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AUSLAND/2206: Nepal - Traumatisierte Kinder brauchen dringend fachärztliche Betreuung (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 16. Februar 2015

Nepal: Traumatisierte Kinder brauchen dringend fachärztliche Betreuung

von Mallika Aryal



Bild: © Mallika Aryal/IPS

Kinder in einer Schule für Nepalesen, die durch Überschwemmungen vertrieben wurden
Bild: © Mallika Aryal/IPS

Surkhet, Nepal, 16. Februar (IPS) - In der Nacht zum 14. August 2014 wurde der zehnjährige Hari Karki von lauten Schreien seines Großvaters geweckt. Der alte Mann sah auf das Haus der Familie in Paagma, einem kleinen Dorf im Osten Nepals, Wassermassen zutreiben. Mehrere Tage lang hatte es ununterbrochen geregnet.

Hari konnte die ankommende Flut sprudeln hören. Er ergriff die Hände seiner Schwester und seines Großvaters, watete mit ihnen durch das knietiefe Wasser im Wohnzimmer und rannte dann mit ihnen so schnell weg, wie er nur konnte. Am anderen Ende des Dorfes, auf einer Anhöhe, kamen die drei in einer Grundschule unter. In der Nacht ergoss sich sintflutartiger Regen über das Dorf und überschwemmte die Häuser. "Seitdem hat sich unser Leben verändert", sagt Haris Vater, Dhan Bahadur Karki.

Von den Überschwemmungen und Erdrutschen im Distrikt Surkhet waren im vergangenen August nach Angaben des Komitees für Katastrophenhilfe mehr als 24.000 Menschen betroffen. In dem von der Regierung koordinierten Komitee sind internationale und nationale Hilfsorganisationen zusammengeschlossen. Etwa 12.000 Nepalesen wurden durch die Fluten vertrieben. 24 Personen kamen ums Leben, weitere 90 werden bis heute vermisst. Mehr als 40 Prozent aller Betroffenen waren Kinder, die nach Ansicht von Experten noch lange unter den Folgen leiden werden.


Kinder Katastrophen besonders schutzlos ausgeliefert

"Kinder haben ihr Zuhause, ihre Schule, Freunde und Verwandte verloren", sagt Manoj Bist von der Organisation 'Save the Children Nepal', die in den Überschwemmungsgebieten in der Mitte und im Westen des südasiatischen Landes Hilfe leistet. "Wenn ihre Schutzsysteme zusammenbrechen, sind Kinder Gewalt, Krankheiten und Missbrauch ausgeliefert."

Fünf Monate nach der Überschwemmung leben die Vertriebenen nach wie vor in Zelten. Karkis Familie hat eine provisorische Unterkunft auf der anderen Seite des Flusses errichtet. "Von dem Zelt aus sehe ich jeden Tag die Überreste meines Hauses. Ich bringe es aber nicht über mich, zurückzukehren und es wieder aufzubauen", sagt Dhan Bahadur Karki.

Nicht nur die Hauseinrichtung, sondern auch die kleinen Ersparnisse der Familie gingen in den Wassermassen unter. Dhan Bahadur will nun in Malaysia in einer Mobiltelefonfabrik arbeiten, sobald er ein Visum bekommt. Mehr als um sein Einkommen sorgt er sich zurzeit jedoch um den psychischen Zustand seiner beiden Kinder.

Hari leidet unter Konzentrationsschwierigkeiten. Vor der Katastrophe war ein guter Schüler, doch danach ging es mit den Noten bergab. "Nachts kann ich nicht schlafen oder ich habe Albträume", erzählt der Junge, als er aus dem Holzverschlag kommt, in dem bis auf weiteres der Unterricht stattfindet. Vor einem Monat fing er an zu schlafwandeln und wurde von seiner Familie in Waldnähe gefunden.

"Nach einer Naturkatastrophe steht ein Kind psychisch stark unter Druck. Nur wenn die Behandlung frühzeitig einsetzt, lassen sich langfristige Folgen vermeiden", betont Saroj Prasad Ojha, der Psychiatrie am Lehrkrankenhaus der Tribhuvan-Universität in der Hauptstadt Katmandu unterrichtet.

Die genaue Zahl der Kinder, die in Nepal psychiatrisch behandelt werden müssen, ist nicht bekannt. Unter ihnen sind auch Opfer sexuellen Missbrauchs und häuslicher Gewalt. Manche leiden unter Traumata. Gesundheitsexperten und Sozialaktivisten fordern ein rasches Handeln der Regierung, um diesen Kindern Hilfe zukommen zu lassen.


Weltweit 450 Millionen psychisch Kranke

Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO leiden weltweit etwa 450 Millionen Menschen unter psychischen Störungen. Geisteserkrankungen machen demnach ungefähr 13 Prozent aller global registrierten Krankheiten aus. Die christliche Hilfsorganisation 'United Mission to Nepal' (UMN) geht davon aus, dass etwa 20 bis 25 Prozent der Patienten, die sich in dem Land zur Behandlung in Gesundheitseinrichtungen begeben, mentale oder Verhaltensauffälligkeiten zeigen.

"Das Problem ist, dass psychische Krankheiten nicht als Gesundheitsprobleme angesehen werden", meint der Psychologe Sailu Rajbhandari, der für die 'Transcultural Psychosocial Organisation' (TPO) in Nepal arbeitet.

Die Regierung stellt nur weniger als zwei Prozent des staatlichen Gesundheitsbudgets von etwa 334 Millionen US-Dollar für die psychiatrische Versorgung bereitet. Ein Krankenhaus in Katmandu, das 50 Betten hat, ist die einzige Einrichtung, die sich auf psychische Krankheiten spezialisiert hat. In ganz Nepal gibt es nur 70 Psychiater - statistisch gesehen einen für jeweils 380.000 Einwohner. Nur ein einziger von ihnen ist für die Behandlung von Kindern ausgebildet.

Psychologen an Kliniken, Sozialarbeiter und Pfleger, die sich um diese Patienten kümmern können, sind noch dünner gesät. "In Nepal sind wir weit davon entfernt, spezielle Behandlungsprogramme für psychisch kranke Kinder anbieten zu können", bedauert Shristee Lamichhane, der für UMN arbeitet. Arun Raj Kunwar ist der einzige Kinderpsychiater in ganz Nepal. "Unsere Gesellschaft und die Gesundheitsbehörden haben keine Vorstellung davon, dass auch Kinder mentale Probleme haben können", sagt er. Oftmals träten Traumata in diesem Alter nicht offen zutage, sondern äußerten sich eher in körperlichen Beschwerden.


Mentale Gesundheit muss Entwicklungsziel werden

Experten fordern, der psychischen Gesundheit der Bevölkerung die gleiche Bedeutung beizumessen wie anderen Entwicklungszielen des Landes. "Denn Kinder sind unsere Zukunft, die nächste produktive Generation, die in Nepal heranwächst", sagt Ojha. Gesundheitsarbeiter müssten umfassend ausgebildet werden, um mit den unterschiedlichen Formen dieser Erkrankungen umgehen zu können.

Wie viele Kinder durch den zehnjährigen Bürgerkrieg in Nepal, der 2006 zu Ende ging, traumatisiert wurden, ist nicht bekannt. Aus einem 2008 veröffentlichten Bericht der staatlichen Menschenrechtskommission geht hervor, dass mehr als 8.000 Kinder während des Konflikts ihre Eltern verloren haben und etwa 40.000 vertrieben wurden. Nur die wenigsten von ihnen wurden in der Folge psychologisch betreut.

Dabei ist Nepal Vertragsstaat der globalen Vereinbarung der Vereinten Nationen zur Prävention und Kontrolle nichtübertragbarer Krankheiten. Im vergangenen Jahr verabschiedete das Land in diesem Sinne einen spartenübergreifenden Aktionsplan für den Zeitraum 2014 bis 2020, der die psychische Gesundheit zu einem prioritären Ziel erhebt. Psychiater und andere Experten des Sektors zeigen sich daher zuversichtlich, dass die Regierung ihr Augenmerk verstärkt in diese Richtung lenken wird. (Ende/IPS/ck/2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/02/nepali-children-in-dire-need-of-mental-health-services/

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IPS-Tagesdienst vom 16. Februar 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Februar 2015

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