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ARTIKEL/1273: Deutscher Ärztetag 2012 - Therapiefreiheit, freie Arztwahl und Freiberuflichkeit (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 6/2012

Deutscher Ärztetag
Ärzte stehen für Therapiefreiheit, freie Arztwahl und Freiberuflichkeit

Von Ursula Ochel


Der erste Ärztetag mit Dr. Frank Ulrich Montgomery als Präsident wurde mit Spannung erwartet. Große Veränderungen gegenüber früheren Ärztetagen gab es nicht.


Viele zollten dem kurz nach dem Kieler Ärztetag verstorbenen Präsidenten Prof. Jörg Dietrich Hoppe in Nürnberg Respekt. Gesundheitsminister Daniel Bahr formulierte, wie wohl viele empfanden: "Ich vermisse ihn." Er habe viele gute Gespräche mit Hoppe geführt und ihn außerordentlich geachtet und geschätzt.

Bahr ging in seiner Rede auf einige Schwerpunkte der gesundheitspolitischen Diskussion ein. So sprach er sich klar für die Beibehaltung des dualen Krankenversicherungssystems aus, gegen die Praxisgebühr, aber für Selbstbeteiligung. Ihn ärgerten die Lockangebote der privaten Krankenversicherer, die besonders jungen Männern sehr preiswerte Angebote machten, die mit steigendem Lebensalter aber nicht alle Risiken abdeckten oder Leistungen wie etwa Psychotherapie ausnähmen und dann mit hohen Beiträgen schlecht zu finanzieren seien. Das müsse geändert werden. Wichtig sei es, so betonte er, dass der Gedanke der Eigenverantwortlichkeit stärker in den Mittelpunkt gerückt werde - die Solidargemeinschaft funktioniere nur, wenn Eigenverantwortung gelebt werde.

Der Herausforderung der demografischen Entwicklung müssten wir uns jetzt dringend stellen. Bei allen geplanten Maßnahmen müsse überprüft werden, ob der Demografiefaktor einbezogen sei. Er begrüße, dass sich der 115. Ärztetag in Nürnberg mit der Finanzierung des Gesundheitswesens auseinandersetzen wollte, unterstrich der Minister. Die Neugestaltung der Bedarfsplanung und die Versorgung der ländlichen Bereiche seien wichtig, denn die Menschen interessiere der Hausarzt am Ort. Dabei seien auch die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Krankenkassen gefordert.

Der Präsident des Deutschen Ärztetages und der Bundesärztekammer, der Hamburger Dr. Frank Ulrich Montgomery, stellte in seiner Begrüßungsrede klar: "Wir Ärzte stehen für Therapiefreiheit, freie Arztwahl und Freiberuflichkeit. Wir wollen Pluralität statt Einheitsversicherungen. Wir wollen einen sozial geregelten, gerechten Wettbewerb, aus dem heraus Fortschritt und Zukunft erwachsen können." Auch er forderte den Erhalt des dualen Krankenversicherungssystems. Mit Abschaffung dieses System würde eine Zweiklassenmedizin entstehen: Wer es sich leisten könne, würde sich Zusatzversicherungen kaufen, die anderen würden auf der Strecke bleiben, meinte Montgomery. Aus seiner Sicht ist die von SPD und Grünen geforderte Bürgerversicherung nichts anderes als der "Turbolader für die Zweiklassenmedizin". Ein Lob in Richtung Politik brachte der Präsident auch unter - er sei mit der deutschen Gesundheitspolitik gar nicht so unzufrieden.

Noch vor der Aussprache zur Rede des Präsidenten gab es eine Diskussion zwischen den Gesundheitspolitikern Jens Spahn (CDU) und Prof. Karl Lauterbach (SPD). Beide stellten ihre Konzepte vor.

Spahn stellte zehn Thesen zu den Anforderungen an eine gesetzliche Krankenversicherung der Zukunft vor. Er begrüßte, dass sich die deutsche Ärzteschaft mit der zukünftigen Finanzierung auseinandersetzen wolle und er sei gespannt auf die Vorschläge. Hinsichtlich der GKV-Überschüsse warnte er davor, diese anzutasten. Man müsse sie u. a. deshalb erhalten, um die drei großen Qualitätsansprüche an die deutsche Medizin zu erhalten:

  • Zugang zur medizinischen Versorgung unabhängig vom Alter, Status und Zugang zur Grundversorgung für alle
  • Relativ schneller Zugang zu Innovationen
  • Flächendeckende Versorgung

Angesichts der älter werdenden Gesellschaft müsse die Politik die zu erwartenden Kostensteigerungen ehrlich kommunizieren, forderte Spahn. Gesundheitspolitik sei immer und zuerst sozialpolitische Daseinsvorsorge, aber angesichts der 4,5 Millionen Beschäftigten in diesem Bereich, die über zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes erwirtschaften, müsse auch eine wirtschafts- und wachstumspolitische Komponente gesehen werden, "die wir fördern wollen". Würde das System der GKV ausschließlich über lohnabhängige Beiträge finanziert, führe dies unter Umständen in ein Dilemma. Denn aus gesundheits- und wirtschaftspolitischer Sicht seien steigende Ausgaben in gewissem Maß sinnvoll und wünschenswert, aber aus arbeitsmarktpolitischen Gründen müsse ein weiterer Beitragsanstieg und damit die Erhöhung der Lohnnebenkosten vermieden werden. Daher hätten sich die Reformen der letzten Jahrzehnte meistens an der Beitragssatzstabilität und nicht an den gesundheitspolitischen Notwendigkeiten ausgerichtet.

"Aus diesem Grund ist es richtig, die Kostensteigerungen der Zukunft über einen lohnunabhängigen Zusatzbeitrag zu finanzieren", meinte Spahn. Allerdings müsse man auch hier darauf achten, dass der Kostenanstieg vertretbar bleibe. Zum Schutz vor Überforderung gebe es den steuerfinanzierten Sozialausgleich. Spahn wandte sich zugleich gegen die "linke Neiddebatte" beim Verhältnis von GKV und PKV. Der von SPD, Linken und Grünen erweckte Eindruck, die Finanzprobleme seien zu lösen, wenn man die "unsolidarischen Besserverdiener" zu GKV-Beitragszahlern mache, klinge zwar eingängig, treffe aber einfach nicht zu.

Anders als von "SPD & Co" behauptet, sei die Mehrzahl der privat Versicherten eben nicht reich, sondern Beamte, Pensionäre und kleine Selbstständige.

Wenn das Problem aber in der PKV liege, dann müsse man es mit einer "reformierten Dualität" innerhalb des Systems lösen. Dazu zähle das Ende der Billigtarife, eine überarbeitete Systematik zur Kalkulation der Tarife, ein einheitlich definierter Mindestversicherungsschutz sowie eine stärkere Versorgungs- und eine geringere Vertriebsorientierung bei den Versicherungen. Abschließend bekräftigte Spahn, dass die Ausübung des Arztberufes freiberuflich, selbstständig und so wenig wie möglich von Staat und Kassen reguliert sein soll. Er kritisierte die Aktion des GKV-Spitzenverbandes, zeitgleich zur Eröffnung des Ärztetages in Berlin eine Studie vorzustellen, in der es um die sog. Zuweiserprämien ging. Mit einer empirischen Studie habe man nachgewiesen, so der GKV-Spitzenverband, dass ein Großteil der Ärzte und Krankenhäuser Zuwendungen für Überweisungen oder Verschreibungen annähmen. "Um von eigenen Versäumnissen und Missständen abzulenken, werden von Politik und Krankenkassen Skandalisierungen initiiert, die das Vertrauen der Menschen in ihre Gesundheitsversorgung nachhaltig erschüttern", kritisierten die Ärztetagsdelegierten im Verlauf der Tagung in einer Entschließung. Die Delegierten stellten klar, dass es weder systematische Falschabrechnungen der Krankenhäuser noch von niedergelassenen Ärzten gebe. Außerdem versuche man bewusst von der Kassenseite aus, das Patienten-Arzt-Verhältnis zu stören. Lauterbach stellte das Modell der SPD vor: die Bürgerversicherung. Er verwies auf das Problem, dass die Babyboomer-Generation sich dem Rentenalter nähere und sich daraus Probleme der Versorgung ergeben. Die Bürgerversicherung strebe gleiche Beitragsanteile für Arbeitgeber und Arbeitnehmer an. Bei den Arbeitgebern sollten auch die Beiträge einbezogen werden, die oberhalb der Versicherungsobergrenzen liegen. Die Steuersäule solle systematisch aufgebaut werden. Er forderte eine einheitliche Vergütung für GKV- und PKV-Versicherte. Durch die unterschiedliche Vergütung würden falsche Anreize gesetzt, diese führten zur Zweiklassenmedizin. Für Neuversicherte sollte es die Pflicht geben, sich in der Bürgerversicherung zu versichern, für PKV-Altkunden solle es eine Art Bestandsschutz geben. Die PKV solle dazu verpflichtet werden, eine Bürgerversicherung anzubieten. Die Honorare sollten in Eurobeiträgen gezahlt werden. Lauterbach betonte, dass man kein Gesetz ohne die Ärzte machen wolle, es solle niemandem etwas weggenommen werden. Ihm gehe es um die Sicherung unserer sozialen Systeme und um Gerechtigkeit.

Der Deutsche Ärztetag sprach sich eindeutig für die Beibehaltung des dualen Systems der Krankenversicherung aus. Man befürwortete einen echten Wettbewerb zwischen der privaten und gesetzlichen Krankenversicherung. Außerdem sollen nach dem Ärztevotum zukünftig alle Einkommensarten in die Beitragsberechnung einbezogen werden. Wichtig sei der Erhalt einer solidarischen Versicherung, forderten einige Beschlüsse. Einkommen, sozialer Status oder Wohnort dürften für die Versorgung keine Rolle spielen. Eine Vereinheitlichung der Systeme berge die Gefahr einer Nivellierung auf niedrigem Niveau, wird befürchtet. Außerdem wurde von den Delegierten die Einführung einer Bürgerversicherung abgelehnt, diese löse keine Probleme, sondern schaffe neue.

Weiterhin will sich die Ärzteschaft stärker in die Diskussion um die zukünftige Finanzierung der GKV einbringen. Die Bundesärztekammer wird zusammen mit einem noch zu gründenden gesundheitsökonomischen Beirat einen Forderungskatalog entwickeln. Bereits zum nächsten Ärztetag, der in Hannover stattfinden wird, soll das Finanzierungskonzept vorliegen. Ob das in der kurzen Zeit klappen kann, wird skeptisch betrachtet.

Zu den Wahlen in Nürnberg: Neues "sonstiges Mitglied" im Vorstand der Bundesärztekammer wurde Dr. Christoph von Ascheraden aus St. Blasien im Hochschwarzwald. Der Allgemeinmediziner (63 Jahre, Präsident der Bezirksärztekammer Südbaden) trat gegen den Vize des Marburger Bundes, Dr. Andreas Botzlar (Murnau) und die Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes, Dr. Regine RappEngels aus Münster, an. Die Nachwahl wurde notwendig, weil das bisherige Mitglied Rudolf Henke, Vorsitzender des Marburger Bundes, zum Kammerpräsidenten in Nordrhein gewählt wurde. Überraschend traten von Ascheraden und Rapp-Engels an. Es waren drei Wahlgänge notwendig.

Einen breiten Raum nahm das Thema Weiterbildung ein. Schwerpunkt war die Vorstellung der Evaluation der Weiterbildung, die durch den Vorsitzenden der Weiterbildungsgremien der Bundesärztekammer und Präsidenten der Ärztekammer Schleswig-Holstein, Dr. Franz-Joseph Bartmann, vorgestellt wurde. Er verwies auf die positiven Erfahrungen im Zeitraum 2009 bis 2011 speziell zu den Punkten

  • Kommunikation zwischen Kammermitgliedern und Ärztekammer
  • Ärztekammer als Servicestelle und "Kümmerer" für die Weiterbildung
  • Veränderung der Weiterbildungskultur Negativ seien dagegen gewesen:
  • Beteiligungsrate
  • Aufwand der Verfahren
  • Konzeption des Fragebogens, Methodenkritik
  • Verfügbarkeit der Ergebnisse

Immerhin habe sich gezeigt, dass sich bei einigen Kammern deutliche Verbesserungen ergeben haben, nach zuvor schlechten Umfrageergebnissen. So habe die Ärztekammer Thüringen umgehend gehandelt und deutliche Verbesserungen erzielt.

Bartmann berichtete, dass es zunächst Widerstand bei einigen Kammern sowie Kritik an Aufwand und Methodik gegeben habe. Später habe sich aber gezeigt, dass sowohl die Weiterzubildenden als auch die Weiterbildungsbefugten davon profitiert hätten und die Unterstützung positiv bewerteten. Wenn die Weiterbildung nicht immer so klappe wie gewünscht, läge das nicht nur an den Befugten, sondern oft auch am Druck von Verwaltungen und Trägern, betonte Bartmann.

Bei der Diskussion wurden die geringen Rücklaufquoten kritisiert und damit wurde das Ergebnis infrage gestellt. In den Fokus rückte auch, dass die Weiterbildungsordnungen und die Realität in den Kliniken oft nicht übereinstimmten. Ein direkter Zugang zu den Weiterbildungsassistenten wurde gefordert, man wolle als Ärztekammern nicht länger als zahnloser Tiger agieren, sondern verantwortlich auch die notwendige Kontrolle ausüben.

Die Evaluation wurde nach einem Schweizer Befragungsmodell durchgeführt. Es stellte sich heraus, dass dieses nur bedingt auf die deutschen Verhältnisse übertragbar ist. Daher hat man den Vertrag zum Ende des Jahres 2011 auslaufen lassen. Bis zum Jahr 2014 wird ein maßgeschneidertes Konzept für Deutschland erstellt. Man habe in der Vergangenheit auch Fehler bei der Weiterbildung gemacht; so würde er die Konzeption des Moduls gerne ungeschehen machen, betonte Bartmann. Ziel sei nun, die Weiterbildung zu flexibilisieren und dem Berufs- und Sozialrecht anzugleichen.

Die Weiterbildung solle vorrangig über Inhalte und weniger über Zahlen definiert werden. Außerdem sollte die berufsbegleitende Weiterbildung und die ambulante Weiterbildung stärker gefördert werden, zudem seien Verbundbefugnisse auszubauen. Es müsse möglich sein, ohne Unterbrechung der Erwerbsbiografie nach dem Facharzt weitere Qualifikationen hinzuzufügen. Wichtig sei, dass das, was ambulant gemacht werden kann, auch ambulant ermöglicht wird. Demnächst werde es dazu ein Gespräch mit der KBV geben. Die Struktur der Musterweiterbildungsordnung (M-WBO) soll erhalten bleiben, sagte Bartmann, man bleibe bei der Systematik. Allerdings könne überlegt werden, ob eventuell ein neuer Abschnitt für Einführung neuer Methoden geschaffen werden solle. Um gemeinsam mit den Fachgesellschaften und Kammern die Weiterbildungsordnung fortzuentwickeln, wird es ein BAEK-Wiki geben. Die Novelle wird mit einem Grundgerüst ins Netz gestellt, und jede Fachgesellschaft, die Organisationen und Verbände erhalten jeweils einen Zugang, um ihre Vorstellungen einzubringen. "Wir laden ein, konstruktiv an dem Konzept zu arbeiten", sagte Bartmann. Er hoffe, dass diese Plattform im September 2012 eröffnet werden kann, die Beschlussphase soll im Jahr 2014 beim Deutschen Ärztetag erfolgen. Die Beschlüsse des Deutschen Ärztetages können vollständig auf der Homepage eingesehen werden: www.baek.de

Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 6/2012 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2012/201206/h12064a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Delegierte aus Schleswig-Holstein: Stephanie Liedtke, Dr. Uwe Fischer,
   Dr. Hannelore Machnik, PD Dr. Thomas Schang.
- Dr. Henrik Herrmann
- Dr. Christian Sellschopp

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Juni 2012
65. Jahrgang, Seite 36 - 39
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-119, -127, Fax: -188
E-Mail: aerzteblatt@aeksh.org
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juli 2012

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