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ARTIKEL/1500: Jahrestagung "Wissenswerte" in Bremen - Kritiker sehen bei Big Data Masse statt Klasse (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 1/2019

BIG DATA
Euphorische Berichte, statistisches Rauschen

von Horst Kreussler


Bei der Wissenswerte in Bremen wurde nach überzeugend positiven Belegen für die Versprechen von Big Data gefragt. Die Antworten konnten nicht jeden überzeugen. Kritiker sehen bei Big Data Masse statt Klasse.


Zentrales Thema der jüngsten "Wissenswerte", der Jahrestagung der deutschen Wissenschaftspresse in Bremen, war die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft und die Aufgabe der Wissenschaftsmedien, ihrer kritischen Informationspflicht gerecht zu werden. In einem Workshop "Big Data - Big Promises?" kamen nicht nur die Komplexität, die Polarität und der große Diskussionsbedarf zum Ausdruck (so Moderatorin Dr. Astrid Viciano, SZ), sondern für den Berichterstatter vor allem der Mangel an Begründung, die Risiken und der enorme Hype, der um "Big Data" gemacht wird.

Der Programmtext zu diesem Workshop wies einleitend auf die schnell wachsende Menge digitaler medizinischer Daten hin, die große Hoffnungen auf verschiedenen Seiten geweckt habe: "Millionen Patientendaten können schnell und zielgenau auf Besonderheiten durchsucht werden, die mit einer bestimmten Erkrankung im Zusammenhang stehen." Behandlungserfolge und -fehlschläge könnten schneller sichtbar gemacht und die daraus gewonnenen Erkenntnisse in der Forschung genutzt werden.

Doch aus heutiger Sicht stand wohl für die meisten Teilnehmer vor allem eine Frage im Raum: Gibt es eigentlich schon überzeugende positive Belege für die Versprechungen von Big Data? Die Antwort gab Prof. Gerd Antes, langjähriger Vorstand der Cochrane Deutschland Stiftung und profilierter Vertreter der wissenschaftlichen (evidenzbasierten) Medizin: Nein. Es fehle schon an eindeutigen Definitionen, was Big Data und die dazugehörigen Ziele und Verfahren eigentlich seien. Stattdessen lasse sich eine euphorische Berichterstattung mitziehen von den ersten populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen mit Titeln und Schlagzeilen wie "Vom Zeitalter der Kausalität zum Zeitalter der Korrelation", "Das Ende der (medizinischen) Theorie" oder "Mehr Daten lösen alles". Dass gleichzeitig auftretende Merkmale sich auch über längere Zeit parallel entwickeln und sich scheinbar bedingen, ohne aber im geringsten kausal verknüpft zu sein, dürfte eine Binsenweisheit sein. Antes zeigte dies am Beispiel zweier völlig parallel verlaufender Kurven, zum einen den Käseverbrauch pro Kopf in einer Region und zum anderen die Zahl der Erstickungsfälle durch das eigene Bettzeug. Als ein weiteres schwerwiegendes Argument führte Mathematiker Antes die Gefahr an, durch viel mehr Daten auch viel mehr falschpositive Ergebnisse zu bekommen, d. h. mehr Krankheitsverdachtsfälle. Anders formuliert: Je mehr Daten, umso stärker kann das statistische "Rauschen" sein, das den Blick auf die eigentlichen Zusammenhänge behindert: "Zu viele Informationen machen den Informationsstand schlechter" oder plakativ: Masse statt Klasse.

Das sah Dr. Peter Langkafel, Gründer der Digital Health Factory in Berlin, etwas anders. Der frühere leitende Angestellte des Software-Riesen SAP bestätigte zunächst, der Big-Data-Begriff sei in der Tat nicht scharf definiert, vielmehr bei seiner Einführung eine Art Fantasiebegriff für vieles. Aber mit Big Data könnten wir nicht erst Probleme der Zukunft, sondern schon heutige große Sorgen angehen. Er nannte vermeidbare Todesfälle durch falschen Medikamentengebrauch, unnötige Krankenhauseinweisungen ("zehn Prozent") und übersehene positive Befunde in der Radiologie. Er schätze, dass 60 Prozent der Patienten nicht EbM-gerecht behandelt würden: "Woher wollen Sie denn wissen, dass Ihr Hausarzt z. B. hier in Bremen Sie richtig behandelt? Es gibt dafür zwar Daten, aber die bekommen Sie nicht." Daher werde derzeit manches im Bereich digitaler Medizin versucht, etwa ein vielversprechender Algorithmus für eine Stotterer-Therapie. Aber: "Unsere Rechtslage lässt "Big Data" noch nicht zu."

Eine vermittelnde Position versuchte der dritte Experte einzunehmen, Prof. Dr. theol. Peter Dabrock (Universität Erlangen-Nürnberg und Vorsitzender des Deutschen Ethikrates). Big Data dürfe nicht in Bausch und Bogen verteufelt, sondern müsse ausgewogen bewertet werden. Er verwies auf die Denkschrift des Ethikrates vor gut einem Jahr ("Big Data und Gesundheit ...", über 300 Seiten), in der es in der Zusammenfassung heißt (S. 21, Rd.Nr. 34): "Als Chancen von Big Data sind vor allem bessere Stratifizierungsmöglichkeiten bei Diagnostik, Therapie und Prävention und damit verbundene Effizienz- und Effektivitätssteigerungen sowie die Unterstützung gesundheitsfördernden Verhaltens zu nennen. Risiken bestehen hinsichtlich Entsolidarisierung, Verantwortungsdiffusion, Monopolisierung, Datenmissbrauch und informationeller Selbstgefährdung."

In der Denkschrift wird vor allem gefordert, den bisherigen, als unzureichend empfundenen Datenschutz an die neuen Möglichkeiten anzupassen und zu einer "Datensouveränität (des Patienten, Probanden, Versicherten) als informationelle Freiheitsgestaltung" weiterzuentwickeln. Dies bedeute, dass der Patient seine Daten nicht ein für allemal abgebe, sondern ihre Weitergabe fortlaufend kontrollieren und den Weg bestimmen könne, wohin und wohin nicht. Dabrock räumte dann auf eine Frage der Moderatorin ein, dass sich die Rolle des Arztes, genauer das Arzt-Patienten-Verhältnis, dramatisch ändern könne und nicht mehr dem aktuell gewünschten "Decision-Sharing-Modell" entsprechen werde.

Antes schüttelte den Kopf und spielte auf die unsichere Wunschvorstellung einer starken Position des Patienten gegenüber mächtigen, ausschließlich nutzenorientierten Interessengruppen im Weltmarkt an: "Ich habe in langen Jahren schon manche "Blase" platzen sehen - der extreme Hype bei Pharma- und Kassenmanagern gibt sehr zu denken." Er wünschte sich seinerseits bei Big Data mehr wissenschaftliche Methodik und die Beachtung anerkannter Qualitätskriterien, um unerwünschte Nebenwirkungen bis hin zur Gefährdung demokratischer Strukturen zu verhindern.


2019

Vom 25. bis 27. November findet die Wissenswerte in Bremen in diesem Jahr statt. Der Kongress versteht sich als "wichtigstes deutschsprachiges Dialogforum für Wissenschaftsjournalisten, -kommunikatoren und medieninteressierte Forscher". Weitere Info unter
www.wissenswerte-bremen.de


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 1/2019 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2019/201901/h19014a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
71. Jahrgang, Dezember 2018, Seite 20
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Februar 2019

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