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AUSLAND/2288: Jemen - Gesundheitssystem droht durch Krieg Kollaps, Kranke von Kliniken abgewiesen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 21. Oktober 2015

Jemen: Gesundheitssystem droht durch Krieg Kollaps - Kranke von Kliniken abgewiesen

von Almigdad Mojalli


SANA'A (IPS/IRIN*) - Als bei Mohsen al-Mataris Ehefrau die Wehen einsetzten, sollte sie sich zu einem Notkaiserschnitt ins Krankenhaus begeben. Die nächstgelegene Klinik im Westen des Jemen wies sie jedoch ab. "Wir können einen solchen Eingriff hier nicht mehr vornehmen", hieß es. "Fahren Sie in die Hauptstadt."

Für die Reise in das 30 Kilometer entfernte Sana'a fehlte Mohsen al-Matari jedoch das Geld. "Ich musste meine Frau zu einer Hebamme in unserem Dorf bringen", sagte er dem UN-Informationsdienst IRIN. Wie durch ein Wunder brachte die Frau schließlich ein gesundes Kind zur Welt.

Andere Jemeniten, die dringend medizinisch behandelt werden müssen, bleiben ganz sich selbst überlassen. Schwerkranke Patienten werden von Krankenhäusern wieder zurückgeschickt, da akuter Mangel an Ärzten und Medikamenten herrscht. Zahlreiche Einrichtungen sind zudem durch Luftangriffe während des weiter andauernden Bürgerkriegs beschädigt worden.

Bereits vor der Eroberung Sana'as durch Huthi-Rebellen und dem erzwungenen Rücktritt von Staatspräsident Abd-Rabbu Mansour Hadi im Januar dieses Jahres hatten ungefähr 8,6 Millionen der insgesamt 25,2 Millionen Jemeniten keinen Zugang zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung.


Tausende Tote seit Beginn der Luftangriffe

Die Lage für die Bevölkerung hat sich weiter verschlechtert, seit im März die von Saudi-Arabien angeführte Militärkoalition mit Luftschlägen gegen die Rebellen begann. Mehr als 5.000 Menschen wurden bisher bei den Angriffen getötet, unter ihnen 2.300 Zivilisten.

Im September warnte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) davor, dass Jemens Gesundheitssystem "am Rand des Zusammenbruchs" stehe. Sie schätzte, dass fast ein Viertel der medizinischen Einrichtungen des Landes nicht länger funktionstüchtig seien.

Das Hospital des 26. September in Bani Matar, wo das Ehepaar Matari zunächst Hilfe suchte, war im September drei Mal von Bomben getroffen worden. Offenbar war das eigentliche Angriffsziel, ein Gebäude nebenan, irrtümlich verfehlt worden. Ein Pfleger wurde bei dem Bombardement getötet, zehn Kollegen überlebten verletzt.

Wie der Krankenhausleiter Mohammed Abduladheem Zaid erklärte, gingen Türen und Fenster durch die Wucht der Detonationen zu Bruch. Während des Angriffs waren die Patienten sich selbst überlassen, da Ärzte und Pfleger das Gebäude verließen, um Schutz vor den Bomben zu suchen. Laut Zaid wurde die Arbeit in der Notaufnahme, der Röntgenabteilung und der Entbindungsstation erst nach wieder aufgenommen, nachdem Patienten die Mitarbeiter gezwungen hatten, zur Arbeit zurückzukehren.

Auch das Al-Thawra Hospital in Sana'a, das größte Krankenhaus des Landes, wurde im Mai von Bomben getroffen und schwer beschädigt. Der Angriff galt eigentlich einem Waffenversteck der Huthi-Rebellen im nahegelegenen Noqoum-Gebirge. In der im äußersten Süden gelegenen Hafenstadt Aden steht eine der größten Kliniken des Landes aufgrund von Kriegssschäden leer. Viele Ärzte versuchen ihr Möglichstes, um Kranke in den teils zerstörten Gebäuden zu versorgen. Oft können sie aber nicht viel tun, weil ihnen Medikamente und Geräte fehlen.


Waffenembargo gegen Rebellen verhindert auch Medizinimporte

Im April verhängte der UN-Sicherheitsrat ein Waffenembargo gegen die Rebellen. Die strengen Einfuhrbeschränkungen treffen aber auch die Zivilisten im Jemen hart. Nur selten gelangen seitdem Lebensmittel, Wasser und medizinische Güter in das Land. Die Krankenhäuser sind daher abhängig von der Unterstützung durch Hilfsorganisationen, die allerdings nicht für eine kontinuierliche Versorgung der Patienten ausreicht.

Der 62-jährige Mohammed Ali aus Sana'a berichtet, dass seine Frau unbedingt wegen akuten Nierenversagens behandelt werden müsse. "Im Al-Thawrah-Krankenhaus sagte man mir, dass seit einer Woche keine Dialysebehandlungen mehr durchgeführt werden. Im Militärhospital hörte ich, dass die Dialyselösung ausgegangen ist und sie heute zum letzten Mal Patienten versorgen." Wo seine Frau nun noch Hilfe erhalten könne, sei ungewiss.

Anwar Mughalis, einer der Manager des Al-Thawrah-Krankenhauses, bestätigt IRIN, dass die Einrichtung ihre Dienstleistungen auf ein Minimum zurückfahren musste und regelmäßig Patienten abweisen müsse. "Uns fehlen auch medizinische Instrumente, künstliche Herzklappen und Stents", sagt er. "Im Inland sind sie nicht erhältlich, da die Firmen sie nicht einführen dürfen." Unterdessen warten etwa 120 Patienten in dem Hospital auf dringend notwendige Herzoperationen.

Mughalis macht die Wirtschaftsblockade für die katastrophale Situation verantwortlich. "Handelsschiffe dürfen nicht in jemenitischen Häfen vor Anker gehen. Nur den internationalen Organisationen ist es noch erlaubt, medizinische Hilfsgüter ins Land zu bringen. Sie können aber nicht alles einführen, was wir vor dem Krieg hatten."

Im Krankenhaus des 26. September, dessen Name an das Datum der Absetzung des letzten Monarchen Jemens erinnert, fehlen Medikamente gegen Bluthochdruck, Diabetes sowie Psychopharmaka.


Hilfsorganisationen können nicht alle versorgen

Die Hilfsorganisationen sind überfordert. "Ich kann nur noch Patienten annehmen, deren Leben akut bedroht ist", sagt Hassan Boucenine, der Leiter der Mission von Ärzte ohne Grenzen im Jemen. Auch er sieht das Handelsembargo als erste Ursache für den Notstand in Krankenhäusern. Selbst das Gesundheitsministerium sei kaum noch in der Lage, Medikamente und medizinische Ausrüstung aus dem Ausland zu beschaffen.

Seit März hat Ärzte ohne Grenzen 400 Tonnen Hilfsgüter bereitgestellt. In erster Linie seien sie für akute Notfälle bestimmt, sagt Boucenine. Medikamente und medizinische Güter würden aber auch für andere Abteilungen in der Organisation unterstützten Krankenhäusern bereitgestellt. Weitere Unterstützung kommt unter anderem vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz.

Fachpersonal ist unterdessen rar. Fast alle Ausländer, die vorher in den Kliniken tätig waren, sind nicht mehr im Land. Mughalis berichtet, dass er seit Beginn der Bombardements im März etwa 400 Mitarbeiter verloren habe. "Krankenschwestern und Ärzte, darunter Anästhesisten sowie Herz- und Nierenspezialisten, haben den Jemen nach den ersten Angriffen der Saudis verlassen. "

Viele jemenitische Gesundheitsarbeiter gehören zu den ungefähr 2,3 Millionen Menschen, die im eigenen Land vertrieben wurden. Die in den Hospitälern verbliebenen Fachkräfte arbeiten inzwischen in 24-Stunden-Schichten. Auch Medizinstudenten werden zur Unterstützung herangeholt.

Ein Ende der Angriffe ist nicht in Sicht. Auch nachdem die Huthis dem von den Vereinten Nationen vermittelten Frieden zugestimmt haben, fallen im Jemen weiterhin Bomben. Zivilisten irren derweil von Krankenhaus zu Krankenhaus, um in ihrer verzweifelten Lage Hilfe zu finden. Und längst nicht alle haben so viel Glück wie die Mataris. (Ende/IPS/ck/20.10.2015)

* IRIN ist ein Informationsdienst der Vereinten Nationen


Link:

http://www.irinnews.org/report/102120/make-do-or-die-healthcare-in-yemen

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 21. Oktober 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Oktober 2015

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