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STANDPUNKT/002: Das grüne Konzept für eine strukturelle Gesundheitsreform (NG/FH)


Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte Nr. 9/2010

Transparenz - Effizienz - Innovation
Das grüne Konzept für eine strukturelle Gesundheitsreform

Von Tarek Al-Wazir/Kordula Schulz-Asche


Seit den 70er Jahren steigen die Kosten für die Gesetzliche Krankenversicherung stetig an. Doch statt den Mut für eine ehrliche Kosten-Nutzen-Transparenz aufzubringen mit dem Ziel grundlegender Strukturreformen, reagiert die Politik nur mit kurzfristig wirksamen Notlösungen. Die Grünen begegnen dieser gesundheitspolitischen Herausforderung u.a. mit dem Vorschlag einer Bürgerversicherung. Fortsetzung unserer Debattenreihe.


Gesundheit ist wichtige Voraussetzung für Teilhabe an unserer Gesellschaft. Unser Ziel ist ein Gesundheitssystem für Menschen jeder Altersgruppe, jeder sozialen Schicht und jeden kulturellen Hintergrundes sowie ihre Befähigung, ihre Gesundheit zu pflegen und im Krankheitsfall bestmögliche Medizin, Pflege und Rehabilitation zu erhalten. Unser Hauptinteresse gilt dabei den Menschen: Wissen über Gesundheit und Krankheitsrisiko von klein auf, für die Versicherten bezahlbare Beiträge, eine an Patientinnen und Patienten orientierte Versorgung, gute Arbeitsverhältnisse für die Beschäftigten.

Das ist alles leicht gesagt. Frieden und Fortschritt führen dazu, dass unsere Gesellschaft stetig älter und vielfältiger wird. Der Bevölkerungsanteil der Menschen, die in die Sozialversicherungen einzahlen, sinkt. Gleichzeitig steigt z.B. die Zahl der Menschen, die älter als 75 Jahre sind. Während in den Ballungsgebieten die Zahl der Einwohner steigt oder zumindest stagniert, wird die Versorgung mit lebenswichtigen Gütern - auch für die Gesundheit - in ländlichen Räumen ausdünnen.

Das Gesundheitswesen ist in Deutschland ein Wachstumsmarkt - welche Rolle hat hier der Staat? Es ist Zeit für eine ehrliche Bestandsaufnahme: Wo können wir Überflüssiges einsparen? Wo können wir Vorhandenes effektiver organisieren? Wo gibt es Potenziale und Innovationen für die Zukunft? Und wie können wir die dafür notwendige finanzielle Basis nachhaltig sichern?


Verbraucherschutz stärken

Die Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland sind trotz ständiger Kostendämpfungsversuche seit den 70er Jahren ständig gestiegen - auf rund 170 Mrd. Euro im Jahr 2009. Allein die Ausgaben für Arzneimittel stiegen im Krisen-Jahr 2009 um 5,3% auf 32,4 Mrd. Euro. Der von der schwarz-gelben Bundesregierung jetzt beschlossene Zwangsrabatt ist nur eine kurzfristige Notlösung auf Kosten der Patienten. Notwendig wäre hingegen eine wirkliche Nutzen-Transparenz, u.a. durch Veröffentlichung aller Studienergebnisse und eine ehrliche Bewertung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses, um die Entwicklung echter Innovation zu stärken. Arzneimittel, die das Zulassungsverfahren erfolgreich durchlaufen haben und deshalb in der Krankenversicherung erstattungsfähig sind, sollten in einer Positivliste aufgeführt werden.

Weitere Einsparpotenziale müssen diskutiert werden. Beispielsweise kommen in Deutschland auf eine Apotheke 3.800 Einwohner (dazu im Vergleich Dänemark: 16.800 bzw. Griechenland: 1.200 Einwohner). Wie viele Apotheken sind für eine gute Versorgung notwendig? Und bei einigen Krankenkassen ist sicher die Höhe der Verwaltungskosten zu hinterfragen.

Gerade Versicherte und kranke Menschen müssen als Verbraucher auf Augenhöhe im Gesundheitswesen mitreden können. Dazu gehören Qualitätsvergleiche zwischen Kassen, Ärzten und Krankenhäusern. Zur Kostentransparenz gehört aber auch, dass alle Patientinnen und Patienten einmal im Quartal eine verständliche Abrechnung ihrer in Anspruch genommenen Leistungen erhalten.


Gute Versorgung effizienter anbieten

Das in Deutschland gewachsene Gesundheitssystem mit der Trennung von ambulanter und stationärer Versorgung erweist sich zunehmend als Hindernis für eine moderne patientenorientierte Versorgung guter Qualität. Überversorgung in Ballungsräumen und bereits einsetzende Unterversorgung in ländlichen Gebieten machen die Diskussion einer grundsätzlichen Strukturreform notwendig. Unter dem Stichwort "Integrierte Versorgung" fordern wir eine bessere Zusammenarbeit von niedergelassenen Ärzten, Krankenhäusern und Rehabilitationseinrichtungen. Und auch die doppelte Facharztstruktur in Praxis und Krankenhaus - ein deutsches "Alleinstellungsmerkmal" - ist nicht nur ein fraglicher Kostenfaktor, sondern auch mit erheblichem Aufwand für Ausbildung und Qualitätssicherung verbunden. Stattdessen halten wir ein flächendeckendes Hausarztangebot, Gesundheitszentren mit verschiedenen Fachbereichen und gut vernetzte Krankenhäuser für die beste Lösung. Ergänzt durch gute ambulante Pflege und eine moderne wohnortnahe Gemeindepflege ist auch kleinräumig die demografische Entwicklung berücksichtigt. Dafür halten wir die Aufwertung der Gesundheitsämter zu Moderatoren und Koordinatoren der regionalen Angebote für notwendig.

Die Krankenhäuser stehen vor erheblichen Problemen. Seit 2004 bemisst sich die Vergütung der Krankenhausleistungen nach sogenannten Fallpauschalen, das heißt nicht mehr nach der Aufenthaltsdauer, sondern die Vergütung wird diagnoseabhängig und nach dem Behandlungsaufwand festgelegt. In Hessen ist in der Folge die Dauer der Krankenhausaufenthalte von 13 Tagen 1991 auf heute weniger als acht Tage gesunken. Damit einher gingen ein starker Abbau von Betten, Schließung ganzer Stationen und ein noch nicht abgeschlossener Prozess der Schließung von Krankenhäusern. Neben interner Modernisierung der Krankenhäuser sehen wir die Notwendigkeit von regionalen Kooperationen und Fusionen. Effizienz in Krankenhäusern bei guter Qualität ist nicht mit weiterem Personalabbau zu erreichen.


Forschung und Prävention verbessern

Prävention und Gesundheitsförderung sind noch immer die Stiefkinder in unserem Gesundheitssystem. Unser Leitbild ist das freie Individuum und seine Befähigung zu gesundem Leben - durch Stärkung der Persönlichkeit von klein auf, Wissen über Gesundheit und Krankheitsrisiken und soziale Rahmenbedingungen von Lern- und Arbeitsbedingungen bis hin zu Wegen aus der Armut. Hier können durch eine bessere Zusammenarbeit von Gesundheitsämtern mit Gesundheits-, Bildungs-, Freizeitangeboten und Unternehmen erhebliche Effizienzgewinne erzielt werden - nicht heute bei den direkten Kosten, aber mittelfristig bei der positiven Wirkung auf Gesundheit und damit langfristig auch auf die Krankenversicherung.

Um der Prävention einen grundlegend neuen Stellenwert zu schaffen, braucht es ein Präventionsgesetz. Nur so kann die Prävention wirklich zur vierten Säule der Gesundheitsversorgung - neben Medizin, Pflege und Rehabilitation - werden. Damit wollen wir Freiraum für Fantasie und Innovation schaffen.

Zudem brauchen wir mehr Forschung und vielfältige Lehre in allen Bereichen des Gesundheitswesens. Dazu gehört neben den klassischen Forschungsfeldern zum Beispiel der Zusammenhang von Gesundheit/Krankheit und Kultur, die Therapie oder Linderung von Schmerz, die Wirkung von Naturheilverfahren in Wechselwirkung mit der Schulmedizin, die Begleitung des Sterbens, um nur einige offene Fragen anzusprechen.

Am Ende aber wird jede Form von Medizin und Pflege nur gelingen, wenn Patientin und Patient Partner auf Augenhöhe sind: selbstbestimmt und in alle Entscheidungsprozesse einbezogen.


Die Grüne Bürgerversicherung

Die Grünen plädieren seit Jahren für die Einführung einer Bürgerversicherung. Bisher können sich ausgerechnet die jungen, wirtschaftlich leistungsstärksten und damit in der Regel auch die gesündesten Gruppen dem Solidarprinzip entziehen. Und gerade diejenigen, die arm sind, werden aus verschiedensten Gründen häufiger krank und haben oft einen schlechteren Zugang zu guter Behandlung. Die heutige Trennung von gesetzlicher und privater Versicherung führt zu unsozialen Verzerrungen bei Versorgung und Finanzierung.

Im Gegensatz dazu bezieht die Bürgerversicherung alle in den Solidarausgleich ein, so auch Beamte, Selbstständige, Abgeordnete und gutverdienende Angestellte. Es werden alle Einkunftsarten berücksichtigt, auch Mieten, Zinsen und Vermögenseinkommen, deren Anteil am Volkseinkommen trotz Wirtschaftskrisen stetig zunimmt. Wir wollen alle in die Pflicht nehmen und dadurch die Grundlage der Finanzierung nachhaltig verbreitern.

Mit der Grünen Bürgerversicherung wollen wir die individuelle Absicherung für jeden garantieren. Kinder sollen weiterhin kostenlos mitversichert sein. Aber die Mitversicherung von Ehepartnerinnen und -partnern soll nur noch gelten, solange Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt werden. Für alle anderen Ehepaare wollen wir ein Beitragssplitting einführen.

Die Bürgerversicherung ist nicht nur gerecht, sondern auch nachhaltig. Und sie ist keine Einheitsversicherung: Gesetzliche und private Versicherungen sollen innerhalb des gleichen Rechtsrahmens miteinander konkurrieren können. Das stärkt den Wettbewerb für mehr Patientenorientierung, Qualität und Wirtschaftlichkeit.

Die Bürgerversicherung allein löst natürlich nicht alle Probleme: Für ein Gesundheitswesen, das die Menschen stärker in den Mittelpunkt rückt, die Versorgungsqualität nachhaltig sichert und mehr gesundheitliche Chancengerechtigkeit bietet, sind Reformen gerade auch in der Versorgung überfällig.


Tarek Al-Wazir (* 1971) ist Landes-Vorsitzender der Grünen in Hessen und Fraktionsvorsitzender im Hessischen Landtag.
t.al-wazir@ltg.hessen.de

Kordula Schulz-Asche (* 1956) ist Landesvorsitzende, stellvertretende Fraktionsvorsitzende und Sprecherin für Soziales, Frauen, Gesundheit und Alter von Bündnis 90/Die Grünen.
k.schulz-asche@ltg.hessen.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2010, S. 60-63
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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Die NG/FH erscheint monatlich, wobei die Hefte 1+2
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Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Oktober 2010