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ARTIKEL/1088: Das Gesundheitssystem braucht mehr Teamplayer und weniger Einzelkämpfer (highlights)


"highlights" - Heft 21 / September 2009
Informationsmagazin der Universität Bremen

"Mehr Teamplayer, weniger Einzelkämpfer"


Das deutsche Gesundheitssystem ist schon immer eines der umstrittensten gesellschaftlichen Themen. Ein Interview dazu mit Professor Gerd Glaeske vom Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen, einem der führenden deutschen Experten auf dem Gebiet der Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik und Versorgungsforschung. Glaeske ist unter anderem Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen.

highlights: Herr Glaeske, wieso wird um das Gesundheitswesen in Deutschland seit Urzeiten so erbittert gerungen? Eigentlich sollte ja eine reiche Industrienation ihre Bürger gut und umfassend medizinisch versorgen können.

Prof. Glaeske: Die meisten der 70 Millionen Menschen in der gesetzlichen Krankenversicherung - und nur über die möchte ich reden - sind mit dem Gesundheitssystem ja zufrieden. Denn es funktioniert: Wir haben immer Zugang zu Ärzten und Krankenhäusern, und wenn es neue und bessere Arzneimittel oder Heil- und Hilfsmittel gibt, kann man die auch bekommen. Im System gibt es dennoch immer wieder Probleme, weil die Anbieter keine Ruhe geben. Eine Gesundheitsministerin hat einmal gesagt, das Gesundheitssystem sei ein Haifischbecken. Es ist zwar gut, aber trotzdem begrenzt mit Geld ausgestattet - derzeit mit 167 Milliarden Euro im Jahr, die von den Versicherten zu den Ärzten, Krankenhäusern, Apotheken oder zur Pharmaindustrie gehen. Da ist ein einziger Umverteilungskampf im Gange, der einen riesigen Druck auf das Gesundheitswesen macht.

highlights: Geht nicht viel Geld schon dadurch verloren, dass das Gesundheitswesen nicht effizient genug ist?

Prof. Glaeske: Ja. Die Frage der Effizienz spielt im Sachverständigenrat immer wieder eine große Rolle. Denn das System hat Schwächen, und die Palette der Probleme ist breit. Es gibt nach wie vor eine Unter-, Über- und Fehlversorgung. Geld ist genügend da, es fließt nicht immer da hin, wo es hingehört. Beispiele für Unter- und Fehlversorgung gibt es bei Demenzkranken, Beispiele für Überversorgung beim Einsatz von Antibiotika. Dennoch: 70 bis 75 Prozent der medizinischen Versorgung klappen gut. Aber durch permanent steigende Kosten kommt das System an seine Grenzen. Die muss man sehr genau ausloten und schauen, wie man trotzdem die umfassende Versorgung der Versicherten hinbekommt.

highlights: Warum macht der Staat nicht schärfere Vorgaben und reguliert stärker - so, wie er es jetzt im Bankenwesen versucht ...

Prof. Glaeske: ... und schon dort gegen Wände rennt. Im Gesundheitssektor ist das noch schwieriger. Hier gibt es eine irrsinnige Anzahl von Mitspielern. Und ich möchte betonen, dass es keinen Bereich gibt, in dem in Berlin so viele Lobbyisten tätig sind wie im Gesundheitswesen. Als Politiker wird man permanent damit konfrontiert, dass praktisch jeder Bereich der wichtigste ist. Die Begehrlichkeiten jeder Seite sind hoch. Weil das Thema Gesundheit uns alle betrifft, fallen die Diskussionen und Aktionen stets auf fruchtbaren Boden und sind in den Medien dauerpräsent. Manche Politiker scheuen vielleicht auch harte Einschnitte, damit sie nicht Zielscheibe der Kritik werden. Grundsätzlich gilt aber, dass wir zumindest relativ klare Rahmenbedingungen im Gesundheitssektor haben, abgebildet durch den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung.

highlights: Dominieren wirtschaftliche Interessen den Gesundheitssektor in Deutschland?

Prof. Glaeske: Letztlich ja. Denn Ärzte, Apotheken, Pharmaindustrie und zunehmend auch Krankenhäuser sind private, nicht-staatliche Anbieter. Sie alle wollen ihre Position verbessern. Die Medizin schafft eine Nachfrage auf Seiten der Patienten, indem sie sich diesen mit ihren Leistungen immer wieder andient. Weil die Patienten sich auf die Entscheidungen der Experten verlassen, kann eine Systemveränderung nicht von dieser Seite erwartet werden. Die kann nur auf Seiten der Anbieter beginnen. Ein Beispiel: Wir Deutschen gehen im Durchschnitt 17,4-mal im Jahr zum Arzt - so oft wie kein anderes Volk in Europa. Die meisten Mediziner haben als "Unternehmer" natürlich ein Interesse daran, dass der Patientenstamm stabil bleibt. Dadurch gerät aber eher die Behandlung von Krankheit ins Zentrum des Gesundheitssystems - nicht die Förderung der Gesunderhaltung.

highlights: Der Wettbewerb im System sollte ihrer Meinung nach also nicht um die Zahl der Patienten, sondern um Effizienz und Qualität der Behandlung kreisen?

Prof. Glaeske: Genau. Durch den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung ist klar, welche Leistungen erbracht werden müssen. Jetzt sollten von den Anbietern aber auch diejenigen bevorzugt werden, die ihre Qualität nachweisen. Denn eine qualitativ gute Behandlung ist auf Dauer ohnehin auch die effizienteste. Das Schwierige in diesem System ist, einen Maßstab für Qualität zu finden. Das ist im Krankenhaus vielleicht noch einfach, wenn ein Patient nach einer Operation gesund und mit wiederhergestellter Lebensqualität entlassen wird. Aber wie sieht es bei der dauerhaften Diabetesbehandlung eines Übergewichtigen aus?

Dass beste Ergebnis wäre ja, wenn der Arzt dem Übergewichtigen schon vorher mehr Bewegung und bessere Ernährung empfiehlt, so dass Diabetes gar nicht erst eintritt. Doch genau das passiert zu selten. Die Frage ist also: Wie können wir auf ein auf Krankheitsbehandlung orientiertes System über Anreize so verändern, dass künftig Gesundheit und Prävention gleichberechtigt berücksichtigt werden? Ein weiteres Problem sind große Verluste an den Schnittstellen der Sektoren, etwa von der stationären zur ambulanten Behandlung. Da fehlt es oft an Kooperation und Koordination.

highlights: Wie könnte ein Weg aussehen, um das deutsche Gesundheitssystem zu verbessern, es zukunftsfähig und finanzierbar zu machen?

Prof. Glaeske: Wie ich bereits sagte: Durch mehr Kooperation und Koordination, ergänzt durch verstärkte Kommunikation und Transparenz. Es muss nicht eine Vielzahl von konkurrierenden Sektoren und Mitspielern geben, die mehr Geld als nötig verbrauchen - Geld aus den Taschen der Versicherten wohlgemerkt. Aber der Gedanke, für das deutsche Gesundheitssystem ein integratives Modell zu schaffen, steht leider noch ganz am Anfang. Wir haben zu viele Strukturen, die die einzelnen Interessen begünstigen, und zu wenige Menschen, die miteinander arbeiten. Oder noch einfacher: Was das deutsche Gesundheitssystem braucht, sind mehr Teamplayer und weniger Einzelkämpfer.

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Quelle:
highlights - Informationsmagazin der Universität Bremen
Heft 21 / September 2009, Seite 6-7
Herausgeber: Rektor der Universität Bremen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Dezember 2009

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