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POLITIK/1918: Klinikstreiks in Düsseldorf und Essen - Für eine wirkliche Entlastung wäre sofort ein Mehrfaches nötig (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 36 vom 7. September 2018
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Nur ein Meilenstein
Klinikstreiks zwingen Vorstände zu Schritt in Richtung Entlastung

von Olaf Matthes


Von Dienstag bis Donnerstag haben die ver.di-Mitglieder an den Unikliniken Düsseldorf und Essen über die Verträge abgestimmt, die ver.di und Klinikvorstände in der vergangenen Woche unter Vermittlung von zwei Schlichtern ausgehandelt haben. "Kein Grund zum Jubeln", war die Stimmung bei der Beratung der Streikenden am Freitag vergangener Woche. "Ein Meilenstein für Entlastung", schätzte Wolfgang Pieper für den ver.di-Bundesvorstand ein: Ein Vertrag, zwei Wahrnehmungen.

46 Tage hatten die Kollegen in Düsseldorf gestreikt, 34 Tage die in Essen. Sie haben gekämpft, damit sie ihre Patienten so versorgen können, wie sie es gelernt haben und damit sie selbst an ihrer Arbeit nicht krank werden. Sie haben analysiert, was dafür nötig ist: Wie viele Patienten kann eine Intensivpflegerin in der Nachtschicht betreuen? Für wie viele Patienten kann ein Serviceassistent Essen und Wäsche vorbereiten, wieviel Kilo Instrumente ein Mitarbeiter der Sterilisierung schaffen?

Sie wissen, was sie brauchen, und das heißt: Dieser Vertrag reicht nicht. 180 neue Stellen bis Oktober 2019, 40 davon außerhalb der Pflege, mussten die Vorstände pro Haus zusichern. Für eine wirkliche Entlastung wäre sofort ein Mehrfaches nötig. Betrachtet man einen einzelnen Arbeitsplatz, bietet der Vertrag keinen Grund zum Jubeln.

Das, was die Streikenden an den Unikliniken Essen und Düsseldorf gefordert haben, ist realistisch und unrealistisch zugleich. Realistisch, weil die Forderungen die wirklichen Bedürfnisse der Patienten und Beschäftigten ausdrücken. Aber gegen diese Bedürfnisse stehen das Profitprinzip im Gesundheitswesen und die "unternehmerische Freiheit" der Klinikkonzerne und -vorstände - die "Freiheit", nach der die Chefetage den Mitarbeitern vorschreiben darf, was und wie und mit wie vielen sie ihre Arbeit zu machen haben. Gegen die Forderungen der Streikenden steht die Politik der Regierungen, die Kliniken privatisiert und die Gesundheit an einem irrsinnigen Kostendruck ausgerichtet haben. Unter den heutigen Kräfteverhältnissen sind die Forderungen der Streikenden unrealistisch.

Vor zwei Jahren haben die Mitarbeiter der Berliner Charité erreicht, dass die Frage, wie viel Personal der Vorstand für welche Aufgabe einsetzen muss, zum ersten Mal im Ansatz in einem Tarifvertrag geregelt wurde. Die Klinikleitung fand Wege, um den Tarif nicht umzusetzen, noch heute arbeiten die Kollegen daran. Der Vertrag reichte nicht - aber er war ein Leuchtturm für Klinikbelegschaften im ganzen Land, die begannen, für Entlastung zu kämpfen. Inzwischen haben die Unikliniken in Baden-Württemberg und in Gießen-Marburg dabei erste Erfolge erzielt.

Die Verträge in Düsseldorf und Essen gehen über alle bisherigen Regelungen für Entlastung hinaus. "Es gibt zwei neue Leuchttürme im Kampf für Entlastung", sagt ver.di-Sekretär Jan von Hagen im UZ-Interview. Sie regeln, dass die Vorstände nicht alleine entscheiden können, wo die 40 neuen Kräfte außerhalb der Pflege eingestellt werden - sie müssen sich mit dem Personalrat einigen oder mit ver.di verhandeln. Die Verträge brechen einen kleinen Riss in die "unternehmerische Freiheit. Sie sind ein Meilenstein - das heißt: Sie sind eine Markierung an einem langen Weg.

Auf diesen Weg haben sich auch die Beschäftigten der Uniklinik Saar in Homburg gemacht. "Wir sind noch kilometerweit weg von dem Ergebnis, das in Düsseldorf und Essen erreicht worden ist", sagt ver.di-Sekretär Michael Quetting, der dort einen Streik für Entlastung vorbereitet. Bis zum 11. September läuft die Urabstimmung, vermutlich ab dem 19. September wird gestreikt. "Es ist beeindruckend, was die Kollegen geschafft haben", sagt Quetting, "drunter wird es bei uns keinen Abschluss geben". Und er fragt: "Wenn es uns gelingen würde, die Kämpfe für Entlastung zusammenzuführen - welche Kraft könnten wir dann entwickeln?"

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Das wollen wir auch

Was der Vertrag an den Unikliniken für die Kollegen, für die
Gewerkschaft und für die Bewegung für Entlastung bedeutet

Olaf Matthes im Gespräch mit Jan von Hagen


Jan von Hagen, bei ver.di NRW zuständig für Krankenhäuser, hat den Streik an den Unikliniken begleitet und war Mitglied der Kommission, die mit den Klinikvorständen den Vertrag ausgehandelt hat, der nicht Tarifvertrag heißen darf.


UZ: Werden die Kolleginnen und Kollegen an den Unikliniken Düsseldorf und Essen jetzt entlastet?

Jan von Hagen: Wir haben mit dem Vertrag - wenn die Streikenden ihn annehmen - einen Einstieg in die Entlastung geschafft. Aber man darf nicht vergessen: Seit Einführung der Fallpauschalen - der DRGs - ist das Personal in den Krankenhäusern so stark runtergefahren worden, dass selbst 180 zusätzliche Stellen über anderthalb Jahre nicht zu direkter Entlastung führen. Wir haben Systeme für die Personalbemessung ausgehandelt - das ist ein Weg, der in 18 Monaten zu einer deutlichen Verbesserung führen kann.


UZ: Beim Fest der Streikenden am Freitag vergangener Woche war die Rede von "Katerstimmung" und davon, dass der Vertrag kein Grund zum Jubeln sei. Warum können die Kollegen, die viele Wochen gestreikt haben, sich nicht über die Einigung freuen?

Jan von Hagen: Weil die Differenz zwischen ihren berechtigten Forderungen und dem, was wir gegen die Vorstände durchsetzen konnten, zu groß ist. Und es gibt ein großes Misstrauen darin, was der Vorstand in der Umsetzung aus dem Vertrag machen könnte. Die Kollegen haben die Erfahrung der letzten zehn Jahre, in denen der Vorstand immer wieder Entlastung versprochen und nie umgesetzt hat.


UZ: Wie groß sind die Hintertüren, die der Vertrag den Vorständen lässt?

Jan von Hagen: Verglichen mit allen anderen Regelungen, auch mit dem Tarif der Charité, haben wir die Hintertüren am weitesten zugemacht. Zum Beispiel gibt es klare Verfahren dafür, wann der Arbeitgeber die Leistung reduzieren muss, wenn nicht genug Personal da ist.

Aber vor allem haben wir eine Belegschaft, die zwölf Wochen gestreikt hat, die den Vertrag genau kennt und jetzt für die Durchsetzung kämpfen wird. In dem Vertrag ist geregelt, dass die Kollegen eine Mitteilung kriegen, was ihre Soll-Besetzung ist und wie sie ansteigt durch den Personalaufbau - das heißt, sie können selbst im Team überwachen, ob die zugesagte Soll-Besetzung eingehalten wird und selbst dafür Druck machen. Wenn für den Frühdienst vier Pflegekräfte vereinbart sind, und dann sind nur drei da, geht es darum, dass jedes Team sagt: Hinter diesen Vertrag lassen wir uns nicht zurückwerfen.


UZ: Wie wirkt sich dieser Kampf auf die bundesweite Bewegung für Entlastung aus?

Jan von Hagen: Er hat gezeigt, dass es möglich ist, die Arbeitgeber auch zu weitergehenden Zugeständnissen zu zwingen. Und er hat gezeigt: Die heilige Grenze der Kapitalseite - die unternehmerische Freiheit, die Entscheidung: Wo gehen Personal und Ressourcen hin? - dass es möglich ist, diese Grenze zu knacken. Denn der Arbeitgeber kann nicht selbst entscheiden, wo die 40 zugesicherten Kräfte außerhalb der Pflege eingestellt werden - er muss sich mit dem Personalrat einigen und im Zweifel mit ver.di verhandeln.

Bis nächste Woche stimmen die Kollegen der Uniklinik Saar darüber ab, ob sie streiken werden. Nach der Charité gibt es nun mit Düsseldorf und Essen zwei neue Leuchttürme im Kampf für Entlastung, da werden andere Belegschaften sagen: Das wollen wir auch.


UZ: Was können Gewerkschafter für künftige Kämpfe von den Streikenden an den Unikliniken lernen?

Jan von Hagen: Wir können Kämpfe dann langfristig und mit massiver wirtschaftlicher Wirkung führen, wenn es die Belegschaften sind, die die Kämpfe gestalten, selbst konkret die Forderungen formulieren und auch mit Fragen und Konflikten selbst und solidarisch umgehen, wenn die Kämpfe nicht von der Gewerkschaft für die Belegschaft übernommen werden. ver.di hat sich auf die Fahnen geschrieben, dass es stärkere und selbsttragene betriebliche Strukturen geben soll und das Ganze weniger von hauptamtlichen Sekretären abhängen darf. Diese kulturelle Veränderung äußert sich in theoretischen Diskussion, sie ist aber auch in den aktuellen Kämpfen erlebbar. Insofern haben die Streikenden der beiden Unikliniken nicht nur Arbeitgeber und Politik bewegt, sondern auch ver.di einen Weg gezeigt, wie man wieder in offensive Kämpfe einsteigen kann und nicht in Verteidigungskämpfen verharren muss.

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 50. Jahrgang,
Nr. 36 vom 7. September 2018, Seite 1 und 3
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. September 2018

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