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RAUCHEN/436: Die Befreiung von Nikotinabhängigkeit ist kein "Lifestyle" (Adhoc)


Initiative Raucherentwöhnung - Mittwoch, 9. Dezember 2009

Die Befreiung von Nikotinabhängigkeit ist kein "Lifestyle"

Rechtsgutachten zur Erstattungsfähigkeit der Raucherentwöhnung mit Nikotinersatztherapie belegt sozialrechtliche Sackgasse.


Berlin - Die unmittelbaren Folgeerkrankungen der Nikotinsucht wie COPD (Chronisch obstruktive Lungenerkrankung) und KHK (Koronare Herzkrankheit) stellen schwerwiegende Erkrankungen dar. Die Behandlung dieser Krankheiten kostet die Solidargemeinschaft der Versicherten jährlich Milliardenbeträge. Die Einstufung medikamentöser Raucherentwöhnungstherapie als Lifestyle-Präparate im Sinne des § 34 Sozialgesetzbuch V ist vor diesem Hintergrund absolut nicht sachgerecht. In der Fachwelt unumstritten sind die Erkenntnisse, dass die medikamentöse Raucherentwöhnung nicht nur medizinisch sinnvoll, sondern auch aus Sicht der gesetzlichen Krankenversicherung besonders kosteneffektiv ist. Trotzdem bestehen weiterhin rechtliche Bedenken, insbesondere im Hinblick auf die sog. Lifestyle-Regelung und den OTC-Erstattungsausschluss dieser Präparate im § 34 SGB V (Sozialgesetzbuch). Die in der aktuellen Diskussion z.T. als Argumente gegen eine Erstattungsfähigkeit der Nikotinersatztherapie (NET) angeführten Begründungen beziehen sich hauptsächlich auf diese sozialrechtliche Regelung. Vor dem Hintergrund dieser Diskussion hat die Initiative Raucherentwöhnung ein Rechtsgutachten bei der Rechtsanwaltskanzlei Dr. Schmidt-Felzmann & Kozianka, Hamburg in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse der sozialrechtlichen Prüfung des Sachverhalts möchten wir Ihnen in der beiliegenden Zusammenfassung zur Kenntnis geben. Das vollständige Gutachten können Sie auf der BAH-Website im Bereich "Presse / Pressemitteilungen" abrufen.

Die Initiative Raucherentwöhnung, eine Arbeitsgemeinschaft im Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) verfolgt das Ziel, den Stellenwert des Nichtrauchens und die Akzeptanz der medikamentösen Raucherentwöhnungstherapie in Deutschland zu fördern.


Für die Initiative Raucherentwöhnung im Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller e.V. (BAH)
Stephan David Küpper, Stellvertretender Pressesprecher
Ubierstraße 71-73, 53173 Bonn
http://www.bah-bonn.de


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Erstattungsfähigkeit der Nikotinersatztherapie
Rechtsgutachten erstellt im Auftrag der Initiative Raucherentwöhnung im BAH

ZUSAMMENFASSUNG

I. Bestandsaufnahme

Tabakrauchen und Nikotinabhängigkeit sind untrennbar miteinander verbunden.

Das Tabakrauchen gilt als die wichtigste vermeidbare Ursache schwerer Erkrankungen und Todesfälle und ist in Deutschland verantwortlich für einen immensen volkswirtschaftlichen Schaden von über 18 Milliarden Euro pro Jahr.

Zur Bekämpfung der Nikotinabhängigkeit und damit zur Befreiung vom Tabakkonsum haben sich Nikotinersatzpräparate als wirksam erwiesen, die in unterschiedlichen Darreichungsformen als nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel verfügbar sind.

Trotz des drohenden volkswirtschaftlichen Schadens werden die Präparate zur Nikotinersatztherapie (NET) von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aufgrund gesetzlicher Ausschlusstatbestände nicht erstattet. Die maßgeblichen Ausschlusstatbestände sind der Ausschluss nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel nach § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB V und der Ausschluss sog. Lifestyle-Arzneimittel nach § 34 Abs. 1 Sätze 7-9 SGB V.


II. Kernaussagen des Gutachtens

Das Gutachten unterzieht die genannten Ausschlusstatbestände einer eingehenden Prüfung und gelangt zu dem Ergebnis, dass ein darauf gestützter Ausschluss aus der Erstattungsfähigkeit nicht gerechtfertigt ist. Nikotinersatzpräparate sind insbesondere keine Lifestyle-Arzneimittel. Zudem erfüllen sie aufgrund der tabakassoziierten schwerwiegenden Folgeerkrankungen die Voraussetzungen für die Aufnahme auf die sog. OTC-Ausnahmeliste und müssen insofern erstattungsfähig sein. Ausgehend vom Anspruch des Versicherten auf Krankenbehandlung (§ 27 Abs. 1 SGB V) richtet sich das Hauptaugenmerk zunächst auf den Ausschluss der Präparate zur NET als Lifestyle-Arzneimittel, der nach Auffassung des Gutachtens eine gewisse Sperrwirkung für eine Aufnahme der nicht verschreibungspflichtigen NET-Arzneimittel in die sog. OTC-Ausnahmeliste nach § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V entfaltet. Untersucht wird in diesem Zusammenhang insbesondere die Frage, ob die Einordnung der Nikotinsucht in die Gruppe der Lifestyle-Erkrankungen in Ansehung der durch sie verursachten Gesundheitsschäden sachgerecht ist.


1. Befreiung von Nikotinabhängigkeit kein Lifestyle

Der Ausschluss der Präparate zur NET als Lifestyle-Arzneimittel ist nicht gerechtfertigt, da eine Einordnung der durch Tabakkonsum entstandenen Nikotinabhängigkeit in die Gruppe der Lifestyle-Erkrankungen unter Betrachtung der tabakassoziierten Gesundheitsschäden nicht sachgerecht ist.

Die Nikotin- bzw. Tabakabhängigkeit ist keinesfalls eine durch die persönliche Lebensführung verursachte Gesundheitsstörung, sondern stellt ebenso wie die Alkohol- oder Opiatabhängigkeit eine ernstzunehmende (Sucht-)Erkrankung dar, deren Behandlung in gleichem Maße, wie dies für die letztgenannten Erkrankungen gilt, zu Lasten der GKV behandelt werden muss.

Insbesondere kann die Behandlung der Nikotinabhängigkeit nicht mit den in 34 § Abs. 1 Satz 8 SGB V als sog. Lifestyle-Erkrankungen aufgenommenen Regelbeispielen (etwa Behandlung des Haarausfalls oder der erektilen Dysfunktion) gleichgesetzt werden. Weder geht es bei der Behandlung der Nikotinabhängigkeit um das Verlangsamen oder Anhalten eines natürlichen Alterungsprozesses noch um die medikamentös unterstützte Aufrechterhaltung eines persönlichen Lebensstils, sondern ausschließlich um die Behandlung einer anerkannten Suchterkrankung.

Zu einem anderen Ergebnis in Bezug auf die Erstattungsfähigkeit führt auch nicht das Argument der Selbstverschuldung bzw. der bewussten Selbstschädigung. Dieses Argument ließe sich gleichermaßen für alle o.g. Suchterkrankungen anführen und kann daher nicht einschränkend nur in Bezug auf die Nikotinsucht geltend gemacht werden. Jedenfalls bei der Alkoholabhängigkeit liegt in gleichem Maße wie bei der Nikotinsucht die Verursachung der Gesundheitsschäden durch den Konsum eines "legalen" Produkts vor, dessen Suchtpotential und mögliche schädigende Wirklungen ebenso allgemein bekannt sind, wie dies beim Tabakkonsum der Fall ist.

Auch außerhalb der "reinen" Suchterkrankungen lassen sich viele Krankheitsbilder auf eine gewisse Selbstverschuldung zurückführen. Zu nennen sind hier insbesondere die schwerpunktmäßig aufgrund ungesunder, insbesondere zu fettreicher Ernährung auftretenden Herzkreislauferkrankungen sowie auch der Diabetes mellitus Typ II. Ebenso hierher gehören Nierenerkrankungen, die nach allgemeinem Wissen auch durch eine zu geringe Flüssigkeitszufuhr hervorgerufen werden. Niemand würde ernsthaft die Behandlung dieser Krankheiten zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung unter Hinweis auf die in der Person des Versicherten liegende Verursachung in Frage stellen.


2. Voraussetzungen für die Aufnahme in die OTC-Ausnahmeliste erfüllt

Die Arzneimittel zur NET sind in die OTC-Ausnahmeliste aufzunehmen, da die durch den mit der Nikotinabhängigkeit einhergehenden Tabakkonsum verursachten Gesundheitsschäden als "schwerwiegende Erkrankungen" einzustufen sind und die Präparate zur NET den "Therapiestandard" zur Behandlung der Nikotinabhängigkeit darstellen. Die Voraussetzungen für die Aufnahme der Arzneimittel in die OTC-Ausnahmeliste sind damit erfüllt.

a) Tabak assoziierte Folgeerkrankungen sind schwerwiegend

Die Nikotinabhängigkeit ist ebenso wie die Alkohol- oder Opiatabhängigkeit eine Suchterkrankung, deren Behandlung in gleichem Maße, wie dies für die letztgenannten Erkrankungen gilt, zu Lasten der GKV behandelt werden muss. Dies zeigt insbesondere ein direkter Vergleich der genannten Suchterkrankungen unter Einbeziehung der durch sie verursachten Gesundheitsschäden.

Die als untrennbare Folge der Abhängigkeit mit in die Bewertung einzubeziehenden Folgeerkrankungen erreichen sämtlich den Grad einer schwerwiegenden Erkrankung im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Off-label-use (Urteil vom 19.03.2002 - B 1 KR 37/00 R). In dieser Entscheidung hat das Bundessozialgericht erstmals einheitliche Kriterien für die Erstattungsfähigkeit des zulassungsüberschreitenden Einsatz von Arzneimitteln (sog. Off-label-use) aufgestellt. Zu diesen Kriterien zählt auch das Merkmal "schwerwiegende Erkrankung", das das Bundessozialgericht als erfüllt ansieht, wenn eine Erkrankung "lebensbedrohlich ist oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt".

Die Erfüllung dieses auch für die Aufnahme eines Arzneimittel in die sog. OTC-Ausnahmeliste maßgeblichen Kriteriums kann unter Betrachtung der bei langjährigem Tabakkonsum drohenden Folgeerkrankungen (COPD, KHK, Karzinome) nicht angezweifelt werden.

Allerdings ist insoweit eine Korrektur des Begriffs "schwerwiegende Erkrankung" geboten, der nach derzeitigem Verständnis lediglich die Nikotinabhängigkeit als Erkrankung erfassen würde. Die Nikotinabhängigkeit an sich ist aber weder lebensbedrohlich noch beeinträchtigt sie die Lebensqualität auf Dauer in besonderem Maße. Die Nikotinabhängigkeit ist aber untrennbar mit dem Tabakkonsum verbunden, aus dem bekanntermaßen die schwerwiegenden Erkrankungsfolgen resultieren. Aufgrund des untrennbaren Zusammenhangs zwischen der Nikotinabhängigkeit und dem Tabakkonsums können die durch letzteren verursachten Folgeerkrankungen nicht außerhalb der Betrachtung bleiben.

Mit der Einordnung der mit der Nikotinabhängigkeit verbundenen Folgeerkrankungen als schwerwiegende Erkrankungen liegt die wesentliche Voraussetzung für die Aufnahme der Arzneimittel in die sog. OTC-Ausnahmeliste vor.

b) NET ist Therapiestandard

Die Präparate zur NET stellen auch den unbestrittenen Therapiestandard gemäß den einschlägigen Studien und Empfehlungen, z.B. des Institutes für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) sowie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Behandlung der Nikotinabhängigkeit dar.

c) Wirtschaftlichkeit der NET i. S. des Sozialrechts ist erwiesen

Das sozialrechtliche Wirtschaftlichkeitsgebot des SGB V konkretisiert sich im vorliegenden Zusammenhang darin, dass bei einem nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin nachgewiesenen Nutzen eines Arzneimittels im zweiten Schritt die Kosteneffektivität und zusätzlich die Angemessenheit der durch die Erstattung verursachten Kostenbelastung für die GKV zu beurteilen ist.

Die Wirksamkeit und der therapeutische Nutzen der NET sind in zahlreichen Studien belegt und in der Wissenschaft unstreitig. Die Kosteneffektivität einer Behandlung entwöhnungswilliger Raucher mit Nikotinersatztherapeutika im Verhältnis zu einem Rauchstoppversuch ohne medikamentöse Unterstützung wurde mehrfach in gesundheitsökonomischen Studie belegt. Nach diesen Studien stellt die NET eine dominante Strategie dar, was bedeutet, dass der Nutzen im Sinne von gewonnenen Lebensjahren und Lebensqualität erhöht werden kann und gleichzeitig die Kosten für das Gesundheitswesen durch den Einsatz der NET gesenkt werden. Diese Konstellation stellt aus gesundheitsökonomischer Sicht einen äußerst selten erreichten Grad an Kosteneffektivität dar.

Die Beurteilung im Hinblick auf das drittens zu beachtende Kriterium der Angemessenheit (budget impact) liegt in Anbetracht der beschriebenen Kosteneffektivität in diesem Fall auf der Hand. Wenn durch den Einsatz der NET insgesamt Mittel in der Gesundheitsversorgung eingespart werden, ist nicht nur von einer Angemessenheit der entsprechenden Investitionen in der Arzneitherapie, sondern vielmehr von einer Unwirtschaftlichkeit bei Verzicht auf diese Ausgaben zu sprechen.


III. Rechtspolitische Bewertung

Die im vorliegenden Gutachten zusammengetragenen Argumente zugunsten 0der Erstattungsfähigkeit der NET spiegeln sich auch in der Beschlussfassung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) vom 15.10.2009 wider. Nicht zuletzt aufgrund deutlich positiver Bewertungen des IQWiG soll die Durchführung medikamentöser Raucherentwöhnungsmaßnahmen im Rahmen strukturierter Behandlungsprogramme (DMP) chronisch obstruktiver Atemwegserkrankungen erstattet werden.

Der G-BA vertritt ausdrücklich die Rechtsauffassung, dass der von ihm vorgeschlagene Inhalt und Umfang einer Erstattung von NET nicht mit den bestehenden Regelungen in § 34 SGB V - insbesondere der Lifestyle-Bestimmung - kollidiert. Das vorliegende Gutachten schließt sich dieser Auffassung an und unterstützt insofern die Argumentation des G-BA, dass es in Bezug auf dessen zitierten Beschluss keinen Anlass für eine Beanstandung durch das Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) gibt.

Gleichwohl kann nicht bestritten werden, dass eine Ausweitung der Erstattungsmöglichkeiten für NET über den vom G-BA vorgesehenen DMP-Rahmen hinaus mit den Bestimmungen des § 34 SGB V - insbesondere dem Ausschluss der sog. Lifestyle-Arzneimittel - kollidiert. Da die hier angeführten rechtlichen wie auch ökonomischen Argumente ohne Einschränkung auch für einen Erstattungsumfang über den derzeit vorgesehenen G-BA-Beschluss hinaus gelten, ist insofern ein politisches Handeln zu fordern.

Nur, wenn der Gesetzgeber die Bestimmungen in § 34 SGB V, insbesondere den Ausschluss der sog. Lifestyle-Arzneimittel und die Regelungen zur OTC-Ausnahmeliste, in entsprechender Weise anpasst, kann die medikamentöse Raucherentwöhnungstherapie in adäquater Weise und im Einklang mit den gesetzlichen Bestimmungen in Deutschland gefördert werden. Konkret ist daher zu fordern, dass die Raucherentwöhnung nicht länger als Indikation im Rahmen der Lifestyle-Bestimmungen aufgeführt wird oder dass eine entsprechende Einschränkung vorgenommen wird. Parallel dazu sollten nicht verschreibungspflichtige Nikotinersatzpräparate durch Aufnahme auf die OTC-Ausnahmeliste die Erstattungsfähigkeit erlangen. Hierzu ist wiederum ein entsprechender Beschluss des G-BA notwendig.

Hamburg, den 9. Dezember 2009 jt/hu/sw

http://gesundheit-adhoc.de/files/Nachricht7580_1fcaa2.pdf


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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Dezember 2009