Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → GESUNDHEITSWESEN

AUSLAND/1613: Zum Welt-Poliotag 2010 - Wieder Poliofälle in der WHO-Region Europa (EpiBull)


Epidemiologisches Bulletin 42/2010 - 25. Oktober 2010

Zum Welt-Poliotag 2010
Wieder Poliofälle in der WHO-Region Europa


Jährlich am 28. Oktober wird der Welt-Poliotag zu Ehren des Geburtstages von Dr. Jonas Salk begangen. Dieser Tag soll an die Entwicklung des ersten Polioimpfstoffes erinnern. Seit Beginn der globalen Polioeradikationsinitiative (GPEI) 1988 unter Führung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurden in weiten Teilen der Welt beträchtliche Erfolge bei der Bekämpfung dieser Infektionskrankheit erzielt. Dank gemeinsamer Anstrengungen von WHO, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF), Rotary International, der amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC und vielen anderen Mitstreitern konnte die Zahl der weltweit registrierten Fälle um 99,5% gesenkt werden; 3 von 6 WHO-Regionen wurden bereits als poliofrei zertifiziert (Amerika 1994, Westpazifik 2000 und Europa 2002).

In diesem Jahr traten erstmalig wieder Poliofälle in der WHO-Region Europa auf: Durch aus Indien eingeschleppte Wildtyp-Polioviren vom Typ 1 (WPV 1) kam es in Tadschikistan zu dem größten Polioausbruch in diesem Jahr. Das Virus wurde nachfolgend aus Tadschikistan in die Russische Föderation, nach Kasachstan und Turkmenistan importiert. Insgesamt wurden bei der WHO offiziell 475 WPV1-Fälle registriert (Stand 14.10.2010): 458 in Tadschikistan, 13 in der Russischen Föderation, bisher drei in Turkmenistan und einer in Kasachstan. Es gab 19 Todesfälle (4 Der Ausbruch in Tadschikistan ist für zwei Drittel der weltweiten Poliofälle in 2010 verantwortlich und stellt damit einen Rückschlag für die europäische WHO-Region dar. Nationale Impfkampagnen in Tadschikistan und den benachbarten zentralasiatischen Republiken Usbekistan, Kasachstan, Kirgisistan und Turkmenistan haben dazu beigetragen, dass seit Anfang Juli keine Neuerkrankungen gemeldet wurden. Bei diesen umfassenden Impfaktionen erhielten alle Kinder unter 15 Jahren den monovalenten Lebendimpfstoff mOPV1 (im Gegensatz zu den üblichen Impfkampagnen, die alle Kinder unter 5 Jahren erfassen).

Insgesamt konnte auch in diesem Jahr die Zahl der weltweiten Poliofälle weiter reduziert werden: Sie sank von 1.165 im vergleichbaren Zeitraum 2009 auf 717 im Jahr 2010. Die Zahl der registrierten Fälle von WPV3 sank um 90Insbesondere in den Endemieländern Indien und Nigeria wurden beachtliche Erfolge erzielt: In Nigeria ging die Zahl der Neuerkrankungen von 382 im vergangenen Jahr auf jetzt acht zurück, in Indien sank die Fallzahl von 431 im Vorjahreszeitraum auf 39 in diesem Jahr.

Pakistan ist das einzige Endemieland, in dem die Polioinzidenz im Jahr 2010 im Vergleich zum Vorjahr angestiegen ist: Hier wurden mehr Fälle (69) registriert als in den anderen drei Endemieländern zusammen (65). Das bedeutet gleichzeitig aber auch, dass ein Großteil der Neuerkrankungen in diesem Jahr (81auf Fälle in Nichtendemiegebieten zurückzuführen ist. Reetablierte Transmissionen der Poliowildviren in Angola, im Tschad und in der Demokratischen Republik Kongo konnten auch 2010 nicht gestoppt werden. Die Fragilität der Erfolge wird zudem durch neue Virusimporte und Krankheitsausbrüche in Nepal, Senegal, Mauretanien und Tadschikistan sichtbar.

Im Juni 2010 wurde der neue Strategische Plan der GPEI für 2010 bis 2012 eingeführt. Dieser baut auf den Ergebnissen einer unabhängigen Evaluation des Programms auf. Neue Ansätze beinhalten gebietsspezifische Bekämpfungsstrategien, spezielle Strategien für bislang unterversorgte Bevölkerungsgruppen (wie Nomaden, Wanderarbeiter usw.) und den Einsatz neuer Impfstoffe (bOPV = bivalente Impfstoffe).

Die Unterbrechung der Poliowildvirus-Transmission wird von der WHO angestrebt für:
• Mitte 2010 in allen Ländern mit neuen Polioausbrüchen im Jahr 2009,
• Ende 2010 in allen Ländern mit reetablierter Transmission,
• Mitte 2011 in allen Ländern mit neuen Polioausbrüchen im Jahr 2010,
• Ende 2011 in zwei der letzten vier Endemieländer,
• Ende 2012 in den letzten zwei Endemieländern.

Mit fortschreitender Dauer der GPEI werden zunehmend auch kritische Diskussionen geführt. Dabei wird argumentiert, dass das weltweite Polioeradikationsprogramm in einem "ethischen Dilemma" stecken würde, weil es enorme Ressourcen bindet, die für andere Projekte nicht zur Verfügung stehen. Die Polioeradikationsinitiative hat jedoch nicht nur zum größten Zustrom von Public-Health-Ressourcen nach Afrika seit der Pockeneradikationskampagne geführt, sondern auch zu wichtigen Investitionen, die der Bekämpfung anderer Erkrankungen in den Entwicklungsländern zugute kommen. So wurden die Mittel auch für den Aufbau regionaler Labornetzwerke, die Verbesserung von Logistik, Kühlketten, Kommunikations- und Transportsystemen sowie die Ausbildung von Gesundheits- und Immunisierungspersonal eingesetzt. Eine Befragung in der WHO-Region Afrika ergab, dass 90er Länder ihr System zur Überwachung der akuten schlaffen Paresen (AFP-Surveillance) auch für andere Erkrankungen nutzen.

Für das erfolgreiche Ende der GPEI ist neben dem politischen Engagement auf allen Ebenen und der Aktivierung auch einheimischer Ressourcen in den restlichen Polio-Endemieländern die kontinuierliche Unterstützung der internationalen Gemeinschaft weiterhin unerlässlich. Momentan beträgt die Finanzierungslücke der GPEI etwa 30 %.

In Deutschland werden seit April 2010 alle Aktivitäten zur Überwachung der Poliosituation einschließlich der Geschäftsstelle der Nationalen Poliokommission vom Robert Koch-Institut koordiniert, in dem sich auch das Nationale und Regionale WHO/EURO-Referenzlabor für Poliomyelitis und Enteroviren befindet.


Bericht des Nationalen Referenzzentrums für Poliomyelitis und Enteroviren am Robert Koch-Institut. Als Ansprechpartnerinnen stehen Dr. Katrin Neubauer (E-Mail: NeubauerK@rki.de) und Dr. Sabine Diedrich (E-Mail: DiedrichS@rki.de) zur Verfügung.

Das Robert Koch-Institut ist ein Bundesinstitut im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit.


*


Quelle:
Epidemiologisches Bulletin 42/2010 - 25. Oktober 2010
Herausgeber: Robert Koch-Institut
Nordufer 20, D-13353 Berlin
Telefon: 030/18 754-0, Fax: 030/18 754-23 28
E-Mail: EpiBull@rki.de
Internet: www.rki.de > Infektionsschutz > Epidemiologisches Bulletin


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Oktober 2010