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KREBS/1228: "Bei allem Fortschritt - keiner ist gegen das Risiko einer Erkrankung gefeit..." (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 1/2020

Onkologie
Experten sind verhalten optimistisch

von Horst Kreussler


Ende vergangenen Jahres informierte die "Ärztekanzel" in Hamburg an drei Abenden über onkologische Themen. Referenten aus unterschiedlichen Kliniken.


Neue Behandlungswege gegen Krebserkrankungen sind überall im Gespräch, und die Politik hält den Krebs in den nächsten Jahrzehnten gar für "besiegbar", so die Chirurgin Dr. Christiane Görlitz-Burmeister (Hamburg) einleitend zur diesjährigen Veranstaltungsreihe "Krebserkrankungen" der Veranstaltungsreihe Ärztekanzel von St. Nikolai Eppendorf. Dennoch: "Bei allem Fortschritt - keiner ist gegen das Risiko einer Erkrankung gefeit, jeder von uns hat Angst".

Die verbesserten Heilungsaussichten standen im Mittelpunkt des ersten Referats von Prof. Carsten Bokemeyer, Direktor der 2. Medizinischen Klinik und Zentrumsleiter des Hubertus-Wald-Tumorzentrums - University Cancer Centrum Hamburg (UCCH): "Nie war es aussichtsreicher, die Ergebnisse der Grundlagenforschung in wirksame Therapiekonzepte umzusetzen."

Die Heilungsrate bei allen Krebserkrankungen zusammengefaßt sei von rund 50 Prozent vor etwa 20 Jahren auf fast zwei Drittel gestiegen. Auch die Überlebenszeiten seien gewachsen. Und dies angesichts viel anspruchsvollerer Behandlungen, denn immer mehr Krebserkrankungen seien angesichts des steigenden durchschnittlichen Lebensalters mit anderen komplexen Erkrankungen von Herz/Kreislauf sowie mit Diabetes oder Demenz assoziiert. Daher werde die Inzidenz von etwa 500.000 Neuerkrankungen jährlich noch steigen. Zudem hätten es Ärzte mit mindestens 300 verschiedenen Krebsarten zu tun, die bei genetischer Differenzierung der Krebszellen auf vielleicht 30.000 anwachsen könnten. "Wir haben zum Beispiel nicht mehr den Lungenkrebs, sondern 50 verschiedene Arten davon."

Die Frage nach den darauf bezogenen Therapiemöglichkeiten müsse von der Frage nach den Ursachen ausgehen. Vieles aus der Pathogenese sei noch zu erforschen, relativ sicher sei nach jüngsten Studien, dass an die 40 Prozent der Fälle mit dem Lebensstil zu tun haben. Daher seien Aufklärung und Prävention so wichtig. Speziell Bewegung und Sport würden auch im UCCH mit Nachdruck praktiziert, zum Beispiel die Aktion "Rudern gegen Krebs".

Bei der medizinischen Therapie seien zu den bekannten Säulen Chirurgie, Strahlentherapie und Chemotherapie inzwischen gleichwertig die Biologicals hinzugekommen. Die Kombination von Chemotherapie (mit herkömmlichen Zellteilungshemmern) und zielgerichteten Antikörpern könne heute jeweils bis zu 20 Prozent erreichen, also zusammen etwa an die 40 Prozent Heilung, z. B. bei Lymphdrüsenkrebs. Antikörper könnten das Immunsystem stärken, indem sie die Bremsen lösen, die Krebszellen fälschlich hervorriefen. Eine weitere neue Option sei die Immuntherapie mit genmodulierten T-Zellen, bei der körpereigene Zellen entnommen, angereichert und wieder eingesetzt werden. Bei bis zu 30 Prozent der so behandelten Tumoren sei eine anhaltende Rückbildung zu beobachten. Am Schluss nach seinen überraschendsten Erkenntnissen der letzten Jahre gefragt, sagte der Referent, das sei neben der Immuntherapie auch der Sport, aber insgesamt erstaune der zum Teil extreme Aufwand, um einen Patienten individuell zu therapieren.

Nicht gerade gering, aber auch nicht extrem ist der Aufwand in der onkologischen Chirurgie. Hat der Chirurg angesichts der geschilderten Fortschritte in der Krebstherapie überhaupt noch eine Existenzberechtigung, fragte Prof. Tim Strate, Chef der Allgemein- und Viszeralchirurgie des Krankenhauses Reinbek St. Adolf-Stift: "Ja, denn er erreicht interdisziplinär rund 30 Prozent Heilung - wir sind also zusammen mit Internisten und Radiologen ziemlich stark." Je nach Einzelfall sei etwa beim Rektumkarzinom eine Kombination von Strahlentherapie, Chemotherapie und anschließender Operation besonders günstig. Und dann gibt es auch in der Tumorchirurgie bemerkenswerte Fortschritte. Der Referent, früher lange im UKE, berichtete von einer Studie in Reinbek mit dem Ziel, die relativ hohe Komplikationsrate von Anastomosen mit lebensbedrohlicher Infektion der Bauchhöhle nach Darmoperationen zu senken. Es sei im Laufe der Zeit durch äußerst qualitätsbewusstes Abarbeiten der OP-Checkliste gelungen, den Anteil (weltweit 15 Prozent, in großen Zentren bei fünf Prozent) auf unter zwei Prozent und elektiv sogar auf nahe null zu senken. Eine Veröffentlichung der Studie in einer renommierten Fachzeitschrift stehe allerdings noch aus. Auf dem speziellen Gebiet der Magen- und Speiseröhrenchirurgie wurde das Krankenhaus Reinbek Ende November 2019 von der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie als "Kompetenzzentrum Oberer Gastrointestinaltrakt" (eines von sieben Zentren in Deutschland) zertifiziert. In drei Jahren strebt Departmentleiter Dr. Human Honarpisheh bei der Rezertifizierung die höhere Stufe eines Referenzzentrums an.

In der Diskussion spielten Fragen nach gesellschaftlichen Problemen bei der Krebsbehandlung eine Rolle. Bokemeyer sagte, es gebe in der Tat erhebliche Nachwuchsprobleme, es fehlten z. B. Psychoonkologen, zertifizierte Apotheker und auch Pflegepersonal. Eine andere Frage zielte auf den Zugang zu einem Zentrum wie dem UCCH, etwa für eine Zweitmeinung. Der Zugang sei für ärztliche Kollegen etwa für eine Anmeldung zum Tumorboard leicht und kurzfristig möglich, dies sei auch der Sinn einer guten Vernetzung. Bei Zweitmeinungen würden rund 85 Prozent der Erstmeinungen bestätigt.

Wie ist aber die Arbeitsteilung mit den benachbarten Universitätskliniken in Lübeck und Kiel, welche Patienten werden dem UCCH vorgestellt? Hier laufe die Abstimmung noch und könne vielleicht bis zu zwei Jahre dauern, hieß es auf Nachfrage.

Bei der zweiten Ärztekanzel eine Woche später referierte Prof. Klaus Pantel (Direktor des Instituts für Tumorbiologie des UKE) über Möglichkeiten und Grenzen der Krebsforschung. Sein zentrales Forschungsgebiet ist "Liquid Biopsy", die Untersuchung von ganzen und partiellen Krebszellen im Blut. Im Blut sei Krebs früher erkennbar als in einem Tumor und eine Blutabnahme einfacher als eine Gewebebiopsie. Ziele seien dabei die Früherkennung, eine individuelle Risikoprognose, die Festlegung von individuellen Zielstrukturen für Antikörper und eine Verlaufskontrolle. Besonders das erste Ziel der Früherkennung sei noch nicht erreicht. Früherkennung sei bei sehr kleinen Tumoren schwierig (falsch-negative Befunde), aber auch falsch-positive Befunde seien etwa beim altersbedingten "Hintergrundrauschen" möglich.

Gut wäre, man könnte zum Beispiel beim Prostatakarzinom präziser bestimmen, zu welchem Drittel der individuelle Patient gehört, wenn von einem Drittel sehr langsam wachsend, einem Drittel schnell wachsend und einem mittleren Drittel auszugehen ist. Im zweiten Fall ginge es um rasches Intervenieren nach der Faustregel: Je aggressiver der Tumor, desto aggressiver die Therapie. Mit dem "Paradigmenwechsel" der Onkologie wäre eine zielgerichtete Diagnostik und Therapie mit passenden Antikörpern wie etwa dem Herz-Protein angezeigt, die sowohl die Schädlichkeit der Tumorzellen verringert als auch die Abwehrzellen stärkt. Schwierig sei, dass Tumoren verschiedenartige Zellen ausschütteten und sich im Blut die Krebszellen etwa durch Zusammenschließen an die jeweilige immunologische Situation anpassten. "Wichtige Fortschritte gibt es nur mit translationaler Forschung im Verbund von Grundlagenforschung in Instituten und von klinischer Erfahrung, wie bei uns." Auch der vorletzte Nobelpreis für Medizin und Physiologie 2018 sei auf diesem Gebiet verliehen werden: Den Forschern James P. Allison (USA) und Tasuku Honjo war es gelungen, die Abwehrzellen durch Beseitigung von Brems-Proteinen wieder zu aktivieren. Die Hamburger Forscher, finanziert überwiegend vom European Research Council und ohne Industrie-Drittmittel, sehen sich und ihre europäischen Kollegen, so Pantel, international durchaus auf Augenhöhe mit den amerikanischen Spitzenwissenschaftlern. Aber: "Wir könnten vielleicht noch ganz andere Fortschritte erzielen, wenn zum Beispiel eine Gruppe der besten internationalen Forscher einige Jahre ungestört von Bürokratie und Konkurrenzdruck zusammenarbeiten könnte."

In der Diskussion wurde gefragt, welche Patienten derzeit von der Arbeit des Instituts für Tumorbiologie profitierten. Antwort: Bei den pro Jahr rund 200 vorgestellten Patienten könne zwar noch keine Früherkennung, aber ein genaueres Staging angegeben werden, allerdings noch nicht bei GKV-Patienten, es sei denn Studienteilnehmern.

Sollte nicht vor allem die Präventionsforschung gestärkt werden? Ja, aber auch schon bekannte Maßnahmen müssten dringend umgesetzt werden wie die Eindämmung des Rauchens bei Jugendlichen. Schließlich kam auch die Ethik zu Wort: Gebe es nicht ein Recht auf Nichtwissen? Ja, zumal wenn die Früherkennung möglich werde: "Wir Ärzte müssen uns je nach dem Patientenwunsch entscheiden und den Wunsch auf Wissen oder auf Nichtwissen respektieren." Diese Patientenorientierung kam auch bei der dritten Ärztekanzel zum Ausdruck. Hier ging es um "unterstützende Tumortherapie - Leben und Überleben mit Krebs". Die Leiterin der Beratungsstelle Eppendorf der Hamburger Krebsgesellschaft und Sportwissenschaftlerinnen des UCCH sowie auch Hauptpastor und Propst Dr. theol. Martin Vetter informierten über bewegungswissenschaftliche, psychologische und spirituelle Hilfen zum Überleben mit Krebs.


Info

Bei der Ärztekanzel kommen aus medizinischer, psychologischer, rechtlicher und theologischer Sicht Konfliktthemen zur Sprache, die eine breite Diskussion aus religiöser und christlicher Sicht erfordern. Bevorzugt werden für die Ärztekanzel medizinische Referenten aus Hamburger Kliniken und Praxen eingeladen. Damit trägt die Ärztekanzel zur Debatte über das berufliche Selbstverständnis von Ärzten und von Mitarbeitern im Gesundheitswesen in und um Hamburg bei.

Info

Die Ärztekanzel ist eine interdisziplinäre Vortragsreihe an der Hamburger Hauptkirche St. Nikolai, bestehend aus drei Themenabenden sowie einem abschließenden Gottesdienst. Sie richtet sich an ein medizinisches Fachpublikum und an die interessierte Gemeinde. An St. Nikolai hat die Ärztekanzel Tradition: Sie besteht seit rund 30 Jahren, wird von einem Beirat vorbereitet und findet jeweils im Herbst statt. An den Themenabenden werden gesellschaftlich relevante Themen wie Sterbehilfe, Gerechtigkeit im Gesundheitswesen oder die Entwicklung der Hirnforschung diskutiert.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 1/2020 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2020/202001/h20014a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
73. Jahrgang, Januar 2020, Seite 38 - 39
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Februar 2020

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