Ärzte ohne Grenzen - 1. Januar 2019
Offener Brief an Seehofer/Barley: NGO-Bündnis fordert sichere Häfen zur Seenotrettung und ein Ende des Zurückbringens von Menschen nach Libyen
Berlin, 1. Februar 2019. Ein breites Bündnis europäischer Nichtregierungsorganisationen fordert in einem Offenen Brief an die EU-Innen- und Justizminister eine zügige Hilfe für Menschen, die über das Mittelmeer fliehen. Gerettete müssten umgehend an Land gelassen werden und dürften auf keinen Fall ins Konfliktgebiet nach Libyen zurückgebracht werden. Der Brief, den unter anderem Oxfam, SOS Mediterranee und Ärzte ohne Grenzen unterzeichnet haben, wurde vor dem EU-Treffen "Justiz und Inneres" am 7. Februar in Bukarest auch an Bundesinnenminister Horst Seehofer und Bundesjustizministerin Katarina Barley versandt.
"Die EU-Staaten inklusive Deutschlands sind maßgeblich mitschuldig am Leid Tausender willkürlich eingesperrter Menschen in den Internierungslagern in Libyen. Sie unterlassen es, selbst Hilfe im Mittelmeer zu leisten, behindern die zivilen Rettungsschiffe und lassen Menschen in ein Land zurückbringen, wo sie einem Kreislauf aus Gewalt, Folter und Ausbeutung ausgesetzt sind", sagt Philipp Frisch von Ärzte ohne Grenzen in Deutschland. "Unsere Teams in Libyen sehen täglich, wie dramatisch die Situation der zurückgebrachten Menschen ist. Wiederholt sind sie ins Kreuzfeuer von Kämpfen geraten. Immer wieder sind in einigen Regionen Patienten spurlos verschwunden, die in der Vorwoche noch von unseren Ärzten und Ärztinnen behandelt worden waren. Die Menschen leben oft zusammengepfercht in Lagerhallen oder überfüllten Zellen, ohne Sonnenlicht, unter entsetzlichen hygienischen Bedingungen. Keine internationale Organisation hat vollständigen Zugang zu diesen Menschen. Das gilt auch für Ärzte ohne Grenzen. Dennoch hat die EU-finanzierte libysche Küstenwache allein im vergangenen Jahr mehr als 15.000 Menschen völkerrechtswidrig aus internationalen Gewässern dorthin gebracht. Es ist schockierend, dass die EU bis heute sämtliche UN-Berichte über extreme Gewalt gegen Flüchtlinge und Migranten in Libyen ignoriert. Wir fordern die Bundesregierung dringend auf, die Kooperation mit der libyschen Küstenwache und ihre Finanzierung zu beenden."
Die Pressemitteilung von Ärzte ohne Grenzen zur Situation in den
Internierungslagern in Libyen aus der vergangenen Woche finden Sie
hier:
https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/presse/libyen-mittelmeer-gefluechtete-inhaftiert-in-khoms-und-misrata
Im Dezember haben die Vereinten Nationen einen Bericht zur Situation
von Flüchtlingen und Migranten in Libyen veröffentlicht, der deutliche
Kritik an der EU übt:
https://unsmil.unmissions.org/migrants-and-refugees-crossing-libya-subjected-%E2%80%9Cunimaginable-horrors%E2%80%9D-%E2%80%93-un
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Berlin, 31.1.2019
Sehr geehrte Frau Bundesministerin,
Sehr geehrter Herr Bundesminister,
wir, die unterzeichnenden Organisationen, Netzwerke und
Plattformen, sind in großer Sorge angesichts der aktuellen Krise im
Mittelmeer, und bitten Sie dringend, tätig zu werden. Seit Januar 2018
sind mindestens 2.500 Frauen, Kinder und Männer im Mittelmeer
ertrunken. Währenddessen haben die Staats- und Regierungschefs der EU
vor dieser Tragödie ihre Augen verschlossen und sich auf diese Weise
daran mitschuldig gemacht.
Seit mehr als sechs Monaten versuchen EU-Regierungen erfolglos, sich auf ein Verfahren zu einigen, das es den Überlebenden ermöglichen würde, sicher an Land zu gehen, wenn sie eine europäische Küste erreichen. Jedes Mal, wenn ein Schiff gerade gerettete Menschen in einen europäischen Hafen bringt, führen die Regierungen der EU quälende und langwierige Debatten darüber, wo das Schiff anlegen kann und welche Länder die Überlebenden aufnehmen und ihre Asylanträge bearbeiten können. Frauen, Männer und Kinder, die auf ihrer Reise häufig körperliche und seelische Verletzungen mit sich herumtragen, bleiben zuweilen fast einen Monat lang auf See gefangen. Die EU-Marinemission "SOPHIA" im Mittelmeer läuft Gefahr, vollständig eingestellt zu werden, da sich die europäischen Regierungen nicht darauf einigen können, wo sie gerettete Menschen von Bord gehen lassen.
Gleichzeitig üben europäische Regierungen unangemessenen Druck auf Nichtregierungsorganisationen (NRO) aus, die im Mittelmeerraum lebensrettende Such- und Rettungsaktionen durchführen. Anstatt diese Aktivitäten zu unterstützen und damit Leben zu retten, haben einige EU-Mitgliedstaaten die Operationen dieser Organisationen immer weiter erschwert, haben ihnen unbegründete Vorwürfe gemacht und verhindert, dass Such- und Rettungsboote auslaufen können. Während im vergangenen Jahr fünf Organisationen Such- und Rettungsaktionen im Mittelmeer durchgeführt haben, kann dies heute nur noch eine tun.
Die Maßnahmen der europäischen Regierungen haben es den in der Seerettung aktiven Organisationen extrem erschwert, ihre lebensrettende Arbeit fortzusetzen. Die Maßnahmen haben auch andere Schiffe davon abgehalten, ihre Verpflichtung zu erfüllen, Menschen in Not zu retten und sie an den nächsten sicheren Ort zu bringen. Infolgedessen ist das Mittelmeer eines der tödlichsten Meere der Welt geworden. Im Januar rettete ein Hubschrauber der Marine drei Personen, die berichteten, dass ihr Boot Libyen mit 120 Frauen, Kindern und Männern an Bord verlassen hatte. Alle anderen waren ertrunken. Personen, die zwangsweise nach Libyen zurückgeschickt werden, werden mit großer Wahrscheinlichkeit willkürlich inhaftiert, misshandelt, gefoltert oder in die Sklaverei verkauft. Laut des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR wurden 2018 mehr als 15.000 Menschen nach Libyen zurückgebracht.
Nach internationalem Recht sollten auf See gerettete Personen an den nächstgelegenen sicheren Ort gebracht werden, wo sie mit Respekt behandelt werden und Schutz erhalten. Europa hat sich verpflichtet, Menschen im Mittelmeer zu retten und die Verantwortung für die Flüchtlingsaufnahme unter den Staaten aufzuteilen. Das Recht, Asyl zu suchen, und der Grundsatz der Nichtzurückweisung sind in den Verträgen der Europäischen Union verankert. Dort wird auch erklärt, dass die Union auf der Achtung der Menschenwürde, der Freiheit, der Demokratie, der Gleichheit, der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte gegründet ist. Dies sind die Werte, an die wir alle glauben - und das Recht, an das wir gebunden sind. Sie sollten daher ungeachtet aller politischer Meinungsverschiedenheiten aufrechterhalten werden.
Wir bitten Sie bei der bevorstehenden informellen Tagung des EU-Rats für Justiz und Inneres eine zügige Ausschiffungsregelung zu vereinbaren, die geeignet ist, Leben zu retten und die die Grundrechte der Menschen, einschließlich ihres Rechts, Asyl zu suchen, respektiert.
1. Unterstützung von Such- und Rettungsaktionen: Die Länder sollten allen Schiffen, die Such- und Rettungsaktionen durchführen, erlauben, in ihren Häfen anzulegen, gerettete Personen von Bord gehen zu lassen und zügig wieder abzulegen. Der Versuch, die lebensrettenden Operationen von NRO und Handelsschiffen zu verhindern, ist ein gefährlicher Ansatz, der Leben gefährdet und das Vertrauen der Bürger in ihre Regierungen untergräbt, die Situation zu lösen.
2. Verabschiedung zügiger und verlässlicher Ausschiffungsregelungen: Bis eine Reform des Dublin-Systems einschließlich eines ständigen Mechanismus zur gemeinsamen Verantwortungsteilung verabschiedet wird, sollten Vorkehrungen getroffen werden, um eine zügige Ausschiffung und Verteilung der geretteten Personen auf die Mitgliedstaaten der EU sicherzustellen. NRO haben konkrete Vorschläge für an die Ausschiffung anschließende Umverteilungsverfahren gemacht. Angesichts der dringenden Notwendigkeit von Maßnahmen zur Aufteilung der gemeinsamen Verantwortung und der Hindernisse für eine EU-weite Lösung sollten unverzüglich Vereinbarungen getroffen werden und die teilnehmenden Staaten sollten von Anfang an feststehen, nicht auf einer "Schiff-für-Schiff"-Basis. Keine Vereinbarung sollte andere Mitgliedstaaten von ihren rechtlichen Verpflichtungen aus EU-Recht, dem internationalen Flüchtlingsrecht oder dem Seerecht entbinden.
3. Ende der Rückführungen nach Libyen: Libyen ist ein Land im Kriegszustand, in dem Flüchtlinge und Migranten oft unter furchtbaren Bedingungen festgehalten werden, die ihre grundlegenden Menschenrechte verletzen. Frauen, Kinder und Männer, die von der durch die EU unterstützten libyschen Küstenwache oder auf Anweisung der Maritimen Rettungs- und Koordinierungszentren nach Libyen zurückgeschickt werden, sehen sich unausweichlich einer willkürlichen Inhaftierung und der Gefahr von Folter und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Maßgebliche Quellen, darunter einige der Unterzeichnerorganisationen, haben konkrete Fälle dokumentiert, in denen aufgegriffene oder gerettete Personen bei ihrer Rückkehr nach Libyen gefoltert und misshandelt wurden. Die UN-Flüchtlingsbehörde UNHCR hat alle Staaten aufgefordert, Angehörige von Drittstaaten wegen der ihnen dort drohenden Gefahren nicht nach Libyen zurückzuschicken. Die europäischen Regierungen sollten klare Prüfkriterien festlegen, einschließlich der Beendigung willkürlicher Inhaftierungen, und dazu bereit sein, die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache und ihre Unterstützung auszusetzen, wenn diese nicht erfüllt werden.
Wir fordern Sie angesichts der immer dramatischeren Situation dringend dazu auf, umgehend geeignete Maßnahmen zu ergreifen.
Mit freundlichen Grüßen
Unterzeichnende Organisationen/Netzwerke:
11.11.11.
ACT Alliance EU
Aktion gegen den Hunger
African Media Association Malta
Amnesty the Netherlands
AOI
Arcs
Ärzte ohne Grenzen
Blue Door English
Caritas Europa
CEFA Onlus
Churches Commission for Migrants in Europe (CCME)
CIRÉ
COMI
Concord Italia
Danish Refugee Council
Dutch Refugee Council
European Evangelical Alliance
Focsiv
Gcap Italia
Human Rights Watch
ICMC
IPSIA-ACLI
Kopin
La Coordinadora
Legambiente
Malta Microfinance
Marche Solidali
Missing Children Europe
Mixed Migration Centre
Oxfam
Pax for Peace
Pro Asyl
SKOP
Sonia per un mondo nuovo e giusto
SOS Méditerranée
The European Council on Refugees and Exiles
The Platform for International Cooperation on Undocumented Migrants (PICUM)
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Quelle:
Ärzte ohne Grenzen e. V. / Medecins Sans Frontieres
Pressemitteilung vom 1. Januar 2019
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Februar 2019
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