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KATASTROPHEN/099: Ebola als Reformschub für die globale Gesundheitsarchitektur? (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 146/Dezember 2014
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Institutioneller Wandel durch Krisen

Ebola als Reformschub für die globale Gesundheitsarchitektur?

von Tine Hanrieder und Christian Kreuder-Sonnen


Kurz gefasst: Im Zuge internationaler Gesundheitskrisen hat eine deutliche Autoritätsverschiebung von der staatlichen auf die internationale Ebene (insbesondere zur WHO) stattgefunden. Auch die öffentliche Zuschreibung von Verantwortlichkeit im Krisenmanagement hat sich entsprechend verlagert. Vor dem Hintergrund der ernüchternden Bilanz in der Ebola-Krise wird nun eine noch stärkere internationale Institution gefordert. Wie der Umgang der WHO mit der Schweinegrippe gezeigt hat, bedürfen aus Krisen erwachsene Kompetenzen internationaler Organisationen aber auch der Einhegung, um vor Missbrauch gefeit zu sein.


Mit bereits mehr als 5.000 Todesfällen, einer unbekannten Dunkelziffer und einer nahezu ungehinderten Weiterverbreitung in Westafrika übertrifft die derzeitige Ebola-Epidemie alle bisherigen Ausbrüche des seit 1976 bekannten Virus. Schlimmsten Schätzungen zufolge wird die Opferzahl die Millionenmarke weit überschreiten. Hierbei sind die zahlreichen "Sekundärtoten", die angesichts der zusammenbrechenden Gesundheitssysteme an Krankheiten wie Malaria oder Durchfallinfektionen sterben, noch gar nicht mitgezählt. Die Epidemie erschüttert Gemeinschaften und Gesundheitssysteme in den betroffenen Staaten. Sie stellt aber auch eine Krise für die globalen Gesundheitsinstitutionen dar. Die verspätete Reaktion der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und betroffener Staaten selbst, die mangelnde Hilfe durch westliche Staaten und fehlende Kapazitäten zur Seucheneindämmung werden nun allseits moniert. Zeitgleich mit der schleppenden Krisenbekämpfung beginnt also die Fehlerzuschreibung und damit die Debatte um mögliche Reformen.

Am Umgang mit Ebola wird offenbar, dass die Zuständigkeit für globale Gesundheitssicherheit vermehrt bei internationalen Organisationen gesehen wird. Seit den 2000er Jahren hat in diesem Politikbereich, beschleunigt durch eine Reihe von Krisen, eine deutliche Autoritätsverschiebung von der staatlichen auf die internationale Ebene stattgefunden. Die institutionelle Entwicklung der WHO zeigt aber, dass aus Krisen erwachsene Kompetenzen internationaler Organisationen der konstitutionellen Einhegung bedürfen, um vor Missbrauch gefeit zu sein.


Supranationale Entscheidungen: die Lehre aus SARS

Bis in die 2000er Jahre hinein waren die Kompetenzen der WHO relativ begrenzt, wenn es um die Reaktion auf Gesundheitskrisen ging. Ihr zentrales Rechtsinstrument, die Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV), legten nur für wenige Krankheiten wie Cholera und Gelbfieber Maßnahmen fest, die die WHO aktivieren konnte. Und dies auch nur, wenn Staaten Ausbrüche offiziell nach Genf meldeten - was jene meist aus Sorge um ihre Handelsflüsse und ihr Ansehen unterließen. Die Krisenreaktion der WHO unterlag somit dem souveränen Veto der betroffenen Staaten.

Dies änderte sich in den 1990er Jahren mit der steigenden Angst vor Bioterrorismus und der Entstehung oder Wiederkehr hochgefährlicher Krankheitserreger, die sich in einer globalisierten Welt rapide verbreiten können. Gestützt auf neue Informations- und Kommunikationstechnologien baute die WHO eine Überwachungs- und Koordinationszentrale in Genf auf, das sogenannte Global Outbreak Alert and Response Network (GOARN). Doch parallele Verhandlungen über eine Ausweitung der IGV verliefen über Jahre hinweg schleppend. Den Reformern gelang es weder, sich auf eine ex ante-Regelung zu einigen, die angibt, woran die nächste Gesundheitskrise zu erkennen ist, noch Maßnahmen festzuschreiben, die sowohl wirksam als auch verhältnismäßig sind.

Der SARS-Ausbruch von 2002/3 durchbrach diese Stagnation relativ zügig und führte zu einer deutlichen Autoritätsverschiebung zugunsten des WHO-Sekretariats. Die bis dahin unbekannte Lungenkrankheit SARS, die sich zwischen westlichen Zentren wie Hongkong und Kanada rapide über den globalen Flugverkehr verbreitete, wurde zwar nicht von allen betroffenen Staaten frühzeitig gemeldet. Doch anders als bei früheren Ausbrüchen prangerte die WHO-Zentrale die Informationspolitik von Ländern wie China nun offen an. WHO-Generaldirektorin Gro Harlem Brundtland stützte sich unter anderem auf Internetquellen und sprach eigenmächtig Reisewarnungen für Länder wie China und Kanada aus. Damit verschob sich die Initiative für die Krisenreaktion de facto auf die supranationale Ebene.

Die Bekämpfung von SARS gilt als eine Erfolgsgeschichte bei der Krankheitseindämmung, in der das Fehlverhalten von Staaten durch die Intervention der WHO kompensiert wurde. Sie diente daher als Modell für die seit 2007 geltenden "neuen" IGV. In der neuen Fassung wird statt auf eine ex ante-Spezifikation von möglichen Krisenquellen und passenden Maßnahmen auf die exekutive Entscheidungsfreiheit der supranationalen Behörde gesetzt. Die WHO-Generaldirektorin ist nunmehr befugt, jegliche Gesundheitsgefahr, ob Krankheit oder Chemieunfall, zu einem Gesundheitsnotfall internationalen Ausmaßes zu erklären. Mithilfe eines Notstandskomitees entscheidet sie letztlich auf eigene Verantwortung, welche Maßnahmen die WHO empfiehlt. Zugleich wird in den neuen IGV erstmals die Wahrung von Menschenrechtsstandards festgeschrieben, etwa um unverhältnismäßige Reisebeschränkungen oder Zwangsimpfungen zu unterbinden. Abgesehen von dieser menschenrechtlichen Komponente entpuppte sich der Zuwachs an supranationaler Autorität jedoch als durchaus missbrauchsanfällig.


H1N1: Kompetenzüberschreitung und Intransparenz

Als sich im Laufe des Jahres 2009 die sogenannte Schweinegrippe (H1N1) von Mexiko aus verbreitete und so die nächste international wahrgenommene Gesundheitskrise auslöste, richtete sich der Blick primär nach Genf, wo die WHO-Direktorin erstmals den globalen Gesundheitsnotstand ausrief und ihr neu geschaffenes Notstandskomitee einsetzte. Gespannt wurden beispielsweise Veränderungen auf der Skala des WHO-Pandemiewarnsystems verfolgt. Viele Staaten richteten ihre Bemühungen zur Kontrolle der Schweinegrippe nach den Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation - in diesem Fall vor allem durch den Ankauf von Impfstoffen und antiviralen Medikamenten.

Dieser Anstieg politischer Autorität auf der Ebene der WHO hatte allerdings auch zur Folge, dass Kritik und Fehlersuche sich ebenfalls auf die internationale Organisation bezogen. Im Vordergrund standen dabei insbesondere Aspekte der Verfahrenslegitimität, die im Krisenmodus der WHO in den Hintergrund getreten waren. So wurde einerseits bemängelt, dass die Organisation die Kriterien zur Einstufung einer Krankheit als Pandemie kurzerhand um den Aspekt der Sterblichkeitsrate erleichtert hatte, wonach die Schweinegrippe auf die Definition passte. Andererseits kritisierte nicht zuletzt die Parlamentarische Versammlung des Europarats die intransparente Besetzung und Entscheidungsfindung des Notstandskomitees. Die WHO hatte die Namen der Ausschussmitglieder bis zur Aufhebung des Gesundheitsnotstands geheim gehalten und das Komitee auch nicht öffentlich tagen lassen. Erst später wurden bei einigen Ausschussmitgliedern enge Verbindungen zur Pharmaindustrie bekannt.

Die vehemente Kritik verband sich bezeichnenderweise nicht mit Forderungen nach einer Rücknahme der Kompetenzübertragung auf die WHO. Diese schien zu keinem Zeitpunkt zur Disposition zu stehen. Vielmehr führte die Beanstandung des Vorgehens der WHO zum Ruf nach prozeduralen Reformen. Das interne Untersuchungsgremium, das die Kriseninterventionen der WHO unter den IGV begutachtete, empfahl zum Beispiel bessere Vorkehrungen gegen Interessenkonflikte. Die Empfehlungen zeigen auch bereits Wirkung: Die Verfahren der WHO im Umgang mit Kinderlähmung (Polio) und Ebola sind weitaus transparenter und verantwortlicher geworden. Die Namen der Mitglieder im Notstandskomitee werden von vornherein veröffentlicht und mögliche Interessenkonflikte offengelegt.

Die durch den Krieg in Syrien begünstigte neuerliche Verbreitung von Polio, welche die WHO dazu veranlasste, im Mai 2014 den zweiten internationalen Gesundheitsnotstand auszurufen, wurde von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Bei der Eskalation des Ebola-Ausbruchs in Westafrika ist das anders. Seitdem die Organisation Ebola im August zum Gesundheitsnotfall erklärt und zudem der Krankheitsverlauf katastrophale Ausmaße angenommen hat, wird die Seuche immer weniger als bloße Gesundheits-, sondern auch als Sicherheitsbedrohung wahrgenommen. In der Tat ist nicht abzusehen, welche Dimensionen die Epidemie noch erreichen und welche "Kosten" - menschliche wie wirtschaftliche - sie letztlich verursachen wird.

Feststeht, dass Ebola außer Kontrolle geraten ist. Weniger klar ist, wer oder was dafür verantwortlich ist. Über die Fehlerquellen ist mittlerweile ein Deutungskampf entbrannt, bei dem sich die einzelnen Akteure teils auch gegenseitig die Schuld zuweisen. Auffällig ist, dass im Vergleich zur SARS-Krise die Zuschreibung von Verantwortlichkeit nun sehr viel weniger die Staaten betrifft, in denen die Krankheit ausgebrochen ist (Sierra Leone zum Beispiel scheint Infektionen im eigenen Land lange unter Verschluss gehalten und damit die Ausbreitung noch befeuert zu haben). Da die WHO zur zentralen Autorität in der Seuchenbekämpfung geworden ist, richten sich die Erwartungen jetzt auch an sie. Kritiker von Ärzte ohne Grenzen bis hin zu nationalen Politikern werfen der WHO Versagen vor. Die WHO räumt ihrerseits ein, Ebola lange unterschätzt zu haben, sieht aber auch die Mitgliedstaaten und Geber in der Verantwortung. Zum einen fehle es der Organisation an finanziellen Möglichkeiten, zum anderen müssten die Staaten schneller und entschiedener auf ihre Aufrufe reagieren.

Nur eines ist vielen Debattenbeiträgen gemein: der Ruf nach einer schlagkräftigeren internationalen Institution, die globalen Gesundheitsrisiken effektiv entgegenwirken kann. Mehr internationale Autorität in der Gesundheitspolitik kann freilich auf verschiedenen Wegen erreicht werden, mit oder ohne WHO. Viele Stimmen sehen die Lösung in einer weiteren und grundlegenden Stärkung der Weltgesundheitsorganisation. Nicht nur müssten die fatalen Ressourcenkürzungen der letzten Jahre im Bereich der Notfallabteilung zurückgenommen werden, auch solle die Finanzierungsstruktur der WHO so reformiert werden, dass die Organisation ihren Kernaufgaben deutlich autonomer nachkommen kann. Zudem rufen nicht nur Vertreter der Ärzte ohne Grenzen nach zusätzlichen zentralisierten Entscheidungskompetenzen bei der WHO, die in zukünftigen Krisen mehr Handlungsfähigkeit gewährleisten sollen.

Gleichzeitig bieten die aktuellen Schwächen der WHO auch einen Anlass, nach anderen institutionellen Lösungen zu suchen. So brachte Weltbankpräsident Jim Yong Kim kürzlich einen autonomen internationalen Gesundheitsnotstandsfonds ins Spiel, der - ausgestattet mit bis zu 20 Milliarden Euro - in Gesundheitskrisen aktiviert werden könnte. Weitere Parallelgebilde entstehen momentan bereits in der Praxis. Die ungebremste Ausbreitung des Ebola-Virus führte etwa dazu, dass sich erstmals seit AIDS der UN-Sicherheitsrat wieder mit einer Krankheit befasste und diese als internationale Sicherheitsbedrohung einstufte. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon setzte außerdem die UN Mission for Ebola Emergency Response (UNMEER) ein, die erste gesundheitspolitische Krisenintervention der UN dieser Art.

So nachvollziehbar der Ruf nach stärkeren internationalen Institutionen zur Krisenbewältigung auch ist: Es darf nicht vergessen werden, dass die Übertragung von Entscheidungskompetenz auf internationale Organisationen Risiken birgt, die es möglichst frühzeitig zu erkennen gilt. Denn wie in den zurückliegenden Krisen - und nun in besonderem Ausmaß - wird heute die Ebola-Epidemie und werden auch zukünftige Gesundheitskrisen im Paradigma der internationalen Sicherheit verhandelt, das vor allem politische Notwendigkeiten und Dringlichkeit kennt, weniger aber Rechtsstaatlichkeit und Verfahrenstreue. Diese Handlungslogik macht auch vor internationalen Organisationen nicht halt. Im Kleinen hat sich dies bereits beim Umgang der WHO mit H1N1 gezeigt. Je mehr Autorität auf die internationale Ebene verlagert wird, desto tiefer werden von dort die Eingriffe in die Belange von Staaten und Individuen und umso wichtiger wird deshalb deren konstitutionelle Einhegung.


Tine Hanrieder ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Global Governance und forscht über Reformprozesse in internationalen Organisationen und normativen Wandel in der Weltgesundheitspolitik.
tine.hanrieder@wzb.eu

Christian Kreuder-Sonnen ist Stipendiat der Abteilung Global Governance und Doktorand an der Berlin Graduate School for Transnational Studies (BTS). Sein Promotionsprojekt befasst sich mit der Notstandspolitik internationaler Organisationen und ihrer Einhegung. Zudem forscht er unter anderem zu autoritären Strukturen in internationalen Organisationen und zu institutionellem Wandel.
christian.kreuder-sonnen@wzb.eu


Literatur

Fidler, David P.: "Constitutional Outlines of Public Health's 'New World Order'". In Temple Law Review, 2004, Vol. 77, No. 2, pp. 247-290.

Hanrieder, Tine / Kreuder-Sonnen, Christian: "Souverän durch die Krise. Überforderte Staaten und die (Selbst-)Ermächtigung der WHO". In: Christopher Daase / Stefan Engert / Julian Junk (Hg.): Verunsicherte Gesellschaft - überforderter Staat. Zum Wandel der Sicherheitskultur. Frankfurt a.M.: Campus 2013, S. 169-186.

Hanrieder, Tine / Kreuder-Sonnen, Christian: "WHO Decides on the Exception? Securitization and Emergency Governance in Global Health". In: Security Dialogue, 2014, Vol. 45, No. 4, pp. 331-348.

Zacher, Mark W. / Keefe, Tania J.: The Politics of Global Health Governance. United by Contagion. New York/Basingstoke: Palgrave Macmillan 2008.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 146, Dezember 2014, Seite 36-39
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. März 2015

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