Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → PHARMA

FORSCHUNG/645: Antibiotika aus der "anorganischen Molekülküche" (RUBIN)


RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Frühjahr 2011
Ruhr-Universität Bochum

Antibiotika aus der "anorganischen Molekülküche"
Chemiker setzen auf Metallverbindungen bei der Suche nach neuen Wirkstoffen gegen multiresistente Krankheitserreger

Von Nils Metzler-Nolte


Kommt ein neues Antibiotikum auf den Markt, lassen dagegen resistente Bakterien nicht lange auf sich warten. Ein Wettlauf, der sich zunehmend beschleunigt: Antibiotika-Resistenz ist mittlerweile ein weltweites Problem. Dem ist mit der antibiotischen Wirkung einer neuen Substanz allein kaum mehr Herr zu werden, neue Wirkmechanismen sind erforderlich. Sie stehen im Mittelpunkt der Antibiotikaforschung - dabei setzen Bochumer Chemiker jetzt auf Metallverbindungen.


Als der Chemiker Sahachiro Hata am Institut für experimentelle Therapie in Frankfurt a. M. im September 1909 zur Besprechung mit seinem Chef geht, bringt er eine gute Nachricht mit. Nach jahrelangem Suchen und der Synthese hunderter verschiedener chemischer Verbindungen hatte er endlich eine entdeckt, mit der es gelingt, Ratten zu heilen, die zuvor mit einer tödlichen Menge des Syphilis-Erregers Treponema pallidum infiziert wurden. Diese Verbindung mit der laufenden Nummer 606 wird das erste kommerziell verfügbare Antibiotikum der Welt. Der Leiter des Forschungsprojektes, Nobelpreisträger Paul Ehrlich, gilt als Vater der modernen Chemotherapie. Und die Verbindung mit dem Laborcode Ehrlich 606 leitete als SalvarsanTM eine der ganz großen Erfolgsgeschichten der modernen Medizin ein. Antibiotika retteten seither Millionen Menschenleben vor heute banal erscheinenden bakteriellen Erkrankungen wie etwa Wundinfektionen. Salvarsan enthält neben den üblicherweise in Biomolekülen vorkommenden Elementen wie Kohlenstoff, Wasserstoff und Stickstoff auch Arsen - ein Halbmetall, welches als typisch "anorganisch" gilt. Es ist eine schöne Fußnote der Medizingeschichte, dass gerade das erste Erfolgsmolekül der Chemotherapie eine anorganische Verbindung ist. Bis heute gibt es nur eine kleine Handvoll solcher Wirkstoffe, verglichen mit vielen tausend rein organischen Verbindungen.

Die Erfolgsgeschichte der Antibiotika setzte sich fort mit Sulfonamiden, Penicillin und seinen Derivaten (und einem weiteren Nobelpreis für A. Fleming) sowie später mit Tetracyclinen und Chinolonen. Bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts wurden neue Klassen von Antibiotika entdeckt und für den klinischen Einsatz optimiert. In diesen "goldenen Jahrzehnten" der Antibiotikaforschung schien der Schrecken vor bakteriellen Infektionen ein für allemal genommen. Universitäre wie industrielle Forschung widmeten sich anderen, scheinbar lukrativeren Krankheitsbildern wie Diabetes, Alzheimer und Krebs. Doch die Sicherheit war trügerisch, denn Bakterien entwickeln Resistenzen gegen Antibiotika. Seit Mitte der 1990er Jahre nimmt die Zahl der bakteriellen Infektionen durch multiresistente Erreger, sog. superbugs (z. B. MRSA: methicillin resistant Staphylococcus aureus), nicht nur in Krankenhäusern rasant zu. Allein in den USA starben im Jahre 2009 rund 40 000 Menschen an MRSA-Infektionen und damit mehr als durch Verkehrsunfälle.

In dieser Situation helfen nicht allein neue Substanzen mit antibiotischer Wirkung, die Verbindungen müssen möglichst auch neue Wirkmechanismen aufweisen. Nur so lassen sich Resistenzmechanismen in Bakterien umgehen. Die erste Aufgabe - die Synthese von Substanzen mit neuen Molekülstrukturen - wird zweifelsfrei von Chemikern bearbeitet werden müssen. Ob diese dann tatsächlich einen neuen Wirkmechanismus besitzen, muss die biologische Prüfung zeigen. Dieser zweite Schritt erfolgt in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Mikrobiologen und gegebenenfalls Medizinern.

Leider ist die Suche nach solchen Antibiotika alles andere als trivial und erfolgt in der Regel nach dem Prinzip "Versuch-und-Irrtum". Eine kleine Sensation in der Antibiotika-Forschung war daher ein Bericht in der renommierten Zeitschrift Nature im Jahre 2006: Unter tausenden von Substanzen identifizierten Forscher der Firma Merck eine Verbindung mit starker antibiotischer Wirkung, die in der Tat auf einem neuartigen Wirkmechanismus basiert. Isoliert aus dem Bakterium Streptomyces platensis, erhielt die Substanz den Namen Platensimycin. Sie verhindert die Synthese von Fettsäuren in den Bakterien, indem sie das Enzym FabF blockiert (Fab - fatty acid biosynthesis), was die Bakterien letztlich abtötet.

Platensimycin ist ein mittelgroßes organisches Molekül mit einer sehr komplexen Struktur. Der linke Teil des Moleküls - die sog. Westhälfte - besteht aus einem sechsgliedrigen Kohlenstoffring. Dieser flache Teil des Moleküls schiebt sich tief in eine Tasche des FabF-Enyzms. Struktur-Aktivitäts-Untersuchungen haben gezeigt, dass dieser Teil nicht verändert werden darf, ohne die Aktivität des Moleküls zu verlieren. Der rechte Teil des Moleküls, die "Osthälfte", ist flexibler und toleriert auch Veränderungen. Er besteht aus mehreren Ringen, die ein dreidimensionales Gebilde ergeben. Der exakte räumliche Aufbau dieses Molekülteils ist über sechs Kohlenstoffatome, die sog. Stereozentren, genau festgelegt. Wie bei vielen Naturstoffen lässt erst die genaue Kenntnis der räumlichen Anordnung an den Stereozentren Aussagen über deren Aktivität zu. Die korrekte Synthese wird daher durch die Stereozentren zusätzlich erschwert. So gelang zwar einer kalifornischen Arbeitsgruppe bereits 2007 die chemische Totalsynthese von Platensimycin, doch sie erforderte über zwanzig Einzelschritte. Die Gesamtausbeute lag weit unter zehn Prozent, was für eine industrielle Synthese nicht akzeptabel ist.

Genau hier setzen unsere Untersuchungen an mit dem Ziel, die Osthälfte des Platensimycin-Moleküls komplett durch eine völlig andere, einfacher zu synthetisierende, aber in ihrer physiologischen Wirkung vergleichbare Gruppe zu ersetzen. Für uns als anorganische Chemiker kam hierfür nur ein Metallkomplex in Frage. Damit würde sich nicht nur die Synthese erheblich vereinfachen. Durch die besonderen Eigenschaften des Metallatoms, welches ja in der biologischen Umgebung einzigartig ist, ergäben sich darüber hinaus zusätzliche Möglichkeiten zum Studium der Struktur-Wirkungs-Beziehung (structure activity relationship, SAR) solcher Fettsäuresynthese-Inhibitoren. Und, last but not least, erhoffen wir weitere unerwartete, über die Fettsäuresynthese-Hemmung hinausgehende antibakterielle Wirkungen, wenn ein biologisch "fremdes" Metallatom in ein Biomolekül eingefügt wird.

Nach einigen vergeblichen Versuchen mit anderen Metallen gelang uns der erste Erfolg mit der Synthese eines chromhaltigen Metallo-Platensimycinderivates. Die in acht Syntheseschritten hergestellte Verbindung erwies sich als moderat aktiv gegen mehrere Bakterienstämme. Wenngleich sie nicht so aktiv wie Platensimycin selbst war, konnten wir damit Studien zum Wirkmechanismus durchführen. Analog dem Platensimycin wirkt auch unsere Verbindung spezifisch gegen Grampositive Bakterien. Es gelang uns, die Molekülstruktur des Chrom-Platensimycins mit atomarer Auflösung mittels Röntgenbeugung zu bestimmen. Auf der Basis dieser Daten und der publizierten Struktur des FabF-Enzyms erstellten wir im Computer ein Modell, welches die Wechselwirkung des Chrom-Platensimycinderivates mit dem bakteriellen Enzym erklärt. Eine genaue Analyse dieser Strukturdaten zeigt, dass das Chrom-Platensimycin in der Tat wie erhofft mit der "Westhälfte" des Moleküls in die Tasche des FabF-Enzyms binden kann. Allerdings wird durch das Chromatom die Anordnung der Atome in der "Osthälfte" des Moleküls so verändert, dass nicht alle Wechselwirkungen mit dem Enzym in gleicher Weise wie in Platensimycin realisiert werden können, was möglicherweise die verminderte Wirkstärke erklärt.

Eine weitere Analyse der verfügbaren Strukturdaten zeigt jedoch, dass sich im FabF-Enzym noch eine "Tasche" befindet, die nicht von Platensimycin ausgefüllt wird, aber vielleicht für Wechselwirkungen mit einem Enzyminhibitor genutzt werden könnte. Das Metallatom hierfür auf der richtigen Seite des Moleküls zu platzieren, ist eine Herausforderung für die chemische Synthese. Zunächst haben wir geeignete Synthesemethoden erarbeitet; schließlich gelang die Synthese des Zielmoleküls in Form eines Eisen-Platensimycinderivats. Das Ergebnis dieser Synthese mit der "richtigen" Anordnung des Metallatoms zeigt Abb. 8 [der Printausgabe]. Wie erwartet füllt das in der Struktur nach unten zeigende Metallatom die Tasche gut aus und es resultiert ein aktives Molekül. Wenn sich das Metallatom jedoch auf der "falschen" Seite über der Ebene des angrenzenden Rings befindet, dann liegt es auch im Enzym auf der falschen Seite. Weil dort zu wenig Platz ist, verliert diese Verbindung ihre Wirksamkeit.

Die bisherigen Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Metallo-Platensimycin-Derivate in den Bakterien ähnlich wie Platensimycin wirken. Ein direkter Beweis ist jedoch schwierig, da wir den Molekülen auf ihrem Weg in die Bakterien nicht unmittelbar zuschauen können. Da aber Chrom in Bakterien natürlicherweise nicht vorkommt, müssten sich die Moleküle über ihren Metallkomplex spektroskopisch in den Bakterien nachweisen lassen. So haben wir Bakterien der Gattung Bacillus subtilis mit Chrom-Platensimycin-Konzentrationen unterhalb der tödlichen Dosis behandelt, die Bakterien dann gezielt abgetötet und in ihre Bestandteile aufgetrennt: zum Beispiel in Zellmembranen, Zellinneres, lösliche und unlösliche Bestandteile. In den einzelnen Fraktionen bestimmten wir die jeweils vorhandene Menge Chrom mithilfe der Atom-Absorptions-Spektroskopie (AAS) - eine Technik, mit der sich Elemente selbst in Spurenmengen selektiv und quantitativ bestimmen lassen. Das Ergebnis: Die Bakterien hatten erhebliche Mengen an Chrom aufgenommen, jedoch sehr ungleich verteilt in den einzelnen Fraktionen. Das meiste Chrom war in den Zellmembranen nachweisbar. Da sich auch die FabF-Enzyme der Fettsäuresynthese in der Zellmembran befinden, kann dies zumindest als ein weiterer Hinweis auf den Wirkmechanismus angesehen werden.


INFO

Konsortium soll Antibiotika-Entwicklung beschleunigen

Das Land Nordrhein-Westfalen fördert mit dem Projekt "InA - Innovative Antibiotika aus NRW" die Entdeckung und Entwicklung neuer, innovativer Antibiotika im Rahmen des Bio.NRW Wettbewerbs. Das von Prof. J. E. Bandow (RUB) geleitete Konsortium aus vier akademischen Gruppen und zwei mittelständischen Unternehmen wird mit rund 4,3 Mio. Euro für drei Jahre gefördert. Weitere Informationen:
www.rub.de/ina.


Informationen über die Funktion einer Verbindung erhält man aber auch über die Analyse des zellulären Geschehens in den Bakterien unter Behandlung mit dem Antibiotikum. Die Technik der sog. Proteomik umfasst die qualitative und quantitative Analyse aller Proteine, die zu einem gegebenen Zeitpunkt in den Bakterien vorhanden sind. Für unsere Fragestellung besonders interessant ist der Vergleich der Proteom-Daten unter Behandlung mit verschiedenen Antibiotika, darunter Platensimycin und die neuen Metallo-Platensimycinderivate. Diese Arbeiten erfolgten in Kooperation mit der Gruppe von Prof. Dr. Julia Bandow in der Fakultät für Biologie und Biotechnologie der Ruhr-Universität. Ein repräsentatives Ergebnis in Form eines 2D-Gels zeigt Abb. 9 [der Printausgabe]: Hier entspricht jeder Punkt einem Protein. Grüne Punkte zeigen Proteine an, die gegenüber der unbehandelten Probe unter Antibiotikabehandlung vermehrt vorhanden sind, rote Punkte stehen für Proteine, die unter Antibiotikabehandlung weniger oder gar nicht mehr produziert werden. Ein solches 2D-Gel ist somit ein Fingerabdruck der Wirkung des Antibiotikums auf molekularer Ebene. Zum einen hat jedes Antibiotikum seinen eigenen Fingerabdruck, d. h. ein ganz eigenes Rot-grün-Muster in dem 2D-Gel. Antibiotika mit ähnlichem Wirkmechanismus, wie z. B. unterschiedliche Aminoglycoside, haben hingegen sehr ähnliche Fingerabdrücke. Bei den mit Platensimycin und Chrom-Platensimycin behandelten Bakterien der Art B. subtilis ergaben Proteomanalysen jedoch keine Ähnlichkeiten in den 2D-Gelen. Auch keines der anderen Zeiger-Proteine für die Fettsäure-Biosynthese wird bei der Behandlung durch die Chrom-Verbindung als roter Punkt sichtbar. Das Proteinmuster entspricht keinem Muster von bisher untersuchten antibiotischen Substanzen. Dieses Ergebnis ist hochspannend, da sich hinter den Proteinen, die nur unter Chrom-Platensimycin-Behandlung in veränderter Menge produziert werden, bzw. hinter den nur in diesen 2D-Gelen vorkommenden roten oder grünen Punkten, möglicherweise ein neuer, bisher noch unbekannter Wirkmechanismus verbirgt. Um diese Struktur-Wirkungsbeziehungen zu untersuchen, benötigen unsere Partner neue, in ihrer chemischen Struktur leicht veränderte Substanzen. Die Frage nach dem Einfluss des Metalls ist dabei besonders relevant. Darüber hinaus gilt es, die Proteine, die nur bei Behandlung mit den neuen Metallo-Platensimycinderivaten verändert werden, genau zu identifizieren.

Die neuen Metallverbindungen, für die unsere Gruppe den Erfinderpreis der RUB erhielt, wecken nun große Hoffnungen, auch neue antibakterielle Wirkmechanismen identifizieren zu können. Ein Konsortium von Firmen aus NRW, mit dem wir kooperieren, soll die Entwicklung solcher innovativen Antibiotika vorantreiben (s. Info). Doch selbst bei vollständiger Identifikation eines neuen Wirkmechanismus müssen wir mit etwa zehn Jahren rechnen, bis ein solches Antibiotikum als Medikament in der Apotheke erhältlich wäre. Gut hundert Jahre nach der Entdeckung von Salvarsan im Labor von Paul Ehrlich könnten dann jedoch metallhaltige Antibiotika in der Medizin zu neuem Ruhm gelangen.


Prof. Dr. Nils Metzler-Nolte, Lehrstuhl für Anorganische Chemie I - Bioanorganische Chemie, Fakultät für Chemie und Biochemie


Den gesamten Artikel inkl. allen Bildern finden Sie im Internet im PDF-Format unter:
www.ruhr-uni-bochum.de/rubin/


*


Quelle:
RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Frühjahr 2011, S. 8-13
Herausgeber: Rektor der Ruhr-Universität Bochum in Verbindung
mit der Gesellschaft der Freunde der Ruhr-Universität Bochum
Anschrift: Pressestelle der Ruhr-Universität Bochum, 44780 Bochum
Tel. 0234/32-22 133, -22 830, Fax 0234/32-14 136
E-Mail: rubin@presse.ruhr-uni-bochum.de
Internet: www.ruhr-uni-bochum.de/rubin/

RUBIN erscheint zweimal im Jahr
(sowie ein Themenheft pro Jahr).
Das Einzelheft kostet 2,50 Euro.
Jahreabonnement: 5,00 Euro (zzgl. Versandkosten)


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juni 2011