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EPIDEMIE/189: COVID-19 - Ein System im Stresstest (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 4/2020

CORONA
Ein System im Stresstest

von Dirk Schnack


Ärzte und Pflegekräfte, Unternehmen und Politik: Die ganze Gesellschaft steht vor einer Herausforderung, die wir in dieser Form nicht kannten. Die Pandemie hat das Leben aller Menschen verändert, auch in Schleswig-Holstein. Für April hoffen alle auf eine erste Wende zum Besseren.


Die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg - als Bundeskanzlerin Angela Merkel sich am 18. März in einer Fernsehansprache an die deutsche Bevölkerung wandte und diesen Vergleich wagte, war nicht abzusehen, mit welcher weiteren Dynamik sich das Coronavirus in Deutschland ausbreiten wird. Seit der Meldung über den ersten an Corona infizierten deutschen Patienten waren bis zu diesem Tag erst drei Wochen vergangen und doch hatte sich das Leben in Deutschland schon massiv verändert. Ob und in welchem Ausmaß die bis dahin eingeleiteten Maßnahmen das Infektionsgeschehen verlangsamen, würde sich erst nach Druck dieser Ausgabe entscheiden.

Fest stand in der letzten Märzwoche aber, dass die oft als "Stresstest" für das deutsche Gesundheitswesen bezeichnete Ausnahmesituation jeden im Gesundheitswesen Beschäftigten über Monate in Atem halten und den Rest der Bevölkerung massiv beeinträchtigen, viele auch ängstigen wird. So richtig in den Köpfen aller Menschen angekommen war diese Tatsache zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Landesgesundheitsminister Dr. rer. pol. Heiner Garg sah sich noch am 21. März in einem Interview veranlasst, den Menschen in Schleswig-Holstein zwei Botschaften zu vermitteln:

  • Die Ausnahmesituation ist kein "Abenteuerurlaub", sondern erfordert Distanz, Disziplin und Solidarität.
  • Die im März erreichten Zahlen von Infizierten und Toten werden erst der Anfang sein. Alle gemeldeten Erkrankungsfälle liegen stets zehn Tage hinter der eigentlichen Infektion zurück.

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81 Jahre alt waren die an COVID-19 verstorbenen Menschen in Deutschland im Durchschnitt im März. Diese Angabe macht RKI-Präsident Prof. Lothar Wieler Ende vergangenen Monats auf Basis von fast 150 offiziell von den Gesundheitsämtern gemeldeten Verstorbenen in Deutschland.
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Zwei ungeschönte Botschaften, die den Ernst der Lage verdeutlichten. Zuvor wurde viel über die gute Ausgangslage gesprochen, die das deutsche Gesundheitswesen im Vergleich zu anderen, auch europäischen Ländern beim Kampf gegen das Virus hatte. Dies galt auch für Schleswig-Holstein. Die hier vorhandenen 628 Intensivbetten wurden zügig ausgebaut. Das Landesgesundheitsministerium sorgte dafür, dass in Vorsorge- und Rehaeinrichtungen Kapazitäten als Ausweichquartiere für die allgemeine Krankenversorgung frei gemacht wurden. Akutkliniken konnten sich damit auf die erwarteten Intensivpatienten vorbereiten. Zudem baute Schleswig-Holstein Kapazitäten in zuvor nicht genutzten Trakten der Kliniken auf. Das Krankenhaus in Wedel, das im Sommer zur Schließung vorgesehen war, wurde reaktiviert. "Solche krankenhausnahen Strukturen haben derzeit Vorrang vor anderen Alternativen wie Hallen oder Ähnliches, da die Herrichtung deutlich einfacher ist", hieß es vom Ministerium. Mit Aufbau der zusätzlichen Kapazitäten in Ausweichquartieren wurde eine räumliche Trennung von Covid-19-Patienten und anderen stationär aufgenommenen Patienten ermöglicht.

Für die erste Gruppe setzte das Land auf eine regionale Clusterbildung, für die sich Verbünde mehrerer Kliniken abstimmten. Vorreiter waren Mitte März die Landkreise Nordfriesland, Dithmarschen und Steinburg. Die stationäre Versorgung von COVID-19-Patienten wurde auf die Schwerpunktkrankenhäuser in Itzehoe und Heide konzentriert, während das Klinikum Nordfriesland mit den Häusern in Niebüll und Husum sowie der WKK-Standort in Brunsbüttel dafür nicht zur Verfügung stehen. Bei einer möglichen Zuspitzung der Lage sollten diese drei Standorte die Grund- und Regelversorgung sowie die intensivmedizinische Behandlung nicht-infektiöser Patienten an der Westküste sicherstellen. Begründet wurde die Abstimmung mit der hohen Anzahl von Beatmungsplätzen in Itzehoe und Heide. Beide Häuser schufen speziell abgetrennte Versorgungsbereiche für die stationäre Behandlung von Corona-Patienten.

Im ambulanten Bereich galt es zunächst ebenfalls Strukturen aufzubauen, die eine Weiterbehandlung der kranken, aber nicht infizierten Menschen zu gewährleisten, ohne diese einem erhöhten Infektionsrisiko auszusetzen. Hierfür waren die ersten Wochen entscheidend. Es ist fraglich, ob dies ohne die frühe und öffentliche Mahnung der Hausärzte gelungen wäre. Schon in der Abgeordnetenversammlung der KV Schleswig-Holstein am 26. Februar war es Dr. Thomas Maurer, der auf die zahlreichen Probleme, die mit der Pandemie auf die Hausarztpraxen zukommen, aufmerksam machte und damit erheblich zur Transparenz beitrug. Der Vorsitzende des Landesverbandes der Hausärzte im Norden verwies auf fehlende Schutzausrüstung, auf nicht geregelte Abläufe, auf nicht eingerichtete Strukturen für die Abstriche außerhalb der Praxen. Seine Befürchtungen traten ein: Trotz zahlreicher Informationen kamen Patienten mit dem Verdacht auf eine Infektion in die Praxen. Bis Mitte März waren dann die Strukturen so weit aufgebaut, dass die Patientenströme besser kanalisiert werden konnten. Die KV hatte u. a. Diagnostikzentren errichtet und beschritt auch ungewöhnliche Wege wie die "Corona-Ambulanz", ein umgebauter Reisebus, der an verschiedenen Orten eingesetzt werden kann. Die Hausarztpraxen spürten nicht nur die hohe Verunsicherung und den damit verbundenen Informationsbedarf der Patienten. Sie mussten auch ihre Praxen davor schützen, dass eventuell Infizierte die Praxen außer Gefecht setzten und damit etwa die Versorgung chronisch kranker Menschen gefährdeten. Sie mussten zudem lange darum bangen, ob sie Schutzkleidung in ausreichendem Maß erhalten; Ende März hatte sich diese Frage noch immer nicht geklärt.

Manche Hausärzte zeigten sich in den ersten Wochen der Krise enttäuscht von der Arbeit der öffentlichen Gesundheitsämter. Dr. Henrik Herrmann, Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein, ordnet dies aber nicht als Vorwurf an die dort tätigen Kollegen ein. Im Interview mit dem Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatt verweist er auf die knappe Personaldecke in den Gesundheitsämtern. Vielleicht, so der Präsident, führt die Krise zu einem Umdenken und zu besseren Arbeitsbedingungen in den Gesundheitsämtern. Auf die operierenden Facharztpraxen kamen ganz andere Herausforderungen zu: Planbare Eingriffe wurden in breiter Masse verschoben und auf einmal wurde Kurzarbeit in Arztpraxen ein Thema. Auch in Schleswig-Holstein überlegten Praxischefs mit ihren Steuerberatern, ob und wann dieser Schritt erforderlich wird.

Noch völlig offen war, wie sich eine Ansteckung des medizinischen Personals auf die Versorgung auswirken wird. Meldungen über Infektionen von Ärzten und Pflegepersonal mit den entsprechenden Konsequenzen gab es bereits. Ein Beispiel war das Belegkrankenhaus Agnes Karll in Bad Schwartau. Nachdem sich eine Person aus der Belegschaft infiziert hatte, musste der OP-Betrieb zunächst für zwei Wochen komplett eingestellt werden.

Zu diesem Zeitpunkt musste man aber davon ausgehen, dass mehr Beschäftigte ausfallen und dass zugleich mehr Menschen versorgt werden müssen. Ärztekammer und Pflegeberufekammer starteten deshalb frühzeitig Aufrufe an die von ihnen vertretenen Berufsgruppen. Die Ärztekammer Schleswig-Holstein kontaktierte Mitte März rund 2.500 Mitglieder, die unter 75 Jahre alt sind und nicht mehr ärztlich tätig waren - mit Erfolg: Innerhalb von nicht einmal zwei Tagen meldeten sich rund 500 Ärzte, die in Kliniken, Praxen oder Gesundheitsämtern helfen könnten. Aus dem Pool wird bei Bedarf vermittelt. Stand März war nicht ausgeschlossen, dass diese reaktivierten Ärzte schon Mitte April in der Versorgung unverzichtbar sein werden. Doch nicht nur Ärzte und Pflegekräfte waren gefragt. Landesgesundheitsminister Garg hatte sich mit einem Aufruf an die Medizinstudierenden in Schleswig-Holstein mit der Bitte um freiwillige Unterstützung etwa in einer der Anlaufpraxen oder in der derzeit stark belasteten Leitstelle gewandt. Die Universität in Kiel organisierte zudem Hilfe auch aus anderen Fakultäten.

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4 Medikamente sind die aussichtsreichsten Kandidaten als potenzielles Mittel zur Therapie von COVID-19. Darunter sollen laut Medienberichten ein HIV-Medikament, ein Malaria-Mittel und ein Wirkstoff, der gegen Ebola getestet wurde sein. In entsprechenden Studien ist u. a. das UKSH eingebunden.
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Was konnte Ende März neben der vergleichsweise guten Ausgangslage, neben der Solidarität in weiten Teilen der Gesellschaft und neben der hohen Einsatzbereitschaft von Ärzten und anderen Gesundheitsberufen Mut machen? Dazu kamen zwei Nachrichten aus Kiel und Lübeck. Ein Forscherteam um den Lübecker Prof. Rolf Hilgenfeld hat einen Wirkstoff entwickelt, der gegen das neuartige Coronavirus helfen soll. Am UKSH-Campus in Kiel wurde ein Studienzentrum eröffnet, um die Forschung zum Antivirusmittel Remdesivir zu koordinieren. An der Studie des amerikanischen Herstellers Gilead nehmen mehrere große Lungenkliniken in Deutschland und weltweit rund 50 Zentren teil, rund 600 Patienten sollen eingeschlossen werden. Geleitet wird das neue Studienzentrum von Prof. Stefan Schreiber, Direktor der Klinik für Innere Medizin I in Kiel. Das UKSH arbeitet dabei eng mit der Klinik für Kardiologie, Pneumologie und Intensivmedizin der Imland Klinik Rendsburg unter der Leitung von Prof. Nour Eddine El Mokhtari zusammen. Beabsichtigt ist, die Studie und damit den Zugang zur neuen Medikation auf weitere Lungenkliniken in Schleswig-Holstein auszudehnen. Untersucht werden soll, ob sich durch das neue Arzneimittel der Krankheitsverlauf von Patienten mit moderater oder schwerer COVID-19-Erkrankung im Vergleich zur Standardbehandlung verbessern lässt. Weitere Aspekte sind die Verträglichkeit und Sicherheit des Medikaments. "Remdesivir ist eine möglicherweise vielversprechende Therapieoption für die COVID-19-Erkrankung. Wir sind froh, dass wir unseren Patienten im Rahmen der Studie in den verschiedenen Phasen der Erkrankung ein medikamentöses Angebot machen können", sagt Oberarzt Dr. Rainer Noth, der das klinische Team der Lungenheilkunde am Campus Kiel kommissarisch leitet.

Ursprünglich wurde Remdesivir gegen Ebolaviren entwickelt. An dem Wirkstoff, der die Vermehrung von Viren hemmen soll, wird weltweit geforscht. Erste Ergebnisse werden eventuell in den kommenden Wochen erwartet. Remdesivir ist bislang als Medikament weltweit noch nicht zugelassen und wurde nur im Rahmen individueller Heilversuche eingesetzt.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Zwei Kernthemen der Pandemie im Bild: Der Kieler Laborinhaber Dr. Thomas Lorentz war einer der ersten, der in seinem Labor die Tests auf SARS CoV-2 vornehmen konnte. Den ganzen März hindurch zeichnete sich ab, dass die Tests zu einem Nadelöhr im Kampf gegen das Virus werden könnten. Ein anderes zeigt Lorentz in die Kamera: Schutzmasken waren Mangelware. Den ganzen Monat hindurch suchten medizinische Einrichtungen händeringend nach Lieferanten. Ende März hatten sich die Probleme für die Labormediziner zugespitzt. Der Berufsverband Deutscher Laborärzte (BDL) warnte eindringlich vor den Folgen von Engpässen. Der BDL-Vorsitzende Dr. Andreas Bobrowski aus Lübeck forderte eine umgehende, bessere Ausrüstung mit Schutzkleidung und Nachschub von Testmaterial, aber auch eine bessere Aufklärung der Bevölkerung, um Ärzte von Beratungsleistungen zu entlasten.

- Von der Probenannahme im Labor bis zum Ergebnis auf dem Bildschirm bei Virologe PD Dr. Andi Krumbholz dauert es nur wenige Stunden. Den ersten positiven Befund hatte das Kieler Labor Dr. Krause und Kollegen MVZ GmbH Anfang März - von einer bayerischen Patientin.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 4/2020 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2020/202004/h20044a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
73. Jahrgang, April 2020, Seite 6 - 8
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. April 2020

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