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AUSLAND/2376: Schwierigkeiten von Ärzten aus Ecuador in Chile (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 152/Juni 2016
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Barrieren des Habitus
Ecuadorianische Ärzte auf dem chilenischen Gesundheits-Arbeitsmarkt

Von Ilana Nussbaum Bitran


Kurz gefasst: Das von großer Ungleichheit geprägte chilenische Gesundheitswesen schützt und monopolisiert die besten Stellen für einheimische Ärzte. Ecuadorianische Ärzte wandern auf der Suche nach besseren Arbeitsmöglichkeiten nach Chile aus, sind aber nicht nur mit rechtlichen Hürden konfrontiert, sondern auch mit wirksamen sozialen Barrieren, die ihnen den Zugang zu besseren Jobs verwehren, weil sie nicht den erwarteten Habitus mitbringen. Nur wenigen ecuadorianischen Fachkräften, die aus Oberschichtfamilien kommen, gelingt es, dieses Problem zu überwinden.


Die Migration von Fachkräften macht einen wichtigen Teil der weltweiten Migrationsströme aus. 2013 waren etwa 30 Prozent aller Einwanderer in die OECD-Staaten hoch qualifiziert; die Tendenz ist steigend. Fachkräftemigration im Gesundheitswesen gilt normalerweise als eine gute Strategie, um einem Fachkräftemangel zu begegnen. Dies zeigte bereits die Einwanderung von Krankenschwestern und Krankenpflegern in Staaten wie den USA, Großbritannien, Australien und Neuseeland. Doch die Zuwanderung von Ärzten stößt oft auf Abwehr. Warum? Welche Rolle spielt in dieser Situation der soziale und rechtliche Kontext?

Um diese Frage zu beantworten, nutze ich Informationen aus 17 qualitativen Interviews, die ich mit ecuadorianischen Ärzten geführt habe. Sie sind in die chilenische Hauptstadt Santiago de Chile ausgewandert, um dort zu arbeiten. Es geht dabei um die Frage, wie die Integration der Gesprächspartner verlaufen ist. Thematisiert wurde dabei, wie Arbeitsmarktstrukturen und subtile soziale Diskriminierungen die Möglichkeit ärztlicher Berufsausübung beeinflussen oder sogar ganz unterbinden. Es hat sich in dem Berufsfeld offenbar ein Habitus entwickelt, der sich gefestigt hat und dauerhaft wirkt. Dies trifft nicht nur für das medizinische Berufsfeld in Chile zu, sondern ist ein weiter verbreitetes Phänomen.

Für Migranten aus Lateinamerika war Chile in den letzten Jahrzehnten sehr attraktiv. Nach 17 Jahren Diktatur (1973-1990) erlebte das Land eine Phase wirtschaftlicher Blüte, während viele andere Länder der Region politische und ökonomische Probleme hatten. Das galt vor allem für Staaten wie Ecuador, Kolumbien, Peru und Bolivien. Arbeitskräfte aus diesen Ländern suchten nach neuen Arbeitsmöglichkeiten, gezwungenermaßen auch im Ausland.

Die Zahl der erfassten Einwanderer in Chile ist verglichen mit Ländern wie Deutschland zwar immer noch niedrig, hat sich aber in den vergangenen 20 Jahren fast verdreifacht und macht inzwischen 2 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Die meisten Migranten kommen aus anderen lateinamerikanischen Ländern, hauptsächlich aus Peru (30,5 Prozent), Argentinien (16,8 Prozent), Kolumbien (8,1 Prozent), Bolivien (7,4 Prozent) und Ecuador (4,8 Prozent), und ihr durchschnittlicher Bildungsstand ist viel höher als der der chilenischen Bevölkerung. Die Ecuadorianer sind eine der am besten ausgebildeten Einwanderergruppen: 38 Prozent von ihnen arbeiten im Gesundheitswesen als Fachkräfte, insbesondere als Ärzte und Zahnärzte.

Die chilenischen Einwanderungsgesetze sind alt und überholt. Das Ausländergesetz trat 1975 während der Diktatur in Kraft und zielte darauf ab, den Staat vor "Terroristen" und anderen unerwünschten Einwanderern zu schützen, während es gleichzeitig die eigenen Bürger an der Auswanderung hinderte. Andere wichtige rechtliche Rahmenbedingungen sind die "Andrés Bello"-Abkommen zwischen elf lateinamerikanischen Staaten und Spanien sowie die Verträge zur gegenseitigen Anerkennung von Berufstiteln mit Spanien und elf lateinamerikanischen Staaten, darunter Ecuador. Diese Verträge ermöglichen Ärzten aus den Vertragsstaaten, ohne rechtliche Hürden in Chile zu arbeiten. Die Abkommen erkennen keine medizinischen Spezialisierungen oder andere nach Abschluss des Studiums erworbene Aufbauqualifikationen an. Das "Einheitliche nationale Medizin-Examen" (auf Spanisch EUNACOM, Kosten ca. 780 EUR) spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. Es besteht aus einem schriftlichen und einem praktischen Teil und wurde bis 2009 nur von Personen abgelegt, die in Chile studiert hatten, ist aber seitdem für alle Ärzte obligatorisch, die im öffentlichen Gesundheitssektor des Landes arbeiten wollten - im Widerspruch zu den oben genannten Abkommen.

Das chilenische Gesundheitswesen zeichnet sich durch ein hohes Maß an Ungleichheit aus. Es ist unterteilt in einen privaten Sektor mit hohem Qualitäts- und Versorgungsstandard, aber restriktiven Preisen, und einen öffentlichen Sektor mit schlechten Versorgungsleistungen und mangelnden Ressourcen, aber bezahlbaren Preisen. Die Ärzte verteilen sich ungleichmäßig auf diese beiden Sektoren, vor allem aufgrund der Einkommensunterschiede: Im privaten Sektor können sie ein bis zu neunmal höheres Einkommen erzielen. Dies führt zu einem Ärztemangel im öffentlichen Sektor, vor allem in der gesundheitlichen Grundversorgung, wo die Gehälter am niedrigsten und Infrastruktur und Ausrüstung oft mangelhaft sind.

Diese Ungleichheit findet sich auch im Bildungssystem wieder. Bis in die 1980er Jahre konnte man nur an einigen öffentlichen Universitäten Medizin studieren, und diese Laufbahn war weitgehend auf die soziale Oberschicht beschränkt. Während der Militärdiktatur in den 1980er Jahren wurden viele private Universitäten gegründet und Studiengebühren eingeführt. Dies führte dazu, dass höhere Bildung ein Massenphänomen wurde. Die Qualität der Ausbildung wurde unterdessen aber vernachlässigt; die Auswahl der Studenten wurde dem Markt überlassen. Es gab zwar mehr Möglichkeiten, medizinische (und fast alle anderen) Fachrichtungen zu studieren, doch die hohen Kosten konnten sich nur privilegierte Studenten leisten. Das Medizinstudium dauert sieben Jahre; 2012 variierten die jährlichen Kosten je nach Universität zwischen 4.570 EUR und 8.240 EUR. In Ecuador ist die Situation anders: Öffentliche Universitäten sind unentgeltlich, Privatuniversitäten viel preiswerter als in Chile, sodass auch Studenten der Mittel- und Unterschicht studieren können.

Wenn ecuadorianische Ärzte in Chile den Arbeitsmarkt betreten, sind sie zunächst mit rechtlichen Rahmenbedingungen konfrontiert. Wer über eine medizinische Spezialisierung verfügt, muss einen langen, komplizierten und teuren Prozess durchlaufen, um diese anerkennen zu lassen. Nach vielen Jahren Papierkrieg geben viele auf und arbeiten weiter im Sektor der medizinischen Grundversorgung, wo sich ihnen aber ein weiteres Problem stellt. Die gesetzlichen Bestimmungen erlauben ihnen, im privaten Sektor zu arbeiten, ohne das EUNACOM zu absolvieren, nicht aber im öffentlichen Sektor. 2013 bestanden 91,75 Prozent der Ärzte, die im Ausland studiert hatten, das Examen nicht, während nur 11,29 Prozent derjenigen, die in Chile studiert hatten, durchfielen. Dabei herrscht in der medizinischen Grundversorgung ein enormer Ärztemangel, und jede Fachkraft ist mehr als willkommen. Das rechtliche Problem wird durch befristete Verträge umgangen, und wegen der fehlenden Kontrolle ist der Spielraum groß genug, um ecuadorianische Ärzte einzustellen, die das Examen nicht bestanden haben.

Warum gehen diese Ärzte dann nicht in den privaten Gesundheitssektor, wo das Examen kein Problem darstellt? Ecuadorianische Fachkräfte (und andere Fachkräfte aus Ländern der Südhalbkugel) haben im privaten Gesundheitssektor kaum eine Chance, weil dieser de facto einheimischen Ärzten vorbehalten bleibt. Im privaten Sektor sind bestimmte Formen des kulturellen Kapitals zwingend erforderlich, und es wird erwartet, dass Ärzte und Patienten den gleichen Oberschichtenhabitus teilen. Der Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt ist so hart, dass in privaten Kliniken praktisch nur chilenische Ärzte arbeiten, die aus der Oberschicht stammen. Die Art des Medizinstudiums in Chile und der Auswahlprozess durch hohe Studiengebühren führen dazu, dass der Status quo erhalten wird, indem Ärzten mit ausländischem Studienabschluss der Zutritt auf den Arbeitsmarkt verwehrt wird. Ecuadorianische Ärzte, die in Chile arbeiten, kommen meistens aus der Mittelklasse ihres Landes und entsprechen nicht den sozialen Erwartungen im privaten Gesundheitssektor. Auf diese Weise können chilenische Ärzte ihren Arbeitsmarkt praktisch monopolisieren und die besten Stellen für sich selbst und ihre Nachfolger mit identischer sozialer Position und identischem Habitus sichern.

Nur einige wenige ecuadorianische Fachkräfte steigen im Arbeitsmarkt auf und erhalten Zugang zu besseren Positionen im privaten Sektor. Wie schaffen sie das? Meistens stammen sie aus der Oberschicht ihres Landes und kommen nach Chile, um ihr Studium fortzusetzen. Dies verschafft ihnen zwei Vorteile. Erstens teilen sie bereits viele Präferenzen und Verhaltensweisen mit der chilenischen Oberschicht und haben so leichteren Zugang zu den wirtschaftlich wohlhabenden Kreisen des Gastlandes; so können sie ihr soziales Kapital erhöhen. Gleichzeitig können sie sich die Studiengebühren für ein Spezialisierungsstudium in Chile leisten und erwerben so durch chilenische Qualifikationen institutionelles Kapital. Zudem ermöglicht ihnen das Studium in Chile den Kontakt zu einheimischen Studenten, mit denen sie gemeinsam studieren und von denen sie chilenische Sitten, Bräuche und selbst den chilenischen Akzent übernehmen. Nach Beendigung des Studiums sind einige von ihnen in der Lage, eine bessere Stelle im privaten Gesundheitssektor zu finden, andere bleiben jedoch im öffentlichen Gesundheitssektor. Selbst wenn sie wertvolles soziales und kulturelles Kapital erworben haben, sind sie noch mit subtilen Barrieren auf dem Arbeitsmarkt konfrontiert - wegen ihrer äußeren Erscheinung, ihres Herkunftslandes oder jedes anderen Aspekts, der verrät, dass sie nicht dazugehören.

Zusammengefasst gibt es auf dem chilenischen Arbeitsmarkt im Gesundheitswesen zwei Arten von Barrieren. Erstens schaffen die rechtlichen Rahmenbedingungen Hürden, sind widersprüchlich hinsichtlich der Anerkennung einiger ausländischer Berufstitel und machen es seit 2009 mit der Einführung von EUNACOM, das dem Geist des "Andrés Bello"-Abkommen widerspricht, fast unmöglich, ein medizinisches Spezialisierungsstudium anerkannt zu bekommen. Dieses Examen gilt als Qualitätskontrolle, funktioniert in der Realität aber zugleich wie ein Auswahlmechanismus, bei dem spezifisches, im Land erworbenes Wissen anerkannt wird und die Prüfer sich in der Praxis manchmal sogar rassistisch und fremdenfeindlich verhalten. Zweitens existieren subtile Barrieren auf der Grundlage sozialer Kategorien von Diskriminierung nach sozialer Schicht und Ethnie.

Die hier präsentierte Arbeit konzentriert sich auf eine Gruppe hoch qualifizierter Migranten in Chile und lässt wichtige Fragen über die Signifikanz und Besonderheit des geografischen und sozialen Kontexts offen. Es wäre interessant zu wissen, in welchem Ausmaß die Strategien, die hoch qualifizierte lateinamerikanische Migranten in Chile entwickeln, auf den institutionellen Rahmen des Landes zurückzuführen sind oder ob sie als ein transnationaler Prozess auf der Grundlage der Arbeitsmarktstrukturen zu sehen sind. Länderübergreifende Vergleichsstudien, die sich über mehr als ein Berufsfeld erstrecken, könnten zu einem besseren Verständnis der Wanderungsbewegungen von Fachkräften beitragen, indem sie zeigen, wie einige Arbeitsmarktstrukturen transnational wirken und bestimmte Einkommensschichten und soziale Gruppen privilegieren, und erklären, wie sie die Strategien hoch qualifizierter Migranten beeinflussen.


Ilana Nussbaum Bitran ist Doktorandin an der Universität Duisburg-Essen im Feld Makrosoziologie und transnationale Prozesse. Sie war zuvor studentische Mitarbeiterin am WZB. Sie erforscht Aufstiegsstrategien hoch qualifizierter lateinamerikanischer Migranten auf dem chilenischen und deutschen Arbeitsmarkt.
ilana.nussbaum@gmail.com


Literatur

Emol: 91 porciento de médicos titulados en el extranjero reprueba test Eunacom. 13.01.2014. Online:
http://www.emol.com/noticias/nacional/2014/01/13/639475/un-92-de-medicos-chilenos-titulados-en-el-extranjero-reprueba-examen-para-trabajar-en-hospitales-publicos.html
(Stand 23.05.2016).

Instituto Nacional de Estadísticas (INE): Censo de población y vivienda. 2012. Online:
http://www.ine.cl/canales/chile_estadistico/censos/censo_poblacion_vivienda.php
(Stand 23.05.2016).

Iredale, Robyn: "The Migration of Professionals: Theories and Typologies". In: International Migration, 2001, Vol. 39, No. 5, pp. 7-26.

Mutual de Seguridad: Salud ofrecerá sueldo de $ 3,2 millones a médicos especialistas para que se queden en consultorios. 2014. Online:
http://mutual.icc-crisis.com/?p=10080 (Stand 23.05.2016).

OECD-UNDESA: World Migration in Figures. 2013. Online:
https://www.oecd.org/els/mig/World-Migration-in-Figures.pdf
(Stand 23.05.2016).

Valdivieso, Lucía: "Alcances y Perspectivas en torno a la Migración de Mujeres a través del Testimonio de Mujeres Ecuatorianas en Chile". In: Revista MAD, 2001, No. 4.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 152, Juni 2016, Seite 31 - 33
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juli 2016

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