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DEMENZ/037: "Ich hab da was für Sie" - Von der Schwierigkeit, nicht zu verordnen (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 4/2012

Demenz
"Ich hab da was für Sie": Von der Schwierigkeit, nicht zu verordnen

Von Paul Wagner



Eine Fachtagung in Rendsburg beschäftigte sich mit den Problemen der Angehörigen. Zuwendung ist auch für unterstützende Personen von zentraler Bedeutung.

Etwa 40.000 Menschen in Schleswig-Holstein sind an Demenz erkrankt. Oft sind es vor allem die Sorgen und Strapazen der Angehörigen, von denen der Öffentlichkeit wenig bekannt ist. Vor diesem Hintergrund gab es jetzt einen Kongress in Rendsburg.

"Zwischen Liebe und Wut - Leben mit Menschen mit Demenz" - unter diesem Titel richtete sich die Rendsburger Pflege LebensNah mit einem Kongress im Rendsburger Kulturzentrum an Mitarbeiter aus den Pflegeberufen sowie pflegende Angehörige. Schwerpunkt der Vorträge waren Aspekte neuer Wohn- und Pflegeprojekte, die zeigen sollten, welche alternativen Lebensformen für Menschen mit Demenzerkrankung heute möglich sind.

Die Organisatoren sahen in dem Kongress, der mit einem sehr persönlichen Grußwort von Dr. rer. pol. Heiner Garg, Minister für Arbeit, Soziales und Gesundheit des Landes Schleswig-Holstein, eröffnet wurde, außerdem eine Möglichkeit, das Thema Demenz verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken. Dies gelte als ein entscheidender Schritt, um bestehende Tabus und Schamgefühle aufseiten der Betroffenen und insbesondere bei ihren pflegenden Angehörigen zu überwinden. Neben der Situation der Erkrankten seien es vor allem die Belastungen, Hoffnungen und Sorgen der Lebensgefährten, Ehepartner oder Kinder, die innerhalb einer Pflegedebatte angesprochen werden müssten. Deren Gefühle "zwischen Liebe und Wut" hätten oft erhebliche Auswirkungen wie Tabletten- und Alkoholkonsum oder gar körperliche Gewalt gegen erkrankte Menschen.

In den Redebeiträgen sowie in den anschließenden Workshops kam vor allem zum Ausdruck, dass eine Demenzerkrankung das Leben der Betroffenen nicht minder lebenswert mache. "Wir erleben immer wieder, wie viel Freude etwa Musik und Gedichte machen können, wenn sie an die Erinnerungen und Vorlieben von Menschen mit Demenz anknüpfen", sagte Brigitte Voss, Leiterin der Alzheimerberatungsstelle der Pflege LebensNah. Eine entscheidende Rolle spiele dabei die Pflege. Diese stehe ständig vor der Herausforderung, die Lebenssituation erkrankter Menschen in einer vertrauten Umgebung zu verbessern, sagte Brigitte Voss. "Demenzkranke Menschen benötigen eine gute Infrastruktur." Erfahrungen auf diesem Gebiet habe die Pflege LebensNah insbesondere durch das zehnjährige Bestehen einer Hausgemeinschaft gesammelt, in der Menschen mit Demenz gemeinsam unter einem Dach leben. Ein weiterer Schritt zu einem offenen und aufgeklärten Umgang mit der Erkrankung sei die Kampagne "Wir sind Nachbarn - Demenzfreundliche Stadt Rendsburg", die in den vergangenen Jahren bundesweit Beachtung erfahren habe.

Über neue Wege im Umgang mit Demenz sprachen unter anderem Theresia Brechmann, die sich seit 25 Jahren in Bielefeld mit alternativen Wohnmodellen für Demenzkranke beschäftigt, sowie Dr. Ursula Becker, Allgemein- und Palliativmedizinerin aus Bonn, die speziell zum Thema Medikation geforscht hat und kritische Schlüsse zieht.

"So viel Zuwendung wie möglich, so viel Medikation wie nötig", fasste Dr. Ursula Becker die Ergebnisse verschiedener Studien zum Einsatz von Medikamenten bei demenzerkrankten Patienten zusammen. Die Bonner Medizinerin plädierte in ihrem Vortrag für einen umsichtigen Einsatz bestimmter Medikamente. Vor allem Psychopharmaka würden häufig verschrieben, "nicht, um es den betroffenen Patienten leichter zu machen, sondern, um es uns leichter zu machen", warnte Dr. Ursula Becker. Diese Gründe seien besonders kritisch zu hinterfragen.

Das Zusammenspiel von Medikamenten gegen eine Vielzahl von Beschwerden wie Durchblutungsstörungen, Diabetes, Arthrose oder Herzinsuffizienz, unter denen ältere Demenzpatienten oft zusätzlich leiden, sei in weiten Bereichen nicht ausreichend erforscht. Studien hätten jedoch gezeigt, dass bis zu 50 Prozent der Medikamente ohne gesundheitliche Folgen für die Patienten abgesetzt werden könnten. "Warum tun wir das, wenn wir doch wissen, dass es nicht sinnvoll ist?", fragte die Medizinerin angesichts der bekannten Probleme. Verschiedene Antworten kämen dabei zusammen: Zum einen wecke der Satz "Ich habe da etwas für Sie" Hoffnungen bei den Patienten; zum anderen falle es auch den Medizinern schwer, Hilfesuchenden nichts zu verschreiben. "Wir geben alle gern", sagte Dr. Ursula Becker. Die Bonner Ärztin sprach sich für einen bewussteren Einsatz medikamentöser Behandlung aus und verwies auf die sogenannte PRISCUS-Liste (www.priscus.net), in der für ältere Menschen potenziell ungeeignete Medikamente verzeichnet sind. "Verbesserte Medikamente und Behandlungsmethoden sind die eine Seite. Sie ist wichtig, aber nicht ausschlaggebend. Von zentraler Bedeutung bleibt Zuwendung für die Erkrankten und für ihre Unterstützerpersonen. Einfühlung, Respekt, Anerkennung und Ermutigung stärken die Hilfskräfte der Helfer und der Erkrankten", sagte die Medizinerin am Rande des Rendsburger Kongresses.

Auf ganz andere Initiativen zum Thema Demenz konzentrierte sich die ehemalige Gemeindeschwester und Altenpflegerin Theresia Brechmann in ihrem Vortrag. Sie ist Mitbegründerin des anerkannten "Bielefelder Modells", eines Projekts, bei dem Wohnungsunternehmen, Kommunen und ambulante Pflegedienste das Lebensumfeld demenzerkrankter Menschen und ihrer Angehörigen gemeinsam verbessern. Beim Bielefelder Modell stellen Wohnungsunternehmen und ambulante Pflegedienste Räume und Büros zur Verfügung. Für jeweils etwa 500 bis 800 Haushalte in der sogenannten "Rollatoren-Reichweite" von maximal 500 Metern gebe es ein Quartier mit Wohnprojekten, Gästewohnung, Servicestützpunkt, Wohncafé und Dienstleistungen aus einer Hand. Dort werden mit Partnern wie Kirchen, Vereinen und Schulen Nachbarschaftstreffs, Kochabende oder Aktivgruppen organisiert. Eine besondere Stütze der verschiedenen Stadtteilprojekte sind dabei ehrenamtliche Helfer, die sich vor allem in der Gruppe der 55-jährigen Rentner und Frührentner finden. "Die ehrenamtlich tätigen Bürger sind das zukünftige Fundament der Nachbarschaftshilfe im Wohnviertel", unterstrich die Expertin und verwies auf ähnliche Projekte in den Vereinigten Staaten sowie in Kanada. Die sogenannten Senior Experten können dabei auf ein aktives Berufsleben zurückblicken, sind wirtschaftlich unabhängig, kreativ, engagiert und hoch motiviert, sagte Theresia Brechmann. Die Zeiten, ausreichend Ehrenamtler zu finden, seien gut. "Gerade die Alt-68er, die jetzt in den Ruhestand gehen, sind eine ganz kreative Truppe", sagte Brechmann und warnte: "Es ist eine Illusion zu glauben, dass künftig genügend junge Leute da sind, die sich kümmern. Die wird es nicht geben."

Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 4/2012 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2012/201204/h12044a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Dr. Ursula Becker
- Theresia Brechmann

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt April 2012
65.‍ ‍Jahrgang, Seite 28 - 29
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-119, -127, Fax: -188
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Mai 2012