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STELLUNGNAHME/019: Brutaler Gesundheitsmarkt (Manfred Lotze, IPPNW)


Zivilklausel-Zukunftskongress 2014
Für eine Wissenschaft und Kultur des Friedens

BRUTALER GESUNDHEITSMARKT
Neoliberale Transformation contra demokratische Gesundheitspolitik

von Dr. Manfred Lotze, IPPNW



Bei dem nachfolgenden Text handelt es sich um ein Referat, das Dr. Manfred Lotze am 25.10.2014 auf dem Zivilklausel-Zukunftskongress (24.-26.10.2014 in Hamburg) im Rahmen der AG 7 "Medizin - humanisierend oder marktkonform?" gehalten hat.


Mein Referat habe ich unterteilt in 3 Themenkreise:

  1. Ursachen und Mittel der neoliberalen Transformation des Gesundheitswesens seit den 90er Jahren
  2. Gegenwehr von Bürgerinitiativen und Politik
  3. Was bedeutet Zivilklausel in der Medizin?
    Also, worin besteht der Bezug meines Beitrags zum Kongressthema? Worin besteht der militarisierende Aspekt des kapitalistischen Gesundheitsmarktes?

A. Ursachen und Mittel der neoliberalen Transformation des Gesundheitswesens seit den 90er Jahren.

Unser Gesundheitssystem wird umgesteuert, und kaum jemand versteht, was da geschieht. Viele Beschäftigte im Gesundheitswesen nennen das, was ihnen selbst widerfährt, Wahnsinn. Der Wahnsinn hat Methode.

Es begann 1997 mit einer "Studie" der Wirtschaftsberaterfirma Roland Berger im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit unter dem Titel "Telematik im Gesundheitswesen - Perspektiven der Telemedizin in Deutschland". Neben der Bertelsmann-Stiftung wirkte Roland Berger dann als Ratgeber der rot-grünen Politik an der "Agenda 2010" und den "Hartz-Reformen", an der Umwandlung der Arbeitsämter in Agenturen und der Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre mit; der Firmenchef Roland Berger gehörte der Rürup-Kommission an. Als Sprachrohr der neoliberalen Denkfabrik "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" erklärt er den Sozialstaat - wie ihn das Grundgesetz fordert - zum historischen Relikt ohne modernen Gebrauchswert.

Eine der Hauptlügen der Ideologen des Freien Marktes ist die Behauptung, unser Gesundheitswesen werde immer teurer. Tatsächlich liegen seine Kosten seit über 30 Jahren zwischen 10,1 und 10,6 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). Oliver Decker, der an den Universitäten Siegen und Leipzig Sozial- und Organisationspsychologie lehrt, sagt: "Das Problem ist nicht, daß die Kosten steigen, sondern daß die Kosten nicht steigen können und damit die Wertschöpfung nicht weiter ansteigen kann." Der Anteil am BIP konnte so lange nicht steigen, weil er reglementiert war. Das Gesundheitswesen wird nun aber seit 20 Jahren nach Maßgabe seiner Industrialisierung Zug um Zug dereguliert. Vorbild sind die USA mit den exorbitant höheren Kosten, weil dort Gesundheit eine Ware in der Gesundheitswirtschaft ist.

Den internationalen Rahmen für den neoliberalen Ausverkauf des Menschenrechts auf Gesundheit stellte das Allgemeine Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) her, dem 1995 auch Deutschland beitrat.

Die Empfehlungen jener Berger-Studie liefen alle darauf hinaus, das gesamte Gesundheitswesen den Regeln der Betriebswirtschaft zu unterwerfen. Zitat: "Das Primat der Bilanzen wird zum universellen Gesetz, zu einem heiligen Postulat", hat schon Viviane Forrester in ihrem Buch "Der Terror der Ökonomie" konstatiert. Und so ist nun das Bundesgesundheitsministerium damit beschäftigt, die Berger-Thesen Schritt für Schritt in Gesetze zu fassen: die Privatisierung zu fördern, die Unternehmen zu konzentrieren, wodurch wir auf viele Krankenhäuser und wohnortnahe Facharztpraxen verzichten werden müssen. Mit umfassenden Kontrollsystemen werden die "gläsernen Patienten" und der "Dienstleister-Arzt" geschaffen. Statt der Schweigepflicht kommt eine Meldepflicht.

So entwickelt sich alles wie in den USA: In den health-maintenance organisations (HMO's), profitorientierten Versicherungsunternehmen, entscheiden die Angestellten im Callcenter anhand einer Strichliste, ob die Kosten für eine vom Arzt für notwendig erachtete Operation oder teure Diagnostik übernommen werden oder nicht. Bisher nur Ärzten anvertraute Tätigkeiten werden zunehmend nichtstudierten Assistenten übertragen, die in den USA als "generic docs" deutlich kostengünstiger eingestellt werden als der "Original-Arzt". Im Ergebnis hat sich in den USA schon die "Drei-Klassen-Medizin" durchgesetzt: Für die Reichen die Rundum-Versorgung, für die Mittelklasse das Notwendige, das oft nur durch Verkauf von Wertsachen zu finanzieren ist, und für 45,8 Millionen nicht krankenversicherte Menschen (die Zahl aus dem Jahre 2004 kann sich inzwischen erhöht haben) keine ärztliche Hilfe. Ab dem Jahr 2014 wird eine Versicherungspflicht für die meisten Einwohner eingeführt durch die sog. Obamacare. Kritiker in den USA sprachen insgesamt von einer Verschlechterung der allgemeinen Versorgung.

Ein aktuelles Beispiel ist in der jungen Welt am 18. Oktober zu lesen. Unter der Überschrift "Profit vor Gesundheit" schreibt Mumia Abu-Jamal:

"Seit dem Tod von Thomas Duncan, der am 20. September aus dem westafrikanischen Liberia nach Dallas, Texas, geflogen war und kurz nach der Ankunft mit Ebola-Symptomen ein Krankenhaus aufgesucht hatte, ... Als Duncan hilfesuchend das Texas Health Presbyterian Hospital in Dallas betrat, wurde er von einer Angestellten, die man dort 'Screener' nennt, befragt. Sie schickte ihn mit einem Antibiotikum nach Hause. Diese Person war kaum medizinisch geschult und hatte nur die Aufgabe, Patienten in Empfang zu nehmen und ihre Beschwerden in einem Fragebogen zu erfassen. Mit Sicherheit gehört sie nach den Reinigungskräften zu den am schlechtesten bezahlten Beschäftigten des Krankenhauses. Diesem privatwirtschaftlich orientierten Geschäftsmodell folgen heutzutage die meisten Gesundheitseinrichtungen in den USA. Es erweist sich immer wieder als ineffektiv, gefährlich und alles andere als gesundheitsbewusst. Ursache dafür ist eine unternehmerische Entscheidung, deren erster Grundsatz Profitabilität ist und nicht der Schutz des Lebens."

In unserem Land kaufen private Klinikketten wie Rhön, Asklepios, Helios und Sana die kommunalen Kliniken auf und verwandeln auch den ambulanten Medizinsektor in ein profitables Geschäftsfeld, indem sie Fachärzte in Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) anstellen. Die "Gesundheitsreform"-Gesetze unterstützen die Konzerne in ihrem Bestreben, die Patienten möglichst für alle - ambulante und stationäre - Behandlungen an sich zu ziehen. Mit Unterstützung der Massenmedien legen sie sich ein glänzendes Image zu und bieten Gesundheit als Ware auf dem angeblich freien - aber von ihnen schon weitgehend besetzten - Markt an, zum Beispiel mit Qualitätssternen wie in der Restaurantwerbung.

Nutzen und Schaden sind verteilt: Nutzen für die Konzerne, Schaden für Patienten, Ärzte, Schwestern. Arztbesprechungen in Krankenhausabteilungen drehen sich immer häufiger um Abrechnungsprobleme statt um bessere Behandlung.

Die Globalisierung der deutschen Gesundheitswirtschaft hat sich seit 2011 die "Export-Initiative Gesundheitswirtschaft" zur Aufgabe gemacht. Auch hier geht es um Märkte und nicht um Gesundheit für alle. Der Newsletter des German Foreign Policy vom 23.9.14 bringt eine informative Zusammenfassung:
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58955

Die Schlüsselrollen auf dem Gesundheitsmarkt spielen: elektronische Gesundheitskarte, elektronische Patientenakte und Telemedizin. Vorgeschobene Argumente sind Stärkung der Patientenrechte, der Transparenz und des Services. Die Speicherung der Gesundheitsdaten aller Bürger auf zentralen Servern der Versicherungen entwerten das Arzt-Patienten-Vertrauen und legen wichtige Entscheidungen in die Hände der Health Care Manager und der Angestellten der Call Center, um die Versorgung nach Leistungskriterien zu begrenzen. Das Versorgungsrisiko der Patienten, das diese oft nicht erkennen und meist auch nicht abwehren können, ist Folge der Wettbewerbsideologie. Unsere regierenden Gesundheitspolitiker übernehmen die Lobby-Strategien von Roland Berger und Bertelsmann und machen Patienten zu Kunden. Zitat:

"Kranke können jedoch in der Regel die Kundenrolle, derer funktionierende Märkte bedürfen, nicht spielen. Es wird unterstellt, die Patienten seien durch Informationsbeschaffung in der Lage, die Rolle eines Geschäftspartners und kritischen Kunden zu spielen. Was hier nicht vorkommt, ist die 'brutale Realität des Krankseins' als emotionales Ereignis. Verdrängt wird, daß Krankheit eine existentielle Bedrohung in sich birgt und daß die Kranken konfrontiert und bedrückt sind mit Schmerzen und Sorgen um Gefahren von dauerhafter Behinderung und Tod." (Hagen Kühn: "Wettbewerb im Gesundheitswesen?"  
(erschienen in: Westfälisches Ärzteblatt, 6/04)  

Wirtschaftlicher Wettbewerb bringt die Ärzte in Identitäts- und Interessenkonflikte. In Ärzteschaft und Pflegeberufen wächst die Frustration.

Besonders brisant wird die Krankendatenspeicherung vor dem Hintergrund des zentral gesteuerten Netzwerks mit Job Card und elektronischem Personalausweis - dieser angedacht mit noch passiv ablesbaren Speicherchips (mit RFID's).

Die Solidarität, das Prinzip der gegenseitigen Hilfe ohne Vorbedingungen und die informationelle Selbstbestimmung bleiben bei diesen Verwaltungs- und Überwachungstechniken auf der Strecke. Michel Foucault hat die Rationalität unserer Gesellschaft als eine ökonomische beschrieben, und folglich steht das Wirtschaftsindividuum, der Gesundheitskonsument unter der Selbstkontrolle. Diese geht heute schon so weit, daß Patienten ihre Krankenakte selber bei Internet-Anbietern speichern können. Sie fragen: Welches Geld steht mir noch für welche Zusatzleistungen zur Verfügung? Welche Vorsorge erfülle ich wann? Habe ich persönliche Gesundheitsrisiken minimiert? Wie dokumentiere ich das? War ich regelmäßig beim Arzt? Habe ich Angebote meiner Versicherung wahrgenommen? Und so weiter.

So erhält Krankheit wieder den Stempel der Schuld. Gleichzeitig kommt der gesunde Körper, lange bevor er erkrankt, unter das Vorzeichen von Krankheit. Das ist eine neue Entwicklung, die Ivan Illich als Medikalisierung des Lebens beschrieben hat. Er setzt dem entgegen: "Gesunde Menschen brauchen keine bürokratische Einmischung" (in "Die Nemesis der Medizin", 1977).


B. Gegenwehr von Bürgerinitiativen und Politik

Der Widerstand gegen die Zerschlagung unseres auf Solidarität und Ethik gegründeten Gesundheitssystems wächst. Alle Deutschen Ärztetage seit 2007 haben die Einführung der e-Card abgelehnt. Im Dezember 2007 hat sich ein bundesweites Bündnis aus Ärzten und Ärzteverbänden, Patienten, Juristen, Informatikern und humanitären Organisationen bis hin zum Chaos Computer Club gegründet. Ihm gehören zur Zeit 54 Organisationen an. Dagegen versuchen Bundesärztekammer, Gematic und Regierung diese demokratischen Warner zu marginalisieren und scheinen unbeirrt von gescheiterten Testversuchen den neoliberalen Gesundheitsmarkt per Gesundheitskarte freigeben zu wollen - frei zur Übernahme durch die Konzerne.

Meine komprimierte Darstellung wird und soll zu Fragen und Widerspruch anregen. Mehr Informationen sind zu finden unter:

http://www.stoppt-die-e-card.de
http://www.diekrankheitskarte.de
http://www.ippnw.de/Soziale-Verantwortung → "E-Card stoppen"     

Was ist hier und heute wichtig?

Datenschutz für personenbezogene Krankheitsinformationen, also ausnahmslos keine zentralen Serverstrukturen.

Deshalb keine Online-Zugänge für die elektronischen Gesundheitskarten, keine elektronische Patientenakte.

Weitere Gutachten und Veranstaltungen zur Aufklärung werden folgen. "Die elektronische Gesundheitskarte ist illegal" titelte das Hamburger Abendblatt am 4. Februar 2014 auf der 1. Seite, weil die Fotos nicht von den Kassen überprüft wurden. Auf weitere Zweifel an der Rechtmäßigkeit kann ich hier nicht eingehen. [*]

Die Linkspartei ging noch einen Schritt weiter und forderte den generellen Stopp der eGK. Die Linke sieht in dem ehrgeizigen Telematik-Projekt längst nur noch ein Milliardengrab. Einzelne sinnvolle Anwendungen wie das e-Rezept müssten aber nicht zwingend online übertragen werden, sondern könnten auch mit USB-Sticks umgesetzt werden. Der Vorteil dabei wäre, dass die Patienten in jedem Falle die Kontrolle über ihre Gesundheitsdaten hätten.
(Aus: Krankenkassen Ratgeber 22.9.14)

Werfen wir einen Blick auf weltweite Bemühungen, die Gesundheit zu verbessern: Die WHO hat 2008 ihren Bericht über die sozialen Determinanten von Gesundheit vorgelegt. Ich gehe darauf gleich näher ein.

Im Februar dieses Jahres veröffentlichte die von der norwegischen Regierung mitfinanzierte "Lancet-University of Oslo Commission on Global Governance for Health" ihren Bericht über die politischen Determinanten, also die für Gesundheit maßgebenden Umstände. Dieser bringt für Interessierte viele kritische Hinweise auf Alternativen. Der britische IPPNW-Experte für internationale Gesundheit David McCoy sah aber in diesen Empfehlungen entscheidende Mängel gegenüber den Analysen auf der Zweiten Frankfurter Hilfe-Konferenz vom 20.-22.02.2014 "Beyond Aid - Von Wohltätigkeit zu Solidarität".
(http://www.medico.de/themen/aktion/dokumente/beyond-aid/4553)


C. Was bedeutet Zivilklausel in der Medizin?

Vorweg eine Begriffsklärung:
Zivil steht im Gegensatz zu militärisch, so wie gewaltfrei zu gewaltsam. Wichtig ist zu verstehen, dass es neben der militärischen Gewalt die strukturelle Gewalt gibt. Der Friedensforscher Johan Galtung definierte: "Strukturelle Gewalt ist die vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse..."; die ungleiche Verteilung von Einkommen, Bildungschancen und Gesundheitsversorgungen, sowie das Wohlstandsgefälle zwischen der ersten und der Dritten Welt. Selbst eingeschränkte Lebenschancen auf Grund von Umweltverschmutzung oder die Behinderung emanzipatorischer Bestrebungen werden hierunter subsumiert.

Eine zivile rechtliche Vereinbarung, die Zivilklausel für eine gewaltfreie Medizin, ergibt sich daraus zwingend. Die katastrophalen Defizite in der medizinischen Versorgung sind zwar in Afrika u.a. armen Ländern überdimensionaler, aber die Verhältnisse in Griechenland könnten ein Menetekel sein für Diskriminierungen, für soziale Ausgrenzungen, die zunehmend auch uns drohen.

Die Ausmaße struktureller Gewalt werden mir vor allem durch die Hungertoten deutlich, auf die Jean Ziegler unermüdlich hinweist: alle 5 Sekunden stirbt ein Kind an Hunger, täglich verlieren bis zu 37.000 Menschen durch Hunger ihr Leben. "Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet." (Ziegler in der ungehaltenen Eröffnungsrede zu den Salzburger Festspielen 2011)

Die Alternative besteht in der Demokratisierung des Gesundheitswesens nach den Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation, aufgestellt in Alma Ata 1978. Sie fundiert auf drei Prinzipien: der Förderung von sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit, der Sicherung multisektoraler Vorbedingungen für Gesundheit (Trinkwasser, Sanitärsysteme, Wohnung, Ernährung, Gewaltprävention) und der Partizipation der Betroffenen, die das Expertentum entmystifizieren.

Dass Gesundheit nicht allein das Ergebnis ärztlichen Handelns ist, zeigen die Leitlinien der WHO von Alma Ata und das Konzept der Salutogenese, d.h. der Entstehung von Gesundheit, die immer mit sozialen und kulturellen Kontexten verbunden ist.

Das Menschenrecht auf Gesundheit als Teil der UN-Charta ist vielen Politikern in Sonntagsreden verfügbar, aber in der politischen Praxis ohne Wert für sie, für Klinikdirektoren, Gesundheitsmanager und Versicherungssprecher.

Dabei ist das Gefälle der Gesundheit zwischen Nord und Süd auf der Weltkarte dramatisch. Staatliche Gelder stehen einem Deutschen 157mal mehr als einem Bürger Malawis zur Verfügung; Westeuropäer leben im Schnitt 20 Jahre länger gesund als die Bürger der meisten afrikanischen Staaten (nach medico international Rundschreiben 04/13).

Der alternative Weltgesundheitsbericht, der Global Health Watch, soll noch in diesem Jahr zum 4. Mal veröffentlicht werden. Als Mitglied von People's Health Movement hat medico international 5 Aufgaben einer globalen Gesundheitspolitik vorgestellt:

  1. Die Zurückweisung der neoliberalen Ideologie
    Der Gesundheitsökonom Gavin Mooney schrieb: "Neoliberalismus tötet" (einige Zeit bevor Papst Franziskus sagte "Diese Wirtschaft tötet"). Wenn man Armut, Ungleichheit, Hunger und Krankheiten bekämpfen wolle, müsse man verstehen, dass der Neoliberalismus die Wurzel des Übels ist.
  2. Die Stärkung der öffentlichen Verantwortung
    Zahlreiche neue Akteure von Unternehmensstiftungen bis zu großen internationalen NGOs tummeln sich in der Gesundheitspolitik und verfügen häufig über mehr Geld als die lokalen Gesundheitsbehörden. Öffentliche Gesundheitseinrichtungen müssen in die Lage versetzt werden, Gesundheitspolitik zu führen und zu koordinieren.
  3. Die Verbesserung des finanziellen Risikoschutzes
    Um dem unkalkulierbaren Risiko der fehlenden Kostenerstattung im Krankheitsfall zu entgehen, bedarf es einer solidarischen Risikoabsicherung für alle Mitglieder eines Gemeinwesens. Am effektivsten sind steuerfinanzierte Gesundheitssysteme. Gesetzlich geregelte soziale Krankenversicherungssysteme sind nicht umfassend zugänglich.
  4. Die Umverteilung von Reichtum
    Um zur Bekämpfung der gesundheitlichen Ungleichheit weltweit eine Erhöhung der öffentlichen Gesundheitsausgaben zu erreichen, muss sich Haushaltspolitik wieder auf Maßnahmen der Umverteilung von Reichtum konzentrieren.
  5. Die Einrichtung eines internationalen Finanzausgleichssystems
    Die Internationalisierung des Solidaritätsprinzips ist keine Frage fehlender Ressourcen. Es ist eine Frage der Bereitschaft, eine neue institutionelle Norm zu schaffen, die reichere Länder dazu verpflichtet, zweckgebundene Mittel an ärmere Länder zu transferieren, solange deren fiskalische Mittel nicht ausreichen, um Gesundheit für alle zu garantieren.

Den Rahmen für alles bilden die drei Prinzipien der WHO-Erklärung von Alma Ata.

Es gibt aber auch ein "Davos der Medizin". Der Weltgesundheitsgipfel, der Anfang dieser Woche (vom 19. bis 22.10.2014) zum 5. Mal in Berlin tagte, gibt in Überzahl Rednern aus der Industrie und einem Hauptredner wie Joseph Ackermann das Wort. Auf einer Gegenveranstaltung von medico, Attac, IPPNW u.a. im Oktober 2012 (Quelle: medico international rundschreiben 04/12) hob Prof. Rolf Rosenbrock hervor: "Die beste Primärprävention ist soziale Gerechtigkeit." Je gerechter die Einkommen in einer Gesellschaft verteilt würden, umso gesünder seien die Menschen - und zwar nicht nur, weil es weniger Arme gebe. Auch die Reichen würden weniger krank.

Noch einen entscheidenden Schritt weiter müssen wir bei der Suche nach Umsetzung des Menschenrechts auf Gesundheit gehen:

Neben der Polarität von Öffentlich gegen Privat gibt es noch etwas Drittes. Silke Helfrich analysierte den Unterschied zwischen öffentlichen Gütern, für die der Staat sorge und Gemeingütern, Commons, bei denen der Unterschied zwischen Konsumenten und Produzenten aufgehoben werde.

Für mich ist klar, dass unsere real existierenden westlichen Staaten weniger demokratisch als oligarchisch funktionieren und den Interessen der Geldvermehrung dienen. Deshalb bleiben logischerweise für eine gerechte Gesundheitspolitik nur zwei Möglichkeiten offen: Entweder der Staat und die Wirtschaft werden demokratisiert, zivilisiert oder die Bürger müssen Initiativen ergreifen, wie Genossenschaftsgründungen, Widerstand gegen Überwachung und Kontrollen (Beispiel USB-Sicks und Patientenverfügungen statt "gläserner Patient" mittels eGk). In Griechenland sollen aus der Not geboren Versorgungen nach dem Gemeinwohlprinzip funktionieren, weil das öffentliche Gesundheitssystem zusammen gebrochen ist.

Ein Beispiel für gelungene Demokratisierung ist für mich die Gesundheitspolitik Cubas. Auch in Bolivien wird eine traditionelle ganzheitliche Medizin gefördert.

In dem schon zitierten Artikel aus der jungen Welt "Profit vor Gesundheit" heißt es weiter:

"Als das Ebola-Fieber in Westafrika ausbrach, machte die US-Regierung zuerst Soldaten als Hilfskräfte marschbereit. Die Republik Kuba hingegen, die über eine hochentwickelte biotechnologische und medizinische Expertise bei Tropenkrankheiten verfügt, entsandte 165 Ärzte und Pflegekräfte nach Sierra Leone. In Vorbereitung ist der Einsatz weiterer Mediziner in Liberia und Guinea, so dass insgesamt 461 Ärzte, Pflege- und Laborkräfte zur Behandlung und Heilung von Ebola-Patienten nach Westafrika reisen werden. Das Gesundheitsministerium erklärte, dass '15.000 kubanische Fachleute für den Kampf gegen Ebola bereitstehen'. Das kleine sozialistische Kuba hat im Laufe der Jahre über 325.000 Fachleute seines Gesundheitswesens in 158 Länder dieser Erde geschickt, mehr als die Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen. Kubas medizinische Fakultät in Havanna bildet unentgeltlich Tausende Medizinstudenten aus allen Teilen der Welt aus, die sich die teure Ausbildung in ihren Heimatländern nicht leisten können. Das sieht nicht gerade nach einem lukrativen Geschäftsmodell aus, ist aber ein verdammt gutes Modell einer am Menschen orientierten Gesundheitspolitik."

Mein Fazit: Ohne Vergesellschaftung aller Bereiche, die für Gesundheit relevant sind, ist das nicht zu haben.


WeitereQuellen:

Ossietzky 11/2011: Brutaler Gesundheitsmarkt (Manfred Lotze)

Ossietzky 8/2008: Alles auf eine Gesundheitskarte (Manfred Lotze)

Teil der Zivilklausel-Forderungen sind auch die Kampagnen "Schulfrei für die Bundeswehr" und "Für den Frieden lernen". Wer sich dafür engagiert, kann 2 Infoblätter der IPPNW lesen und ausdrucken:
Ein Informationsblatt für Schüler und Schülerinnen zu "Risiken und Nebenwirkungen eines Bundeswehreinsatzes im Kriegsgebiet", das unter
http://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Frieden/schuelerinformationsblatt.pdf
kostenlos heruntergeladen und ausgedruckt werden kann.

Die begleitende Hintergrundinformation für Lehrpersonal finden Sie unter
http://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Frieden/lehrerinformationsblatt.pdf


Anmerkung:

[*] Mehr zum Thema "Medizin statt Überwachung" konnte man auf einer Veranstaltung zu diesem Milliarden-Projekt e-Card und dem Abwehrkampf der bundesweiten Initiative "Stoppt die e-card" am Freitag, den 31.10.2014 in Hamburg erfahren, über die der Schattenblick in Kürze ausführlich berichten wird:

SCHATTENBLICK → INFOPOOL → MEDIZIN → REPORT → BERICHT:
www.schattenblick.de/infopool/medizin/ip_medizin_report_bericht.shtml
und
SCHATTENBLICK → INFOPOOL → MEDIZIN → REPORT → INTERVIEW:
www.schattenblick.de/infopool/medizin/ip_medizin_report_interview.shtml

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Quelle:
© Dr. Manfred Lotze, IPPNW
mit freundlicher Genehmigung des Referenten


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2014