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EPIDEMIE/195: Interview mit Dr. Anne Marcic über COVID-19 und den Infektionsschutz in Schleswig-Holstein (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 5, Mai 2020

Ministerium
Die zweite Welle wird kaum zu verhindern sein

Interview mit Dr. Anne Marcic


Dr. Anne Marcic ist im Kieler Gesundheitsministerium für den Infektionsschutz zuständig. Im Interview mit Dirk Schnack erläutert sie u. a., wie sie Informationen für die Politik aufbereitet.


Wie hat sich Ihr Arbeitsalltag seit Ausbruch der Coronakrise verändert?

Dr. Anne Marcic: Die Schlagzahl ist im Infektionsschutz aufgrund der Bandbreite und Themenfülle schon in Friedenszeiten recht hoch. Seit Beginn des Corona-Geschehens hat sich das natürlich noch einmal deutlich zugespitzt. Der Tag beginnt bereits beim Frühstück mit Corona, setzt sich in allen nur denkbaren Facetten und unter Beteiligung vieler verschiedener Akteure fort. Die Arbeitszeiten sind ausgedehnt, ein Wochenende findet immerhin stundenweise statt. Innerhalb extrem kurzer Zeit müssen zahlreiche Informationen aufgenommen und bewertet werden und Entscheidungen, die daraus resultieren, vorbereitet werden. Die Anforderungen kommen phasenweise im Minutentakt und das E-Mail-Postfach musste erweitert werden, um die Flut der eingehenden Anfragen, Aufforderungen, Informationen und Hinweise überhaupt empfangen zu können. Die Bewältigung bzw. Abarbeitung ist damit noch nicht erfolgt.

Die Herausforderung besteht darin, einerseits selbst auf dem aktuellen Informationsstand zu bleiben und andererseits gleichzeitig Kollegen intern und extern zu informieren und die Beratung der politischen Ebene so sicherzustellen, dass aktuelle Entscheidungen auf fachlich fundierter Basis erfolgen können.

Was sind derzeit Ihre Prioritäten, was muss bei der Arbeit hinten anstehen?

Marcic: Prioritär sind die fachliche Bewertung der aktuellen Situation des Erkrankungsgeschehens (epidemiologisch) und der angezeigten Maßnahmen zur Bewältigung. Außerdem die Abstimmung mit den Kolleginnen und Kollegen von Bund und Ländern sowohl zur Bewertung als auch im Hinblick auf zu veranlassende Maßnahmen und die Abstimmung mit den Gesundheitsämtern und die Koordinierung der Maßnahmen im ÖGD. Priorität hat auch die Beratung der Politik als Ergebnis aus den vorgenannten Punkten. Alle anderen Fragestellungen können aktuell nur nachrangig, wenn sich mal zwischendurch ein Zeitfenster öffnet, bearbeitet werden.

Manche Themen können derzeit aber auch gar nicht bearbeitet werden, weil wir dafür keine Ressourcen haben. Betroffen sind etwa Themenbereiche im Infektionsschutz wie die Anpassung von Regelungen zum Impfen oder die Impfvereinbarung für den ÖGD oder die Klärung der Kostenübernahme bei der Behandlung von Kontaktpersonen bei Scabies.

Auch die zahlreichen Zuschriften per E-Mail mit vielen kreativen Ideen zum weiteren Vorgehen oder zur Durchführung bestimmter Testreihen oder zu sonstigen Dingen können aus dem Fachreferat kaum oder nur in sehr begrenztem Umfang beantwortet werden.

Welche Informationskanäle müssen Sie bedienen?

Marcic: Intern werden fachspezifische Fragestellungen für die Gesundheitsabteilung im Ministerium, für die regelmäßige "Morgenlage" und den Leitungsstab Corona aufbereitet. Zu den Aufgaben zählt aber auch die inhaltliche Vorbereitung der politischen Gremien wie etwa Sozialausschuss und für die Beratung innerhalb der Landesregierung. Extern leistet das Referat die fachliche Zuarbeit zur Beantwortung von Presseanfragen sowie die externe Informationsverteilung per E-Mail und die Abstimmung für zahlreiche Telefonkonferenzen, die fachlichen Abstimmungen auf Bund-Länder-Ebene, den öffentlichen Gesundheitsdienst, die Fachöffentlichkeit in Schleswig-Holstein und den Expertenbeirat "Medizinische Versorgung bei COVID-19 Schleswig-Holstein".

Wo informieren Sie sich persönlich über die Entwicklung?

Marcic: Viele wesentliche Fachinformationen sind der breiten Öffentlichkeit uneingeschränkt zugänglich - was manchmal ein Problem ist, weil sich alle dadurch aufgerufen fühlen, Vorschläge zu machen. Ich nutze die Medien, die alle anderen auch nutzen. Zusätzlich stehen mir behördeninterne Informationen zur Verfügung.

Wie erleben Sie die Zusammenarbeit mit anderen Akteuren im Gesundheitswesen?

Marcic: Als sehr gut. Es sind alle sehr engagiert und geben wirklich ihr Bestes. Das gilt in meiner Funktion natürlich in erster Linie für die Kolleginnen und Kollegen im Öffentlichen Gesundheitsdienst, aber auch in allen anderen Bereichen der Gesundheitsversorgung. Da ist ein deutlicher Schulterschluss spürbar. Es wird so manches umgesetzt, was vorher nie - und schon gar nicht in so kurzer Zeit - denkbar gewesen wäre. Diese Kooperationsbereitschaft wünsche ich mir dauerhaft. Dass die Finanzierung diesbezüglich derzeit kaum eine Rolle spielt, erleichtert es natürlich sehr. Die Kostentragung ist ja sonst eine große Bremse.

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Info

Die Website der Landesregierung informiert schon auf der Startseite über das Coronavirus:
www.schleswig-holstein.de
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Wird medizinischer Expertenrat aus Ihrer Sicht von der Politik ausreichend in Entscheidungen einbezogen?

Marcic: Bisher (Anm. der Redaktion: 17. April) ja, in der Landesregierung wurde weitgehend Wert auf die Einschätzung der Fachebene gelegt und diese fand auch Gehör. Das kann sich natürlich im Laufe des Geschehens ändern.

Mit welcher Entwicklung rechnen Sie persönlich bis zum Jahresende? Kommt die oft zitierte "zweite Welle" und wovon hängen ihre Intensität und die Zeitspanne ab?

Marcic: Ob und wann eine zweite Welle auftritt, wird davon abhängen, wie lange die Ausbreitung des Erregers weiter eingedämmt werden kann. Die zweite Welle wird kaum zu verhindern sein. Das wäre wahrscheinlich nur dann möglich, wenn noch sehr lange die kontaktreduzierenden Maßnahmen und Einschränkungen des öffentlichen Lebens aufrechterhalten werden. Die Intensität wird vom Ausmaß der kontaktreduzierenden Maßnahmen bestimmt. Je mehr Kontakte zugelassen werden, desto größer ist die Intensität, also desto mehr Menschen erkranken gleichzeitig. Das wiederum bestimmt dann auch die Zeitspanne. Je weniger intensiv die Infektionswelle erfolgt, desto länger dauert sie. Bei weiteren Maßnahmen wird es darum gehen, die Balance zwischen dem Zulassen des öffentlichen Lebens und dem Beherrschen der Infektionen zu finden.

Können Sie schon eine Lehre aus den bislang gesammelten Erfahrungen nennen?

Marcic: Ich bleibe bei meinem bisherigen Fazit zur Pandemieplanung: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.


Vielen Dank für das Gespräch.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Dr. Anne Marcic ist Infektionsschutzreferentin im Landesgesundheitsministerium in Kiel. Sie bewertet das aktuelle Erkrankungsgeschehen aus fachlicher Sicht, schlägt die jeweils angezeigten Maßnahmen vor und stimmt sich mit den Kollegen in Bund und Ländern ab.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 4/2020 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2020/202005/h20054a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
73. Jahrgang, Nr. 5, Mai 2020, Seite 12 - 13
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Mai 2020

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