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ARTIKEL/662: Ambulant betreutes Wohnen - Psychiatrische »Eltern«? Nein danke (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 161 - Heft 03/18, 2018
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Psychiatrische »Eltern«? - Nein, danke!
Beziehungen gestalten und dabei professionell bleiben

Von Sabrina Hancken


Dass es im psychiatrischen Kontext im Besonderen auf die Zusammenarbeit zwischen professionell Handelnden und den Adressatinnen und Adressaten ankommt, ist weitgehend bekannt! Doch was macht eigentlich eine gute Beziehung aus? Und über welche Kompetenzen sollte eine psychosozial helfende Person verfügen? Am Beispiel des Ambulant betreuten Wohnens werden diese Fragen näher beleuchtet.

Seit der Psychiatrie-Enquete im Jahr 1975 wird die Kontinuität in professionellen Beziehungen als fachlicher Standard und Qualitätskriterium gefordert. Ob zu Fachärztin oder Facharzt, zu gesetzlichem Betreuer oder zu Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in stationären, teilstationären und ambulanten Hilfeformen, die Bedeutsamkeit einer stabilen Beziehung rückt wiederkehrend in den Vordergrund von Diskussionen. In diesem Kontext zeichnen sich in den letzten Jahren zwei kontroverse Tendenzen ab: Zum einen besteht - vor allem in Kliniken - die Gefahr des Schwindens von Beziehungen. Nach wie vor stellt beispielsweise der Übergang von der Klinik in den ambulanten Bereich eine Bruchstelle im Hilfesystem mit der Folge wechselnder Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner dar. Zum anderen zeigen sich zunehmend bindende und Abhängigkeit schaffende Beziehungen (»Ich weiß, was richtig für dich ist, wir kennen uns ja schon lange«). In diesem Kontext müssen sich psychiatrieerfahrene Menschen immer wieder zwischen Autonomie und Bindung zurechtfinden.

Professionell Beziehungen gestalten

Für eine professionelle Beziehungsgestaltung wird seitens der psychosozialen Helferinnen und Helfer nicht nur ein »gutes Fingerspitzen- oder Bauchgefühl« benötigt oder darauf geachtet, dass die Chemie zwischen den beiden Parteien oder ihren »Persönlichkeiten« stimmt, sondern vielmehr geht es darum, den fachlichen Anforderungen nachzukommen: Beziehungen nämlich so zu gestalten, dass sie empathisch, tragfähig, vertrauens- und verantwortungsvoll sowie verlässlich sind. Dieses schließt natürlich auch ein, Arbeitsbündnisse wieder zu verlassen, wenn sie nicht mehr notwendig erscheinen oder nur in geringerer Intensität gebraucht werden.

Ambulant betreutes Wohnen - ein Beziehungsangebot?!

Das Ambulant betreute Wohnen gilt landläufig als das klassische Arbeitsfeld für Beziehungsarbeit und ist damit größtenteils Handlungsfeld von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern. Hierbei handelt es sich um ein langfristig konzipiertes und verbindlich vereinbartes ambulantes Dienstleistungsangebot, das sich auf Hilfestellungen beim Leben in der eigenen Wohnung bezieht. Im Vordergrund steht Freiwilligkeit. Die Betreuung findet in der Regel durch feste Bezugsbetreuerinnen und -betreuer in Form von Hausbesuchen statt. Das heißt, die Nutzer leben in ihren eigenen angemieteten Wohnungen. Durch die Orientierung am Normalisierungsprinzip ist das Ziel dieser Hilfe die Ermöglichung eines gut gelingenden Alltags. Bevor professionelle Hilfe zum Einsatz kommt, wird geprüft, welche nichtprofessionellen Hilfen in der Lebenswelt bestehen und in Anspruch genommen werden können. Fragt man psychiatrieerfahrene Menschen, wie sie diese Art von Hilfe wahrnehmen, finden sich Umschreibungen wie Lebensbegleitung, Unterstützung in allen Lebensbereichen, individuelle Hilfe und persönliche Assistenz.

Gratwanderung

Sichtbar wird der enge Bezug zur Lebenswelt der psychiatrieerfahrenen Menschen. Professionelle Helferinnen und Helfer dringen tief in die Privatsphäre der betreffenden Personen ein. Umso überraschender ist es, dass zwar viel über Stabilität und Kontinuität in professionellen Beziehungen diskutiert wird, es aber nur eine begrenzte Reflexion darüber gibt, was zu einem gelingenden Arbeitsbündnis beiträgt. Denn hierbei sollte es sich weniger um ein Zufallsprodukt handeln als vielmehr um das Ergebnis der fachlichen Fähig- und Fertigkeiten der psychosozial Helfenden. Dabei ist eine professionelle Beziehung klar von einer persönlichen Beziehung abzugrenzen. Es handelt sich nämlich nicht um ein kompensatorisches Angebot von Freundinnen oder Bekannten, sondern um ein professionelles Arbeitsbündnis.

Studie liefert erste Hinweise

Eine erste Annäherung an dieses Thema findet sich in Interviews, die ich im Rahmen meiner Dissertation geführt habe. Ziel der Studie war es, Einblicke in die Lebenssituation und die Krankheitsbewältigung von chronisch psychisch erkrankten Menschen im Ambulant betreuten Wohnen zu erhalten. Darauf aufbauend wurden Empfehlungen für professionell Helfende entwickelt, wie sie psychiatrieerfahrene Menschen dahingehend befähigen können, besser und zunehmend selbstbestimmter mit ihrer Erkrankung umzugehen. Insgesamt wurden 16 Interviews mit psychiatrieerfahrenen Menschen, Sozialarbeitern, Psychiatern sowie Angehörigen geführt.

Dass die Beziehungsgestaltung den Ausgangspunkt für das Ambulant betreute Wohnen bildet, wird durch die folgende Aussage der jungen Sozialarbeiterin Karin P., 28 Jahre, deutlich:

»Erfolg ist, einmal hereingelassen werden, Kontakt haben, einen wirklichen Kontakt zu haben - das, finde ich, ist Erfolg. Erfolge sind natürlich auch Veränderungen und auch Schritte in Richtung vereinbarter Ziele. Für viele ist Erfolg Erhaltung des Status quo. Ja, für mich ist auch Erfolg, wenn man einmal zusammen gelacht hat, wenn ich da gewesen bin. Also auch so Lebendigkeit fühlen, auf alle Fälle.«

Hier zeigt sich deutlich, dass der Beziehungsaspekt im Mittelpunkt des Handelns steht. Hubert K., ein 63-jähriger Sozialarbeiter, der seit über fünfzehn Jahren bei einem freien Träger beschäftigt ist, bestätigt, dass zunächst die elementaren Bedürfnisse befriedigt sein müssen, bevor es überhaupt an die eigentliche Beziehungsgestaltung geht: »Oft geschieht ja eine Aufnahme auch in einer Hilfesituation, wo Menschen vielleicht eine Wohnung suchen, wo auch wirklich ein sehr akuter Hilfebedarf besteht. Und Geldknappheit, Verschuldung, irgendwie halt oft eine Notsituation, und da wird das Hilfegeschehen oder das, was zu erbringen ist, erstmal auch durch die Notwendigkeiten diktiert. Und dann kann man sich vielleicht auch mal Bereichen zuwenden, die dann den Klienten auch ein Stück weit durch eine persönliche Begegnung in den Vordergrund stellt oder so etwas.«

Daraus lässt sich eine Hierarchie in der Aufgabenstellung ableiten. Zunächst gilt es, die Grundbedürfnisse im Hinblick auf Nahrung, Wohnraum, finanzielles Auskommen usw. zu stillen, also eine Art Erste Hilfe zu leisten. Daran anknüpfend geht es dann um den eigentlichen Beziehungsaufbau. Für die Gestaltung des Arbeitsbündnisses sind nach Alexander M. (31 Jahre alt, seit 11 Jahren psychisch erkrankt und drogenabhängig, Nutzer des Ambulant betreuten Wohnens) vor allem soziale Kompetenzen in Form von Zuhören, Empathie und Animation wichtig.

»Na ja, dass er mir einfach zuhört, ich mit dem über alles sprechen kann, dass er mir zuhört, dass ich Hilfe erwarte. Ja, oder dass er auch ein bisschen mehr auf mich eingeht. Auch wenn es nur anderthalb Stunden sind. Ich möchte, dass er mich unterhält, ich mit ihm über alles sprechen kann.«

Ebenfalls möchte Alexander M., dass kein freundschaftliches Verhältnis zu seinem ambulanten Betreuer besteht. Vielmehr bedeutet ihm die Wahrung und das Respektieren seiner Privatsphäre viel. So gibt Alexander M. auf die Frage nach der Motivation bei seiner Freizeitgestaltung durch seinen psychosozialen Helfer Folgendes zu bedenken:

»Ja, aber wenn ich mit meinem Betreuer gehe, dann würde ich ja mit meinem psychiatrischen Papa gehen (lacht): Wissen Sie, wie ich das meine? [...] Ich käme mir blöd vor. Dann würde ich doch lieber mit meinen Freunden dahin gehen, in die Disco oder so. Also, ich bin so weit eigentlich selbstständig, dass ich eigentlich mein Leben so weit geregelt kriege, rein theoretisch.«

In der Redewendung »psychiatrischer Papa« offenbart sich der Wunsch nach Abgrenzung. Für seinen ambulanten Betreuer besteht dabei die Herausforderung, die »richtige« Balance von Nähe und Distanz zu schaffen.

Auf den Punkt gebracht

Welche Schlüsse lassen sich aus den bisherigen Ergebnissen der Studie für die professionelle Beziehungsarbeit ziehen? Während der Gespräche zeigte sich immer wieder, dass das A und O für einen erfolgreichen Hilfeverlauf die Beziehung zwischen professionell Helfenden und psychiatrieerfahrenen Personen ist. Deshalb ist überraschend, dass entsprechende Handlungskonzepte in der sozialen Arbeit fehlen, obwohl vor allem psychologische Erkenntnisse gezeigt haben, dass die Beziehungsarbeit im psychotherapeutischen Bereich als zentraler Wirkfaktor für den Erfolg der Therapie angesehen werden kann. Weil die soziale Arbeit auf einem Person-In-Environment-System fußt, hat sie eine erweiterte Sichtweise auf die Gestaltung professioneller Beziehung und ist angehalten, hierfür u.a. psychologische und bindungstheoretische Ergebnisse sowie pädagogische und soziologische Konzepte nutzbar zu machen.

Gleicht man die Studienergebnisse mit der aktuellen Literatur ab, zeigt sich folgendes Bild: Voraussetzung für den Aufbau und die Ausgestaltung einer professionellen Beziehung ist zunächst, dass zeitliche, institutionelle und ökonomische Freiräume existieren. Beziehungen wiederum bauen auf Kommunikation und Interaktion auf. Weil jede Nachricht, Botschaft oder Mitteilung einen Inhalts- und Beziehungsaspekt enthält, erscheint die Trennung in Beziehungsarbeit und methodisches Handeln nicht sinnvoll. Deshalb wird Beziehungsarbeit als untrennbarer Bestandteil der Methodik verstanden - und ist dementsprechend erlernbar. Für eine langfristig wirksame Beziehungsgestaltung zu psychisch erkrankten Menschen ist der Aufbau von Vertrauen wesentlich. Gelingt dies nicht, ist eine konstruktive Zusammenarbeit erschwert. Vertrauen zeigt sich als soziale Einstellung mit der Annahme, dass Entwicklungen einen positiven oder erwarteten Verlauf nehmen. Neben Vertrauen und kommunikativen Kompetenzen kommt der Balance von Nähe und Distanz im Rahmen der Beziehungsarbeit eine zentrale Funktion zu. Denn psychosozial Helfende agieren meistens in der Lebenswelt der betreffenden Personen und tauchen so in sehr persönliche Bereiche ein. Ebenfalls stellt sich ihnen die Herausforderung, eine formale Berufsrolle auszufüllen und sich gleichzeitig als ganze Person auf persönliche, emotional geprägte und nur begrenzt steuerbare Beziehungen einzulassen.

Und nun?

Es ist deshalb nachvollziehbar, dass eine gelungene Beziehung zwischen dem professionell Helfenden und der psychiatrieerfahrenen Person kein Zufallsprodukt ist, sondern größtenteils das Ergebnis der fachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten des Sozialarbeitenden. Psychosoziale Helferinnen und Helfer können eine gute Beziehung nicht erzwingen, sie sind aber angehalten, dazu beizutragen. Hierfür gibt es Methoden und Techniken, die gezielt eingesetzt und reflektiert werden können. Voraussetzung dafür ist wiederum, dass Beziehungsarbeit als Methode in Ausbildungs- und Lehrpläne aufgenommen wird und praxisnahe Weiterbildungen sich mit dieser Thematik beschäftigen. Dabei geht es weniger um die Vermittlung von Inhalten als vielmehr darum, in Selbsterfahrungs- und Reflexionsprozessen Aneignungsräume zu schaffen. Die Auseinandersetzung mit Erlebnis- und Erfahrungsbeispielen, Filmausschnitten, persönlichen Begegnungen, Rollenspielen und auch Fallbesprechungen können dem aktiven Ausprobieren und der vertieften Reflexion dienen und somit zu einer langfristigen wirksamen Beziehung beitragen.


Prof. Dr. phil. Sabrina Hancken,
Dipl.-Sozialarbeiterin, Sozialtherapeutin; Hochschule Merseburg, Fachbereich Soziale Arbeit, Medien, Kultur; Arbeitsschwerpunkte: Sozialpsychiatrie und Sozialarbeitswissenschaften


Literatur

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ASENDORPF, JENS; BANSE, RAINER (2000) Psychologie der Beziehung. Bern: Verlag Hans Huber

DÖRR, MARGRET; MÜLLER, BURKHARD (2012) Einleitung - Nähe und Distanz als Strukturen der Professionalität pädagogischer Arbeitsfelder. In: DÖRR, MAGRET; MÜLLER, BURKHARD (Hrsg.) Nähe und Distanz - Ein Spannungsfeld pädagogischer Professionalität. 3. Aufl. Weinheim, Basel: Beltz Juventa, S. 7-31

GAHLEITNER, SILKE BRIGITTA (2017) Soziale Arbeit als Beziehungsprofession - Bindung, Beziehung und Einbettung professionell ermöglichen. Weinheim, Basel: Beltz Juventa

HERWIG-LEMPP, JOHANNES (2002) Beziehungsarbeit ist lernbar. Systemische Ansätze in der Sozialpädagogischen Familienhilfe. In: ULRICH PFEIFER-SCHAUPP (Hrsg.) Systemische Praxis. Modelle - Konzepte - Perspektiven. Freiburg: Lambertus, S. 39-62

KEUPP, HEINER (2003) Identitätskonstruktion.
www.ipp-muenchen.de/texte/identitaetskonstruktion.pdf (letzter Zugriff: 30. April 2018)

KRAFELD, FRANZ (2004) Grundlagen und Methoden aufsuchender Jugendarbeit. Wiesbaden: Springer

SCHWEER, MARTIN (2004) Vertrauen und soziale Unterstützung in der pädagogischen Beziehung. In: Bildung und Erziehung, Bd. 57, Heft 3, 279-288

WATZLAWICK, PAUL; BEAVIN, JANET H.; JACKSON, DON D. (1969) Menschliche Kommunikation. Bern, Stuttgart, Wien: Verlag Hans Huber

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 161 - Heft 3/18, Juli 2018, Seite 4 - 6
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. April 2019

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