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ARTIKEL/1223: Kontroverse um ärztliche "Selektivverträge" (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 43 vom 28. Oktober 2011
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Kontroverse um ärztliche "Selektivverträge"
Sind die nächsten "Trojaner" schon aufmarschiert?

von Hans-Peter Brenner


Eine heftige Kontroverse zwischen der "Telematik AG" der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) auf der einen und dem Deutschen Hausärzteverband (HÄV) im Bündnis mit dem CDU nahen Ärzteverband "Medi Deutschland" wirft noch einmal ein düsteres Licht auf die besonders mit der Einführung der elektronischen Patientenkarte (eCard) verbundenen Fragen nach der Sicherheit von Ärzte- und Patientendaten. (Die UZ berichtete mehrfach - zuletzt am 7.10.2011) [1]

Die Vorwürfe wogen hin und her und sind nicht von Pappe: Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) sei bereit, dem AOK-Bundesverband und den Ersatzkassen "direkten Datenzugriff auf Praxiscomputer zu verschaffen", hatte der Bundesvorsitzende des Deutschen Hausärzteverbandes (HÄV), Ulrich Weigeldt, in einer gemeinsamen Pressemitteilung mit "Medi Deutschland" erklärt. Mit Hilfe eines "Kassentrojaners" versuchten die Krankenkassen, einen umfassenden Zugriff auf Praxisdaten zu bekommen.

Beim Stichwort "Trojaner" denkt man automatisch an den vor wenigen Tagen bekannt gewordenen Skandal um den "Bundestrojaner". Nicht nur bayrische Landesbehörden wurden durch die Enthüllungen des "Chaos Computer Clubs" zum Eingeständnis gezwungen, dass sie entgegen der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts auf ihrer Jagd nach "Terroristen" alle Grundsätze der informationellen Selbstbestimmung der Bürger verletzten. Sie nisteten sich heimlich in den Computern der Observierten ein und spionierten die intimsten Privatdaten der Überwachten aus. Ja, sie überwachten sogar über die Kamera-PCs auch optisch und akustisch deren Wohnungen. Und das alles sogar noch zusätzlich so dilettantisch, dass sogar Dritte mit den einfachsten Methoden Zugang zu diesen illegal erhobenen Daten und Informationen bekommen konnten. Und nun ein ähnlich illegales Verfahren bei den Krankenkassen?

Das Deutsche Ärzteblatt (DA), offizielles Organ der Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), wies in einer Gegendarstellung diesen Vorwurf heftigst zurück und verband dies gleich mit einem derben Konterschlag. Der DA-Kommentator nahm die besonders dreisten ökonomischen Interessen und Tricks von Hausärzteverband und Medi ins Visier, die sich mit ihren privaten "Selektivverträgen" mit den Kassen das System der öffentlich-rechtlich kontrollierten Vertragspolitik zwischen den gesetzlichen Krankenkassen und den Kassenärzten aushöhlen.

Man muss wissen, dass die "Selektivverträge" der beiden privaten Ärzteverbände HÄV und Medi wie Schmarotzer an den kollektiven Honorarvereinbarungen zwischen den Kassenärzten und den Kassen wirken. Auf Kosten der gesamten Ärzteschaft schließen beide Einzelverträge zu besonders günstigen Konditionen für ihre Mitglieder ab - im Gegenzug werden die Ärzte dann einer noch bürokratischeren Überwachung durch die Kassen unterworfen. Diese Sondervereinbarungen gehen die auf Kosten der Gesamthonorare der Kassenärzte und Kassenpsychotherapeuten. Man kann das Ganze vergleichen mit dem Bruch von Tarifvereinbarungen der DGB-Gewerkschaften, die durch Sondertarifverträge konkurrierender "gelber Gewerkschaften" unterlaufen werden. Gesundheitspolitisch richtet sich diese Vertragspolitik gegen das System der öffentlich-rechtlich verfassten Ärzteversorgung und soll einen weiteren Beitrag zur Privatisierung des Gesundheitssektors darstellen.

Der verantwortliche DA-Redakteur schreibt in der Ausgabe vom 21. Oktober: "Die Kritik der beiden Verbände richtet sich gegen eine IT-Schnittstelle für Selektivverträge, die die KV-Telematik-Arge, eine Arbeitsgemeinschaft von Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und KBV, derzeit zusammen mit der zur AOK Systems GmbH gehörenden gevko definiert. Diese offene Schnittstelle soll dabei helfen, die Selektivvertragslandschaft technisch zu vereinheitlichen. Denn bislang mussten Softwarehersteller für jeden Vertrag eine eigene Software entwickeln." Mit Recht weist auch die "KV-Telematik-ARGE" der Kassenärztlichen Bundesvereinigung auf die Doppelzüngigkeit der Vorwürfe hin. In einer Presseerklärung heißt es: "Die Darstellung durch Medi/DHÄV zeugt von blanker EDV-Unkenntnis. Als Trojaner bezeichnet man ein Computerprogramm. Tatsächlich handelt es sich bei dem Sachverhalt, auf den Medi und DHÄV sich beziehen, aber um eine IT-Schnittstelle. Die definierten Schnittstellen stehen allen potentiellen Vertragspartnern im Gesundheitswesen - Kostenträgern, Vertragsärztinnen und -ärzten, Ärztenetzen, Ärzteverbänden, psychologischen Psychotherapeutinnen und -therapeuten - zur Verfügung. Auf der Basis dieser Schnittstellen können alle Selektivverträge nach eigenen Bedürfnissen gestaltet und in eigener Verantwortung umgesetzt werden.

Die Schnittstellen beschreiben ausschließlich die Daten, die die Vertragspartner miteinander vereinbart haben. Über die vertraglich vereinbarten Inhalte hinaus können keine Dateninhalte ausgetauscht werden." Also dieses Mal kein "Datenskandal". Es geht hier "nur" um einen Machtkampf zwischen KBV und den privaten Ärzteverbänden, die ihre aus dem Honoraraufkommen der gesamten Ärzteschaft abfließenden Privatgelder der Kontrolle der KBV entziehen wollen.

Darauf verweist auch der KBV-Kommentar. Worum es den beiden Verbänden tatsächlich geht, schreiben sie in einer weiteren Presseerklärung: "Es ist Sache der Selektivvertragspartner, eine IT-Struktur für Selektivverträge zu schaffen. Der gesetzliche Auftrag von KBV und KVen beschränkt sich auf den Kollektivvertrag. Es geht also um Machtfragen. Dafür mit dem Begriff 'Kassentrojaner' bewusst Ängste unter den Ärzten zu schüren, ist unredlich. Das Thema Datenschutz ist zu wichtig, um damit Verbandspolitik zu betreiben." Bis zu diesem Punkt kann ich der KBV gerne folgen. Doch wenn das mit einem Appell an die privaten Ärzteverbände gekoppelt wird, dass man sich doch "verständigen müsse", dann ist das schließlich doch nichts anderes als ein Durchwinken der Privatselektivverträge. Eine konsequente Auseinandersetzung müsste ganz anders aussehen.

Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
[1] www.schattenblick.de → Infopool → Medizin → Gesundheit:
BERICHT/1216: Elektronische Patientenkarte - die Konzerne sind entzückt (UZ)

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 43. Jahrgang, 43 vom 28. Oktober 2011, S. 6
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
Anschrift von Verlag und Redaktion:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. November 2011

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