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ARTIKEL/1360: European Health Forum Gastein (4) (idw)


European Health Forum Gastein
Creating a better future for health in Europe
Pressemitteilungen vom 3. Oktober 2014

17. European Health Forum Gastein vom 1. bis 3. Oktober 2014

→ "Überlebenskampf" der sozialen Krankenversicherungen
→ Einheitlicher europäischer Gesundheitsmarkt stärkt Mobilität und Wissenstransfer
→ Neue europäische Expertenempfehlungen zur Förderung von personalisierter Medizin


"Überlebenskampf" der sozialen Krankenversicherungen

Gesetzliche Sozialversicherungen liegen grundsätzlich in der Verantwortung der Nationalstaaten, was zu 28 verschiedenen Systemen innerhalb der EU geführt hat - und jedes versucht für sich, eine leistbare Gesundheitsversorgung für alle sicherzustellen. Doch schrumpfende öffentliche Einnahmen aufgrund der aktuellen Wirtschaftskrise gefährdet diese Errungenschaft in vielen europäischen Ländern, warnten Experten auf dem European Health Forum Gastein. Die Gegenstrategie der Sozialversicherungs-Experten: Die EU-Staaten sollten sich über "best practices" austauschen und wo immer möglich die Effizienz steigern.

Bad Hofgastein, 3. Oktober 2014 - Einige europäische Gesundheitssysteme "kämpfen ums nackte Überleben", sagte Dr. Franz Terwey, Präsident der "European Social Insurance Platform" (ESIP, das Forum der europäischen Sozialversicherungen) auf dem European Health Forum Gastein (EHFG). Der Befund kommt wenig überraschend: Die Schuldenkrise ist noch lange nicht ausgestanden und leere öffentliche Kassen sowie das stagnierende - oder sogar zurückgehende - Wachstum führen zu verminderten öffentlichen Einnahmen, mit "dramatischen Auswirkungen" auf die Gesundheitssysteme. Eine Folge davon: medizinische Fachkräfte kündigen oder werden entlassen, was zu Lücken in der Versorgungsstruktur führt, "die möglicherweise nicht wieder gefüllt werden können", zeichnete Dr. Terwey ein wenig positives Bild.

Förderung des grenzüberschreitenden Austausches

"Ein guter erster Schritt zur Stärkung der Systeme wäre es, alle denkbaren Effizienz-Potenziale zu nutzen", so der Experte. Die Fortsetzung der Schuldenpolitik könne möglicherweise kurzfristig funktionieren, würde die Systeme aber in nicht allzu ferner Zukunft vor noch viel schlimmere Probleme stellen, so der Experte. Die europäischen Gesundheitssysteme müssten, wo immer möglich, vor dem "stetig steigenden Einfluss der Binnenmarktvorschriften" geschützt werden. "Unter keinen Umständen" dürfe man zulassen, dass diese über Regelungen auf ganz anderer Ebene Schiedsgerichts-Mechanismen unterworfen werden, wie es die Industrie in den USA praktiziere, so Dr. Terwey. Über den Weg des aktuell verhandelten transatlantischen Handels- und Investitionsabkommens (TTIP) könnte dies aber durchaus drohen. Stattdessen sollten die Länder einander in der Form von grenzüberschreitendem Austausch unterstützen. Gelegentlich sei es wohl auch nötig, "die eigenen Regierungen daran zu erinnern, sich in angemessener Weise" mit diesen Fragen zu beschäftigen, so Dr. Terwey.

Nationale versus EU-Kompetenz

Die "große Herausforderung" für die gesetzlichen Krankenversicherungen in der EU sei es, "eine gesunde Grenze zwischen nationaler Kompetenz und EU-Kompetenz zu ziehen", sagte Dr. Ewout van Ginneken von der Abteilung für Management im Gesundheitswesen am WHO Collaborating Centre for Health Systems in Berlin. "Unsere Systeme sind derzeit auf der Ebene der nationalstaatlichen Zuständigkeit verankert, doch das gilt immer weniger. Mehrere EU-Rechtsakte, zum Beispiel Vorschriften über die Koordinierung der sozialen Sicherheit oder die Richtlinie zur grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung, lassen die Grenzen zwischen den beiden Kompetenzen verschwimmen."

Für Dr. van Ginneken liegt ein Schlüssel zum EU-weiten Erhalt der bestehenden sozialen Krankenversicherungssysteme darin, einen Dialog zwischen "Zahlern" von Gesundheitsleistungen, also den Sozialversicherungen, und den Anbietern, beispielsweise den Krankenhäusern, in Gang zu setzen, um gemeinsame Anliegen zu identifizieren. "Hier entstehen die Gesundheitskosten, und je effektiver das Management in diesem Bereich, desto besser lassen sich die Kosten kontrollieren." Regierungen aller EU-Länder sollten den Dialog mit den sozialen Krankenversicherungen aufnehmen schließlich stehe man vor ähnlichen Herausforderungen: Wie eine qualitative Gesundheitsversorgung zu einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis sichergestellt werden kann.

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Einheitlicher europäischer Gesundheitsmarkt stärkt Mobilität und Wissenstransfer

Mangelnde Verfügbarkeit und Verständlichkeit von Informationen sind Hindernisse auf dem Weg einer europaweiten Optimierung der "health literacy", der Gesundheitskompetenz der Bürger/-innen. Vernetzung, Transparenz und Vergleichbarkeit auf dem europäischen Gesundheitsmarkt seien hingegen wichtige Impulse dafür, so Experten/-innen auf dem European Health Forum Gastein.

Bad Hofgastein, 3. Oktober 2014 - Ein einheitlicher europäischer Gesundheitsmarkt und Richtlinien zu grenzüberschreitenden Gesundheitsthemen sollten als Chance für die Stärkung von "health literacy", also der Gesundheitskompetenz der europäischen Bevölkerung, gesehen werden. Das war der Tenor einer Expertendiskussion beim European Health Forum Gastein (EHFG). "Ein einheitlicher Gesundheitsmarkt stärkt nicht nur die Mobilität der Patienten/-innen, sondern auch die Mobilität des Wissenstransfers. Mehr Wettbewerb und Transparenz bedeuten mehr Mobilität der medizinischen Expertise", so Jan Geissler, ehemaliger Krebspatient und Direktor der European Patients Academy on Therapeutic Innovation (EUPATI).

Die Verfügbarkeit einer mobiler werdenden Expertise und das Knüpfen europäischer Netzwerke für die Umsetzung aufwändiger klinischer Studien und innovativer Behandlungsmethoden soll unmittelbar den Patienten/-innen und deren Gesundheitskompetenz zugutekommen: "Die Menschen verdienen die bestmöglichen verfügbaren medizinischen Leistungen. Vor allem in Bezug auf seltene Krankheiten ist medizinisches Know-how regional ungleich verteilt und für Patienten/-innen nicht immer ausreichend zugänglich", sagte Geissler. Ein gemeinsamer europäischer Gesundheitsmarkt erhöhe die Beweglichkeit der Expertise und mache diese verfügbarer.

"Dazu kommt, dass innovative Therapien auf umfassende klinische Studien angewiesen sind, diese wiederum die strukturellen Gegebenheiten bestimmter Zentren und Regionen zur Voraussetzung haben. Deshalb ist Mobilität ein Schlüsselfaktor für die Verfügbarkeit bestmöglicher medizinischer Versorgung", erklärte Geissler.

Sprachbarrieren abbauen

Sprachliche Barrieren würden jedoch ein häufiges faktisches Hindernis im Zugang zu optimalen Gesundheitsdiensten bilden. Geissler bezog sich dabei nicht nur auf die Verständigung unterschiedlicher Sprachregionen, sondern vor allem auf sprachliche Gräben zwischen Experten- und Laienkommunikation. "Um die Gesundheitskompetenz der Menschen zu fördern, braucht der Informationsfluss eine für Nichtmediziner verständliche Sprache. Oftmals sind Informationen nicht in jener sprachlichen Form verfügbar, die für Patienten/-innen auch verständlich und nachvollziehbar ist.

Patientenorganisationen spielen eine entscheidende Rolle dabei, Gesundheitsinformationen verständlich aufzubereiten und allgemein verfügbar zu machen. Die Inanspruchnahme grenzüberschreitender Gesundheitsdienste braucht kompetente Kontaktstellen und die Unterstützung der jeweiligen lokalen Patientenorganisationen."

Ungleichheiten transparent machen

Health literacy in einer grenzüberschreitenden europaweiten Dimension soll zudem Ungleichheiten zwischen einzelnen Regionen, aber auch zwischen gesellschaftlichen Gruppen hinsichtlich ihrer Gesundheitskompetenz zum Verschwinden bringen, so die Hoffnung des Experten. "Um Ungleichheiten zu beseitigen müssen diese zunächst deutlich sichtbar gemacht werden. Wir brauchen mehr Transparenz über Ungleichheiten bei medizinischen Leistungen und deren Verfügbarkeit, um die Servicequalität für Patienten/-innen vergleichbar zu machen. Die finanzielle und strukturelle Stärkung von Patientenorganisationen und vor allem deren Einbindung im Fall von grenzüberschreitenden Gesundheitsleistungen können helfen, Ungleichheiten zu verringern", sagte Geissler. "Ein anachronistischer Paternalismus auf europäischer und nationaler Ebene, der medizinischen Laien medizinische Informationen und Innovationen vorenthalten möchte, sollte endlich der Vergangenheit angehören. Im Zeitalter von sozialen Medien sind solche Regelungen umso überholter."

Health literacy bzw. Gesundheitskompetenz meint die alltägliche Wissens-, Handlungs- und Entscheidungskompetenz zur Beförderung der Gesundheit. Mangelnde Gesundheitskompetenz wirkt sich negativ auf die Gesundheit einer Person aus und hat zudem negative Folgen für das Gesundheitssystem und die Gesamtgesellschaft, etwa angesichts wachsender Kosten für medizinische Leistungen.

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Neue europäische Expertenempfehlungen zur Förderung von personalisierter Medizin

Personalisierte Medizin (PM) schafft neue Möglichkeiten: für jede/-n Patienten/-in die maßgeschneiderte Therapie auf Basis seiner/ihrer genetischen Prädisposition. Allerdings sind noch rechtliche und ethische Fragen zu klären, etwa was das Eigentum an Gesundheitsdaten betrifft oder der Frage der individuellen oder gesellschaftlichen Verantwortung für Gesundheit.

Auf dem European Health Forum Gastein wurden europäische Expertenempfehlungen zum Thema PM präsentiert: diese sehen unter anderem die Entwicklung geeignete Forschungsmodelle vor, um die biologischen Grundlagen von PM besser entschlüsseln zu können, sowie die Unterstützung neuer Methoden für die präklinischen und klinischen Entwicklungsphasen einer Therapie.

Bad Hofgastein, 3. Oktober 2014 - Personalisierte Medizin gehört zu den sich besonders rasch entwickelnden Forschungsbereichen: Wurden 2004 nur 38 Artikel zu diesem Thema in wissenschaftlichen Fachjournalen veröffentlicht, waren es 2013 schon mehr als 800, berichtete Prof. Dr. Angela Brand vom Institute für Public Health Genomics (IPHG) an der Universität von Maastricht auf dem European Health Forum Gastein (EHFG). "Personalisierte Medizin" beschreibt das Konzept, molekulares Profiling für mehrere Zwecke einzusetzen: "Erstens, um die richtige diagnostische und therapeutische Strategie für die geeignete Person zum optimalen Zeitpunkt maßzuschneidern; zweitens, um die Prädisposition für Krankheiten zu bestimmen; und drittens, um eine gezielte und zeitgerechte Prävention zu ermöglichen." Die Vorteile eines solchen individualisierten Ansatzes liegen auf der Hand: die Chance einer frühen Diagnose, weniger unerwünschte Arzneimittel-Nebenwirkungen oder bessere therapeutische Wirksamkeit, die wiederum zu Kostenersparnissen führen könnte, um nur einige zu nennen. "Personalisierte Medizin könnte Patienten auch dabei unterstützen, sich aktiver um ihre eigene Gesundheit zu kümmern und auch mehr Verantwortung dafür zu übernehmen", meint Prof. Brand.

"Allerdings sind wir hier immer noch erst am Anfang", so die Expertin. Ein wichtiger Stolperstein ist beispielsweise die "traditionell sehr ausgeprägte Fragmentierung zwischen den EU-Mitgliedstaaten, eine unzureichende Kommunikation und der Mangel gemeinsamer Zielvorstellungen bezüglich einer Lösung dieser Fragen. Es liegt an den entsprechenden politischen Ebenen, sich diesen Herausforderungen zu stellen", so Prof. Brand. "Kein europäisches Land kann PM allein entwickeln, und das bietet uns die Möglichkeit, den Bürgern/-innen den konkreten Nutzen eines gemeinsamen europäischen Forschungsansatzes aufzuzeigen. Nur indem wir die Forschungskapazitäten der einzelnen europäischen Länder bündeln können wir Europa in die Lage versetzen, in dieser Frage die globale Führung zu übernehmen. Wenn es dann zur Anwendung der Forschungsergebnisse in der Gesundheitsversorgung kommt, könnte das zu einem europäischen Geschäftsmodell werden, an dem kleine und große EU-Staaten und ihre Bürger/-innen in gleicher Weise partizipieren können."

Koordination zwischen den Akteuren

Genau hier kommt die "Coordination & Support Action" (CSA) PerMed ins Spiel, sagten die CSA-Koordinatoren Dr. Ulrike Bußhoff und Dr. Wolfgang Ballensiefen auf dem EHFG. "PerMed wurde mit dem Ziel gegründet, die Koordination zwischen den wichtigsten europäischen Akteuren zu verbessern, um Synergien zu erzielen und Verdoppelungen oder Konkurrenz zu vermeiden", erklärte Dr. Bußhoff. PerMed entwickelte einen umfangreichen Katalog von Expertenempfehlungen, um Hürden zu beseitigen und PM auf europäischer Ebene zu fördern. "Diese sehen unter anderem die Entwicklung geeigneter Forschungsmodelle vor, um die biologischen Grundlagen von PM besser entschlüsseln zu können, die Förderung von Modellen für das persönliche Eigentum an Gesundheitsdaten, sowie die Unterstützung der Erforschung angemessener regulatorischer Ansätze", berichtete Dr. Ballensiefen. Eine weitere Empfehlung betrifft die Förderung neuer Methoden für die präklinischen und klinischen Entwicklungsphasen neuer Therapien, zum Beispiel Methoden für eine raschere Anwendung am Menschen, mit höherer Vorhersehbarkeit und Genauigkeit.

Data ownership

Die Frage des Eigentums an Gesundheitsdaten wirft allerdings auch ethische Fragen auf, die znoch u klären sind, betonte Dr. Effy Vayena vom Institut für Biomedizinische Ethik an der Universität Zürich. "Derzeit befinden wir uns eindeutig in einer Grauzone, was die Einwilligung, das Eigentum und die Zweitverwertung medizinischer Daten angeht." Für die Klärung dieser Probleme könnten die Menschenrechte als Referenzrahmen dienen.

Raute

"Electing Health - The Europe We Want" ist das Motto des diesjährigen EHFG. Rund 600 Teilnehmer/-innen aus mehr als 50 Ländern nutzen Europas wichtigste gesundheitspolitische Konferenz in Bad Hofgastein zum Meinungsaustausch über zentrale Fragen europäischer Gesundheitssysteme. Die zukünftige Richtung der europäischen Gesundheitspolitik ist das Schwerpunktthema des Kongresses.

EHFG Press Office
Dr. Birgit Kofler
B&K Kommunikationsberatung GmbH
Email: press@ehfg.org

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution1762

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
European Health Forum Gastein, Dr. Birgit Kofler, 01.10.2014
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Oktober 2014

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