv und sicher umgehen zu
können (für spezifisches Hintergrundwissen siehe Döring 2003).
Onlinediagnostik
Dass eine valide klinische Diagnosestellung nicht allein auf Tests
beruhen kann, sondern für die Urteilsbildung ein Gespräch
Voraussetzung ist, ist konsensuell. Vor allem in den USA wurden
Studien durchgeführt, um zu erproben, ob die Diagnosen, die via
Videokonferenzen gestellt wurden, genauso valide sind wie die im
traditionellen Setting. Hyler et al. (2005) analysierten die aktuelle
Forschungslage und konnten auf der Basis einer Literaturrecherche in
Fachdatenbanken 380 Studien zum Thema identifizieren. Vierzehn der
Studien mit N > 10 verglichen das telepsychiatrische mit den
herkömmlichen Settings unter Verwendung von objektiven Beurteilungs-
oder Zufriedenheitsinstrumenten. Als zentraler Befund ergab sich, dass
auf der Grundlage der objektiven Beurteilungsinstrumente keine
Unterschiede in der telepsychiatrischen und traditionellen
Diagnosestellung bestehen. Ebenso zeigten sich keine statistisch
signifikanten Unterschiede in der Patientenzufriedenheit in
Abhängigkeit vom Setting. Allerdings konnten die Autoren Vorbehalte
bei Psychiatern und Patienten hinsichtlich der telepsychiatrischen
Diagnosestellung als Routinemaßnahme herausarbeiten. Auch wenn weitere
Pilotstudien zur Anwendung der Telepsychiatrie in zum Beispiel
Konsiliaren existieren (siehe z.B. Szecsey/Koch/Klein [2004] für
konsiliarische Dienste in der Gerontopsychiatrie), so fehlt bislang
eine fundierte empirische Basis zur Einschätzung der Effekte von
Videokonferenzen in der psychiatrischen Behandlung. Vereinzelt liegen
vergleichende Studien bezüglich unterschiedlicher Settings vor (z.B.
für Depression siehe Ruskin et al. 2004). Auf der bisherigen
Datengrundlage lässt sich festhalten, dass die telepsychiatrische
Diagnosestellung als sinnvolle Alternative dient, wenn sich das
traditionelle Setting nicht herstellen lässt (z.B. kein
Kinderpsychiater vor Ort) bzw. bestimmte Patientengruppen nicht anders
erreicht werden können.
E-Mail-Konsultation in laufenden Behandlungen
Insgesamt bietet das Internet günstige Strukturen für die Erweiterung
und Ergänzung herkömmlicher Versorgungsstrukturen. Die Wirksamkeit
psychologischer Onlineberatung und WWW-basierter kognitivbehavioral
fundierter Unterstützungsprogramme ist inzwischen belegt
(Eichenberg/Ott 2011). Ebenso zu denken ist auch an die Option,
E-Mail-Konsultationen in laufende Behandlungen einzubinden. Zum einen
bei organisatorischen Abläufen: E-Mail-Konsultation kann Praxisabläufe
vereinfachen. Terminvergaben oder andere Absprachen per E-Mail können
auch außerhalb der Praxisöffnungszeiten getroffen werden und sind
zudem immer gut dokumentiert. Zum anderen kann Onlinekommunikation
aber auch therapeutisch eingesetzt werden (ausführlich zu den Chancen,
aber auch Gefahren begleiteter Onlinekonsultationen siehe
Eichenberg/Malberg, in Druck). Insgesamt liegt ein besonderes Risiko
für Behandler in der Menge sie erreichender E-Mails von Patienten.
Unerlässlich ist demnach in jeder Behandlung die Rahmenbedingungen des
ergänzenden Onlinekontakts im Sinne eines "E-Mail-Kodex" zu
besprechen; einerseits um bei den Patienten keine falschen Erwartungen
ständiger Erreichbarkeit zu wecken, andererseits um der eigenen
Überlastung präventiv gegenzusteuern. Gleichzeitig ist noch nicht
systematisch untersucht worden, welche Auswirkungen die
E-Mail-Korrespondenz auf das therapeutische Arbeitsbündnis hat.
Wissenschaftliche Untersuchungen zu den Effekten einer parallel
laufenden Unterstützung per E-Mail liegen vorwiegend aus dem Bereich
der Nachsorge und Rückfallprävention vor (z.B. Wolf et al. 2006).
Inzwischen berichten aber auch Psychotherapeuten in Fallvignetten von
ihren Erfahrungen (z.B. Mück 2011, Kächele 2008).
Bereitschaft zur Einbindung moderner Medien in Psychotherapie
und Psychiatrie
Während sich bei Befragungen von Ärzten im Allgemeinen eher ein
Widerstand gegenüber E-Mail-Kommunikation mit Patienten zeigte
(Masters 2008), scheinen Psychotherapeuten und Psychiater der
Integration moderner Kommunikationsmedien gegenüber offener
eingestellt zu sein. So berichteten in einer Studie von Eichenberg und
Kienzle (2011) fast alle befragten niedergelassenen Psychotherapeuten
(92,3% von N = 234), ihren Patienten die Möglichkeit zur Kommunikation
per E-Mail anzubieten. Von diesen Therapeuten gaben 94% an, dass es
bereits zu einem E-Mail-Austausch zwischen ihnen und ihrem Patienten
gekommen sei, wobei dieser von den Therapeuten mehrheitlich als
überwiegend positiv erlebt wurde. Dabei wurde die internetbasierte
Kommunikation, die der Absprache formaler Angelegenheiten dient, etwas
positiver bewertet als E-Mails mit behandlungsrelevanten Inhalten.
Auch in der stationären Psychotherapie und Psychiatrie hat sich
der Einsatz verschiedener Medien als Ergänzung zu konventionellen
Interventionsmethoden in einer Reihe von Studien als nützlich und
effektiv erwiesen (zur Übersicht siehe Eichenberg 2007). In einer
aktuellen Studie wurden die Verbreitung von Medien in der stationären
Behandlung sowie die Bewertung medienunterstützter Interventionen auf
Therapeuten- und Patientenseite erfasst. In einer repräsentativen
Befragung an allen psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken in
Nordrhein-Westfalen (Rücklauf 40 Psychologen/Ärzte und 289 Patienten
aus 39 Kliniken) wurden anhand von selbst konstruierten Fragebögen die
Medienausstattung, der Medieneinsatz in verschiedenen
Anwendungsbereichen, dessen Bewertung und die Zufriedenheit mit dem
Einsatz von Medien erfasst. Als Ergebnis zeigte sich, dass eine breite
Anwendung und Akzeptanz von Medien erst in einigen Bereichen vorliegt.
Vor allem schriftliche Materialien und Tonträger werden in Selbsthilfe
und Psychoedukation eingesetzt und der Computer für diagnostische
Zwecke verwendet. Das Potenzial des Einsatzes von modernen Medien wird
- trotz positiver Effektivitätsstudien oder mindestens überzeugenden
Pilotprojekten - kaum genutzt. Die Studie identifizierte zudem große
Ausstattungs- und Nutzungsunterschiede zwischen den einzelnen Medien,
Anwendungsfeldern und Kliniken.
C. Beziehungsänderung
Die Internetnutzung im klinischen Kontext hat Einflüsse und Effekte auf zweierlei Arten von Beziehung: die therapeutische Beziehung zwischen Professionellen und Betroffenen (vgl. Ball/Lillis 2001) im Speziellen und zwischenmenschliche Beziehungen im Allgemeinen. So verlieben sich beispielsweise immer mehr Menschen online; die damit verbundenen Probleme werden zunehmend auch in psychotherapeutischen Praxen thematisiert (Eichenberg 2010).
Im Rahmen der therapeutischen Beziehung wird neben der Etablierung
grundsätzlich neuer Kontaktformen durch medienvermittelte
Kommunikation (z.B. E-Mail-Kontakt zwischen den regulären Sitzungen)
auch das klassische Face-to-Face-Setting beeinflusst (z.B. auch
indirekt durch die Möglichkeit des Patienten, während einer laufenden
Behandlung parallel noch eine Onlineberatung bei einer dritten Person
in Anspruch zu nehmen).
Therapeuten- und Patientenrecherchen
Ebenso zu berücksichtigen ist das Internet als Mittel, um
Informationen über das Gegenüber zu recherchieren: Immer mehr
Patienten "googeln" ihren Psychotherapeuten, sodass inzwischen
allgemeine Empfehlungen für die Selbstdarstellung von Therapeuten im
Internet existieren (Zur et al. 2009). Gleichzeitig muss aber auch das
komplementäre Phänomen beachtet werden, nämlich die Verlockung, als
Behandler im Internet nach Informationen zu den eigenen Patienten zu
suchen (z.B. auf Web-2.0-Plattformen wie Facebook). Dieses so genannte
Patient-Targeted Googling (PTG) steht ethisch im Spannungsfeld
zwischen Neugier und beruflichem Nutzen (vgl.
Clinton/Silverman/Brendel 2010), sodass bei entsprechender Motivation
immer die Gegenübertragungs-, aber auch Eigenübertragungsgefühle genau
reflektiert werden sollten. In einer aktuellen Untersuchung zum Thema
PTG wurden in einer Onlinestudie N = 207 deutsche Psychotherapeuten zu
ihren diesbezüglichen Einstellungen und Erfahrungen befragt
(Eichenberg/Tump, in Vorbereitung). Es zeigte sich, dass der Großteil
(84,5%) der befragten Therapeuten sich noch nie mit dem Problemkomplex
des Patient-Targeted Googling beschäftigt hatte; lediglich 2,4% hatten
in ihrer Ausbildung oder einer Fortbildung davon gehört. Besonders vor
diesem Hintergrund überrascht das Ergebnis, dass bereits 39,6%
angaben, online nach Patienteninformationen gesucht zu haben - 75,6%
ohne Erlaubnis oder Wissen ihrer Patienten. Die Motive für die
Recherche waren sehr heterogen.
D. Klinisch relevante Effekte der Internetnutzung
Die Effekte, die die Nutzung von Medien auf das menschliche Verhalten und Erleben hat, wurden für alle etablierten Medientypen Gegenstand der Forschung. Die Medienwirkungsforschung fokussierte dabei insbesondere in ihren Anfängen negative Auswirkungen. Während sich die wissenschaftliche Perspektive hier ausdifferenziert hat, wird in der Öffentlichkeit nach wie vor häufig auf Negativeffekte hingewiesen, die in ihrer Verbreitung und Intensität oftmals überschätzt werden. In Bezug auf das Internet sind so in Schlagzeilen alarmierende Stimmen zu hören wie "Amerikaner lieben Internet mehr als Sex"(2), oder es wird eine weltweite, internetbedingte Epidemie der Schüchternheit befürchtet(3).
Somit ist auch eine Aufgabe der klinischen Praxis wie Forschung, sich
mit den Effekten und Rückwirkungen der Internetnutzung zu
beschäftigen. Exemplarische Themenfelder und Fragestellungen sind zum
Beispiel exzessive Nutzungsweisen und die Partizipation an bestimmten
selbsthilfeorientierten Communitys.
Exzessive Nutzungsweisen ("pathologische Internetnutzung")
Hat die "Internetsucht" als eigene klinische Entität Bestand? Wie ist
der Verbreitungsgrad der "pathologischen Internetnutzung" auf der
Basis der vorliegenden Prävalenzstudien im Allgemeinen und wie im
Zusammenhang mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen und anderen
psychischen Störungen im Speziellen einzuschätzen?
Aktueller Stand der Forschung ist, dass die "Internetsucht" in den bekannten Diagnosesystemen (ICD-10, DSM-IV) bislang keine eigenständige klinische Entität ist; die Aufnahme wird aber derzeit geprüft.(4)
"Insgesamt wird das Potenzial des Internets zur Selbsthilfe bei verschiedenen Störungen und Problembereichen positiv eingeschätzt"
Insgesamt schwanken die ermittelten Prävalenzraten je nach zugrunde
gelegter Definition und Kriterien stark (1,5 bis 8,2%, vgl. Petersen
et al. 2009). Die Internetsucht weist eine hohe Komorbidität mit
anderen psychischen Störungen auf (z.B. andere Suchterkrankungen,
affektive Störungen, Angsterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen
sowie Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen im
Erwachsenenalter). Da die existierenden Studien jedoch ausschließlich
Querschnittsuntersuchungen sind, kann über die kausalen Zusammenhänge
zwischen Internetsucht und begleitenden psychischen Erkrankungen keine
Aussage getroffen werden, d.h., pathologische Internetnutzung könnte
sowohl Ursache als auch Folge einer weiteren psychischen Störung sein.
Inzwischen existieren umfassende spezialisierte Behandlungskonzepte
für die ambulante wie stationäre Behandlung der Internetsucht (z.B.
Wölfling et al. 2011).
"Extreme communities"
Insgesamt wird das Potenzial des Internets zur Selbsthilfe bei
verschiedenen Störungen und Problembereichen positiv eingeschätzt und
entsprechende Evaluationsstudien belegen günstige Effekte (z.B. van
Uden-Kraan et al. 2008). So zeigte sich beispielsweise, dass
Online-Selbsthilfegruppen Jugendliche, die Eltern werden, große
Unterstützung bringen (Valaitis/Sword 2005) ebenso wie Betroffenen von
Depression (Griffiths et al. 2009) und bestimmten Angststörungen wie
z.B. Oralophobie (Coulson/Buchanan 2008). In diesem Kontext werden
auch zunehmend so genannte "extreme communities" diskutiert, womit
Onlinegruppen gemeint sind, in denen Betroffene zu sehr prekären
Themen und Problemen ohne Beteiligung von Fachleuten, die bei
kritischen Inhalten moderierend eingreifen können, miteinander
kommunizieren. Hierunter fallen zum Beispiel "Suizidforen",
"Saufforen", "Ritzerseiten" oder die so genannte Pro-Ana-Bewegung,
spezifisch ausgerichtete Onlineplattformen von und für Essgestörte.
"Immer mehr Patienten googeln ihren Psychotherapeuten"
Alarmierend wird vor allem in Medienberichten auf die Gefahren hingewiesen, die mit der Nutzung dieser "communities" einhergehen. Doch welche klinisch relevanten Auswirkungen lassen sich auf der Grundlage empirischer Evidenzen feststellen?
Zur Beantwortung dieser Frage wurde eine Serie von Online-Befragungsstudien in verschiedenen deutschsprachigen Foren durchgeführt (Suizid-Forum, Eichenberg 2008; Pro-Ana-Foren, Eichenberg/Flümann/Hensges 2011; SVV[Selbstverletzendes Verhalten]-Foren, Eichenberg 2009). Die Stichproben setzten sich aus überwiegend adoleszenten Teilnehmern zusammen, die psychisch stark belastet sind, eine chronische Symptomatik aufweisen und die entsprechenden Foren seit einigen Jahren intensiv nutzen. Etwa die Hälfte der Studienteilnehmer hatte Psychotherapieerfahrung, wobei überwiegend angegeben wurde, dass die Forennutzung die Motivation zur Inanspruchnahme professioneller Hilfe erhöht habe. Die Motive zur Partizipation an den Foren war sehr unterschiedlich: Es überwog die Suche nach emotionaler Unterstützung und sozialen Kontakten, aber der Wunsch nach zum Beispiel destruktiven Tipps zur weiteren Gewichtsreduktion oder nach Methoden zur Selbstverletzung waren bei einigen Usern ebenso identifizierbar. Insgesamt zeigte sich, dass die Nutzer entsprechender Poren keine homogene Gruppe sind, sondern die Teilnahme auf der Grundlage unterschiedlichster Motivkonstellationen erfolgt, wobei der Anteil konstruktiver Nutzer bei allen drei Stichproben deutlich überwog. Entsprechend ist auch von differenziellen Effekten der Nutzung auszugehen.
Aufgrund der unterschiedlichen Ausrichtung der Foren ist es notwendig,
dass zum Beispiel Einrichtungen des Jugendschutzes, aber auch
Erziehungspersonen, Sozialpädagogen, Psychologen und Psychiater
Kriterien zur Verfügung haben, die erlauben, einzelne Selbsthilfeforen
hinsichtlich ihrer Nützlichkeit bzw. Schädlichkeit zu beurteilen.
Exemplarisch für Selbsthilfeseiten zu Essstörungen sei auf die
Leitlinien von Eichenberg und Brähler (2007) hingewiesen.
Ausblick
Es ist davon auszugehen, dass von psychischen Problemen Betroffene in Zukunft verstärkt auf die Einbindung moderner Medien in das Versorgungsangebot Wert legen. Auf Patientenseite haben erste Studien dieses Interesse belegt, das über die Nutzung von gesundheitsrelevanten Informationen im Internet hinausreicht. Internet und SMS in der stationären Nachsorge (vgl. zur Übersicht Moessner et al. 2008) oder die Bereitschaft, im Bedarfsfall Onlineberatung in Anspruch zu nehmen (vgl. Eichenberg/Blokus/Brähler 2010) sind vorhanden. In Pilotprojekten wird ebenso das therapeutische Potenzial verschiedener Mobilmedien (Döring/Eichenberg, in Druck) und Virtual-Reality-Anwendungen (Eichenberg 2011) untersucht.
Insgesamt sollten alle in der Versorgung von psychisch Kranken Tätigen über die Entwicklungen neuer Medien informiert sein, um nicht nur die vorhandenen salutogenen Potenziale zu nutzen, sondern auch, um mögliche dysfunktionale Mediennutzung ihrer Patienten diagnostizieren und entsprechend in die Behandlung einschließen zu können.
Ebenso sollten auch internationale Projekte im Auge behalten werden.
In der Telepsychiatrie zeigen sich internationale
Entwicklungen, die im deutschsprachigen Raum bislang kaum erprobt oder
etwa breiter umgesetzt wurden wie z.B. konsularische Dienste,
Patientenvermittlung, Diagnostik, Supervision und die
Ausbildung von Ärzten und Psychologen via Videokonferenz. In
Zukunft gilt es, diese neuen Möglichkeiten der klinischen
Telepsychologie und -psychiatrie - als Ergänzung und Erweiterung der
herkömmlichen Versorgungsstrukturen - angepasst an das deutsche
Gesundheitssystem wissenschaftlich und praktisch weiterzuentwickeln,
zu evaluieren und bei positiven Evaluationsergebnissen dann auch zu
veralltäglichen.
PD Dr. Christiane Eichenberg, Diplom-Psychologin, Department
Psychologie - Klinische Psychologie und Psychotherapie -, Universität
zu Köln.
Kontakt: E-Mail: eichenberg@uni-koeln.de
Internet: www.christianeeichenberg.de
Literatur bei der Verfasserin und/oder unter
www.psychiatrie.de/dgsp
Anmerkungen:
(1) www.interapy.nl
(2) www.bild.de/BILD/digital/technikwelt/2007/09/studie-internetsucht/amerikaner-freundschaften.html
(3) www.dailytelegraph.com.au/lifestyle/ipod-or-shy-pod/story-e6frfooi-1111114318189
(4) Vgl. auch http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/133/1613382.pdf
*
Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 135 - Heft 1, Januar 2012, Seite 9 - 13
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der
Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
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Internet: www.psychiatrie.de/dgsp
Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
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Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten
veröffentlicht im Schattenblick zum 9. März 2012
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