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TRANSPLANTATION/444: Lebensfragmente (4) - Die bionische Hand lernt fühlen (research*eu)


research*eu - Nr. 62, Februar 2010
Magazin des Europäischen Forschungsraums

KÜNSTLICHE ORGANE - Lebensfragmente (4)
Die bionische Hand lernt fühlen

Von Sandrine Dewez


Sind künstliche Organe eine Alternative zu Implantationen von Spenderorganen? In einer Zeit, in der Organisches und Anorganisches miteinander verschmelzen, ist die Aufregung spürbar. Aber wie sieht es mit dem Ineinandergreifen von biologischen und elektronischen Prozessen aus? Auf diese und ähnliche Fragen versucht die Forschung mit der Entwicklung einer neuen Generation der bionischen Hand Antworten zu finden.


Damit ein künstliches Organ auch tatsächlich eine Alternative zu einem Spenderorgan werden kann, muss es schon etwas mehr können, als nur die physiologische Funktion des natürlichen Organs ersetzen. Wenn zum Beispiel ein Patient unter Niereninsuffizienz leidet, ersetzt ein Dialyse-Apparat die Niere. Allerdings müssen die meisten Patienten dreimal wöchentlich zu einem Dialysezentrum, wo sie vier Stunden lang an eine Maschine angeschlossen werden. Das künstliche Organ wird dagegen implantiert oder transplantiert. Es muss sich maßstäblich anpassen und mit dem Organismus des Empfängers verschmelzen, biokompatibel werden, Gewebe wiederherstellen, Nano-Bestandteile und intelligente Sensoren nutzen können - kurz: Es muss ein Produkt der absoluten Spitzentechnologie sein. Ein solches vollkommenes Organ gibt es heute noch nicht. Es befindet sich erst im Versuchsstadium.

Wenn man Gliedmaßen ersetzen will, deren physiologische Funktion (gehen, greifen usw.) vom Bewusstsein gesteuert wird, ist die Sache noch um einiges komplizierter. Denn das künstliche Organ muss in diesem Fall so intuitiv wie möglich steuerbar sein. Die Befehle gehen vom Gehirn aus, und obwohl das amputierte Glied nicht mehr vorhanden ist, werden immer noch Signale an die nicht vorhandenen Muskeln gesendet. Diese steuern zumindest in der Vorstellung die Phantomhand. In einer Prothese der jüngsten Generation werden diese Signale von Elektroden, die im Prothesenschaft platziert sind, registriert. Diese Signale, Elektromyogramme (EMG) genannt, werden genutzt, um zum Beispiel die Bewegungen einer künstlichen Hand zu steuern.


Sagten Sie Bionik?

"Was bisher an Handprothesen auf dem Markt ist, ist in Wirklichkeit sehr primitiv", erklärt Fredrik Sebelius, Elektroniker an der Universität Lund (SE), die das SmartHand-Projekt koordiniert. Aus diesem Projekt, das mit 1,8 Mio. EUR über das Sechste Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Union finanziert wurde, wird Ende 2009 der Prototyp der nächsten Generation von Handprothesen hervorgehen. "Die derzeitigen Systeme", so erläutert der Forscher, "haben ganze zwei Elektroden, von denen jede an einem anderen Muskel platziert wird. Dabei funktioniert immer nur ein Signal, das stärkste, und es sind nur zwei Bewegungen möglich: das Öffnen und Schließen der Hand. Doch allein um diese beiden Bewegungen steuern zu können, braucht man manchmal bis zu sechs Monate."

Erstes Ziel des Smarthand-Projekts war daher die Entwicklung einer Prothese, die sich dem Nutzer anpasst. "Das Problem dabei ist die natürliche Instabilität der Muskelsignale", erläutert Fredrik Sebelius. "Sie sind bei jedem Menschen anders und hängen von verschiedenen Faktoren ab, vom Trainingszustand der Muskeln, von der Tagesform und sogar davon, was man gegessen oder getrunken hat." Wichtigste Aufgabe war daher, die EMG-Signale besser umzusetzen und das Bewegungsspektrum der Hand zu erweitern. "Wir haben 16 Elektroden rund um den Unterarm positioniert. Auf dieser Grundlage bringt unsere Methode das System dazu, die verschiedenen Kombinationen der gesendeten EMG-Signale zu erkennen." Eine echte eingebettete Intelligenz also. Die Lösung liegt in einem Algorithmus zur Erkennung von Formen auf der Grundlage von künstlichen Neuronennetzen. Das System lernt, während der Nutzer eine Reihe von Bewegungen ausführt: Beugen der Finger, einer nach dem anderen, dann alle zusammen, Spreizen der Finger, Drehung des Daumens um 90° usw. "Nach dieser Reihe von Übungen wird das System kalibriert. Heute genügen zwei Stunden, damit ein Erstnutzer einige Bewegungen beherrscht."


Eine sensorische Karte der verlorenen Hand

Eine Hand zu haben, die funktionsfähig ist, ist natürlich eine wichtige Voraussetzung. Aber das allein reicht nicht. Eine Hand ist nicht einfach ein perfektioniertes Greifinstrument. Sie ist Teil unserer Identität, unserer Beziehung zur Welt und zu unseren Mitmenschen. Eine Hand ist unersetzbar, und Handtransplantationen sind noch mit zu vielen Risiken und Nachteilen verbunden. Viele Handamputierte äußern einen paradoxen Wunsch, der jedoch ernst zu nehmen ist. "Menschen, die ihre Hand verloren haben, möchten eine künstliche Hand, die sie als Teil ihres Körpers empfinden können", erklärt Göran Lundborg, Handchirurg an der Universitätsklinik in Malmö (SE) und Mitglied des SmartHand-Projekts.

Grundsätzlich ist es möglich, die künstliche Hand mit Gefühl auszustatten, indem ein Sensor auf der Prothese mit einer Elektrode verbunden wird, die direkt in den somatosensorischen Cortex oder in das periphere Nervensystem implantiert wird. Das besondere Verhältnis zwischen der verlorenen Hand und dem Gehirn ermöglicht jedoch eine andere Lösung. "Wenn eine Hand amputiert wird, kommt es zu erheblichen funktionellen Umstrukturierungen des sensorischen Cortex", erklärt Göran Lundborg. "Eine der Folgen dieser Umstrukturierung ist die Entwicklung einer sensorischen Karte der verlorenen Hand auf der Stumpfoberfläche." Wenn ein bestimmter Punkt auf dieser Karte stimuliert wird, dann fühlt der Amputierte dies an derselben Stelle auf der Phantomhand (siehe Kasten). Ist das die Lösung, um dem Amputierten das Gefühl einer künstlichen Hand zu geben, die ihm gehört? Um das mit Bestimmtheit sagen zu können, ist es noch zu früh. Erste Stufe: der Amputierte lernt, die Kraft beim Greifen eines Gegenstands zu spüren.


Falsche Hand, echte Gefühle

"Von dem, was an künstlicher Haut existiert, wurde sehr schnell Abstand genommen", erklärt Fredrik Sebelius, "zu viele Sensoren. Drähte, die herausragen und die diese flexible Struktur beschädigen können." Bis funktionellere Haut zur Verfügung steht, haben die Forscher eine andere Lösung gefunden: Sie messen die Spannung des Kabels, das im Innern jedes Fingers mit einem Motor verbunden ist. Dieses Kabel trainiert mechanisch die Beugung der Fingergelenke. "Sobald ein Finger mit einem Gegenstand in Kontakt kommt, haben wir ein Signal", präzisiert Fredrik Sebelius.

Dieses Signal ist mit dem Nutzer über eine Vorrichtung verbunden, die sich noch im experimentellen Stadium befindet. Diese Vorrichtung steuert fünf Antriebsteile, die mit den "Fingern" auf der sensorischen Karte des Handstumpfs verbunden sind. Der Nutzer spürt einen Druck von 1 bis 10, je nach der gemessenen Spannung, und kann feststellen, von welchem der Finger dieses Gefühl kommt. Diese Vorrichtung befindet sich derzeit in der Phase der klinischen Erprobung. "Wir haben gezeigt, dass die Stimuli die entsprechenden Regionen im Gehirn aktivieren, und das Ergebnis ist, dass man mit der künstlichen Hand fühlen kann", erklärt Göran Lundborg.

Wie teuer diese Vorrichtung sein wird, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt schwer sagen. Auf jeden Fall sehr teuer. Und wer soll das bezahlen? Der Patient, mit Unterstützung seiner privaten oder gesetzlichen Krankenversicherung? "Wenn der Patient mit seiner künstlichen Hand wieder im Alltag ohne fremde Hilfe zurechtkommt und weniger abhängig wird von medizinischer und sozialer Hilfe, kann diese Ausgabe langfristig durchaus für die Gesellschaft rentabel sein", schätzt Freygardur Thorsteinsson, Ingenieur bei Össur in Island, dem Partnerland des Projekts. Eine Logik, die dazu führt, dass nach Patienten Ausschau gehalten wird, die für eine solche Handprothese in Frage kommen. "Mit der sozioökonomischen Analyse des Kosten-Nutzen-Verhältnisses unserer High-Tech-Prothese werden wir eine Universität oder eine unabhängige Forschungseinrichtung beauftragen." Eine Praxis, von der der Ingenieur sagt, dass sie in Europa nicht genügend verbreitet ist. Wovon wird die Zukunft der künstlichen Organe letztlich abhängen? Von der Tatsache, dass es zu wenige Spender für eine Transplantation gibt? Vom medizinischen und wissenschaftlichen Fortschritt? Oder von Rentabilitätskriterien? Das heißt letztlich davon, für welche Art Gesellschaft wir uns entscheiden.


MEHR EINZELHEITEN

Die Kunst, dem Gehirn einen Streich zu spielen

Sie sitzen an einem Tisch. Vor Ihnen auf dem Tisch liegt eine Gummihand, Ihre eigene Hand können Sie nicht sehen. Sie ist hinter einem Bildschirm verborgen. Nun beginnt ein Helfer, die Gummihand mit einem Pinsel zu streicheln. Gleichzeitig und exakt an derselben Stelle streicht er über Ihre eigene Hand. Dann geschieht etwas Seltsames: Sie glauben, dieses Gefühl in der Gummihand zu spüren und haben plötzlich die Illusion, die Kunsthand sei ein Teil Ihres Körpers. Was ist passiert? Das Gehirn löst den Widerspruch auf, den es zwischen den visuellen und taktilen Informationen empfunden hat.

Dieses Experiment mit der Gummihand wurde zum ersten Mal 1998 in der Abteilung für Neurowissenschaften des Karolinska Institutet (SE)(1) durchgeführt. An dem Experiment nahmen 18 freiwillige Versuchspersonen teil, denen eine Hand amputiert worden war.

"Zum ersten Mal hat ein Amputierter das Gefühl, dass die künstliche Hand Teil seines Körpers ist", erklärt Göran Lundborg, Handchirurg am Universitätsklinikum in Malmö (SE). Aber wie ist das möglich - die Hand ist doch gar nicht mehr da? Die Erklärung liegt darin, dass das Gefühl für die Hand noch da ist, auf der Oberfläche des Handstumpfs. Dieses Gefühl in eine Handprothese zu übertragen, ist daher ebenso einfach, wie dem Gehirn einen Streich zu spielen.


Anmerkung

(1) H. Ehrsson, B. Rosén, A. Stockselius, C. Ragnö, P. Köhler & G. Lundborg, Upper limb amputees can be induced to experience a rubber hand as their own. Brain (2008) 131, 3443-3452, brain.oxfordjournals.org/cgi/content/full/131/12/3443


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Versuche mit dem Prototyp der Smarthand-Prothese in der Abteilung für elektrische Messungen an der Universität Lund (SE).


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Quelle:
research*eu - Nr. 62, Februar 2010, Seite 14 - 15
Magazin des Europäischen Forschungsraums
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. August 2010