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GESCHICHTE/522: Der Weg von Ärztekammer und KV in Schleswig-Holstein in den Jahren 1934 bis 1936 (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 11/2010

Rückblick
"Es muß Schluß gemacht werden mit den Meckerern"

Von Dr. Karl-Werner Ratschko


Der Weg von Ärztekammer und KV in Schleswig-Holstein in den Jahren 1934 bis 1936.


Das Geschehen um die kassenärztlichen Abrechnungsstellen war in den Jahren kurz vor und nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten sehr unübersichtlich. Die Abrechnung erfolgte bis zum Inkrafttreten der Notverordnung des Reichspräsidenten Hindenburg vom 8. Dezember 1931 über Gliederungen des Hartmannbundes als eingetragenem Verein. Ab 1. Januar 1932 wurden aus ihnen oft nur durch Änderung des Namens bei sonst gleichbleibenden Strukturen kassenärztliche Vereinigungen.(1) Die Abrechnung mit den regionalen gesetzlichen Krankenkassen erfolgte in Schleswig-Holstein weiterhin durch die auf Kreisebene bestehenden 21 kassenärztlichen Vereinigungen.(2) Unter dem Nationalsozialismus kam es zu durchgreifenden organisatorischen Änderungen. Durch eine Verordnung vom 2. August 1933 entstand die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands (KVD) mit Sitz in Berlin. Die Aufgaben und Rechte der bis dahin bestehenden kassenärztlichen Vereinigungen wurden jetzt von ihr wahrgenommen. Dafür wurden nachgeordnete Landesstellen und Bezirksstellen als Verwaltungsstellen eingerichtet.(3) Aus dem Ärztlichen Provinzialverband von Schleswig-Holstein des Hartmannbundes entstand im August 1933 eine Provinzstelle Schleswig-Holstein der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands (KVD). Amtsleiter wurde der Gauobmann des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes (NSDÄB) Hans Köhler, Frauenarzt aus Neumünster. Für die einzelnen Praxen änderte sich durch diese organisatorischen Veränderungen wenig, da vorerst die Abrechnungsstellen beibehalten wurden und auch die Umstellung auf die Bezirksstellen 1934 nicht zu nennenswerten zusätzlichen Belastungen führte. Das Büro des bisherigen Provinzialverbandes wurde am 28. August 1933 von Kiel nach Neumünster (Kuhberg 9/III) verlegt. In Kiel blieben in der Caprivistraße 24 noch die Ärztekammer sowie die Pensionskasse der Ärztekammer und die Kassenärztliche Vereinigung Kiel der KVD.(4)

Anstelle der bisherigen kassenärztlichen Vereinigungen waren Bezirksstellen vorgesehen, deren Leitung durch vom Reichsärzteführer ernannte Amtsleiter erfolgte. Das mitunter nicht unerhebliche Vermögen der kassenärztlichen Strukturen des Hartmannbundes ging an die KVD über.(5) Der Vollzug in Schleswig-Holstein erfolgte alsbald. Anfang 1934 verkündete der KVD-Provinzstellen-Amtsleiter Köhler mit Wirkung zum 1. März 1934 die Zusammenlegung der einzelnen kassenärztlichen Vereinigungen zu den Bezirksstellen:

Nord (Sitz: Flensburg, Rathausstr. 15, Amtsleiter Pg. Jensen, Geschäftsführer Pg. Niendorf) mit den alten kassenärztlichen Vereinigungen Flensburg-Stadt, Flensburg-Land, Südtondern, Schleswig, Husum;
Mitte (Rendsburg, Moltkestr. 6, Pg. Brinkhaus, Pg. Nordmann) mit Kiel;
Kiel (Kiel, Caprivistr. 24, Pg. Hadenfeldt, Pg. Jentzen) mit Neumünster, Segeberg, Plön, Oldenburg, Landesteil Lübeck;
Ost (Bad Segeberg, Kurhausstr. 19, Pg. Bruhn, Pg. Rinne) mit Pinneberg, Lauenburg, Stormarn;
Süd (Lauenburg a. Elbe, Grünstr. 13, Pg. Maison, Pg. Rickmers).(6)

Zweierlei fällt auf: Nicht ganz ungeschickt, hatte Köhler die für die Abrechnung zuständigen Bezirksstellen von den Kreisen, für die sie zuständig waren (mit Ausnahme von Flensburg) räumlich getrennt. Und: Es war ihm gelungen, alle Posten, auch die der hier nicht genannten Stellvertreter der Amtsleiter mit Parteigenossen zu besetzen. Die Geschäftsführer der neuen Bezirksstellen mussten ihre Praxen aufgeben (lediglich bei Rinne wurde eine Ausnahme gemacht) und erhielten ein monatliches Gehalt von 600 RM, dazu eine Verheiratetenzulage von 200 RM sowie Kindergeld.(7) Die von Köhler geschaffene Struktur der KVD-Bezirksstellen hatte nur für 1 ½ Jahre Bestand. Nach einer Sitzung schon ohne Köhler, aber noch mit seinem Adlatus Fritz Hinrichsen und vermutlich allen Amtsleitern und Geschäftsführern der Bezirksstellen, ordnete der aus Berlin nach Hamburg herbeigeeilte für die KVD zuständige Stellvertreter des Reichsärzteführers, Dr. Grote, am 24. April 1935 an, dass zum 1. Juli anstelle der dezentralen Abrechnung in den Bezirksstellen wie in anderen KVD-Landes- und Provinzstellen eine zentrale Abrechnungsstelle eingerichtet wird. In den Bezirksstellen wurden die ehrenamtlichen Amtsleiter mit Dank entlassen, die Geschäftsführer zu hauptamtlichen Amtsleitern ernannt. Die Bezirksstellen Ost und Süd wurden zum 1. Juli 1935 zu einer Bezirksstelle vereinigt.(8)


Verbot der Zusammenarbeit zwischen "deutschstämmigen" und "fremdrassigen" Ärzten

Eine Anordnung des Reichskommissars Gerhard Wagner, soweit sie beachtet wurde, hatte größere Auswirkungen auf die ärztliche Tätigkeit. Mit einer im Deutschen Ärzteblatt vom 29. Juli 1933 veröffentlichten "Anordnung" wurde das Verhältnis zwischen "deutschstämmigen" und "fremdrassigen" Ärzten geregelt. Sie durften sich nicht mehr gegenseitig vertreten, Patienten überweisen oder Überweisungen annehmen oder sich zu Konsilien hinzuziehen lassen.(9) Die Anordnung Wagners allerdings bedurfte weiterer Definitionen und Erläuterungen.(10) Die Begriffe "deutschstämmig" und "fremdrassig" waren selbst für die damaligen Zeiten zu unklar und bedurften näherer Erklärung. "Deutschstämmig" sollte dem Begriff "arisch" und "fremdrassig" dem Begriff "nichtarisch" entsprechen. Klarheit ergab sich durch diese Erklärung allerdings auch nicht. Deswegen erfolgte im weiteren Verlauf eine Erläuterung des Begriffes "nichtarisch". Als solcher galt, wer nach den Grundsätzen des "Berufsbeamtengesetzes"(11) von nichtarischen, insbesondere jüdischen Eltern oder Großeltern abstammte. Es genügte, wenn ein Eltern- oder Großelternteil nichtarisch war. Zu dieser rassistischen kam noch eine politische Diskriminierung: Nichtarischen Ärzten standen solche gleich, die sich im kommunistischen Sinne betätigt hatten. Unter den Kassenärzten des damaligen Schleswig-Holstein (ohne Lübeck, noch mit Altona)(12) gab es Ende 1934 mit 8 von 626 Kassenärzten (entsprechend 1,3 Prozent) recht wenige "nichtarische" Ärzte. Es handelte sich um den niedrigsten Prozentsatz unter allen Arztregisterbezirken Deutschlands.(13) Zahlen über die im Krankenhaus arbeitenden, zum Teil über unentbehrliche Spezialkenntnisse verfügenden Chef- und Oberärzte mit "nichtarischer" Abstammung liegen nicht vor. Dort dürfte es wohl zu Problemen gekommen sein. Anders ist die Relativierung Wagners in einer neuen Anordnung vom 19. August 1933 nicht zu verstehen, mit der Ausnahmen zugelassen wurden.(14)

Dass unklare "Anordnungen" im günstigsten Falle die Folge hatten, nicht beachtet zu werden, mag die eine Seite des Vorganges sein. Sie öffneten aber auch Raum für selbst vom NS-Regime nicht gewollte Akte von vorauseilendem Gehorsam und Übereifer, die nicht zuletzt die für die NSDAP wichtige Akzeptanz im ärztlichen Berufsstand gefährdeten. Regional muss es im Siegesrausch der neuen NS-Beauftragten zu erschreckenden Vorgängen gekommen sein. Anders ist ein Hinweis Wagners, immerhin im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht, kaum zu verstehen. Zitat: "Das wilde Vorgehen untergeordneter Stellen entbehrt jeder gesetzlichen Grundlage und wird von der Reichsleitung der NSDAP auf das Schärfste verurteilt."(15) Auch die Ärzteführung in Schleswig-Holstein war nicht frei davon.


Der Beauftragte des Reichskommissars, Frauenarzt Pg. Dr. Hans Köhler

Schon aus dem bisher Geschilderten wird deutlich, dass der Gauobmann des NSDÄB, Dr. Hans Köhler, in der Übergangszeit nach der nationalsozialistischen Machtergreifung eine besonders traurige Rolle spielte. Der zur Kassenpraxis zugelassene Frauenarzt unterhielt eine Privatklinik mit einem Operations- und einem Entbindungsraum in Neumünster. Seine Approbation erhielt er 1902. Der Tatsache, dass er schon vor dem 30. Januar 1933 Gauobmann des schleswig-holsteinischen Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes war, verdankt er seinen zeitweiligen Aufstieg an die Spitze der schleswig-holsteinischen Ärzteschaft in den Jahren 1933 bis 1935. Am 4. Mai 1933 wurde er vorläufiger Beauftragter des Reichskommissars der ärztlichen Spitzenverbände, Gerhard Wagner, für die Provinz Schleswig-Holstein, (16) im August 1933 Amtsleiter der Provinzstelle Schleswig-Holstein der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands (KVD) und mit Wirkung vom 22. Januar 1934 Vorsitzender der preußischen Provinz-Ärztekammer Schleswig-Holstein.

Zunächst sah es nicht so aus, als würde die Mitgliedschaft im NSDÄB solche Karrieresprünge ermöglichen. Der erst im August 1929 in Nürnberg gegründete NS-Ärztebund hatte es schwer, sich innerhalb der Ärzteschaft durchzusetzen. Seine (wenigen) Mitglieder der ersten Stunde waren der nationalsozialistischen Weltanschauung verschworen und hatten die Ausrichtung der Ärzteschaft entsprechend den Vorstellungen Hitlers zum Ziel. Der NSDÄB sollte die "deutschstämmige Ärzteschaft" aus ihrer "Gedankenlosigkeit und Lauheit" aufrütteln. Für Schleswig-Holstein liegen Mitgliederzahlen nicht vor, aber auch hier wird gegolten haben, dass sie bis Ende 1931 sehr gering waren.(17) Am 30. Januar 1933 hatte der NSDÄB reichsweit 2.786 ordentliche Mitglieder und 344 Anwärter. Die Anwärter konnten erst Mitglieder des NSDÄB werden, wenn sie in die NSDAP aufgenommen worden waren.(18) Für Schleswig-Holstein dürfte eine Mitgliederzahl von 80 bis 100 selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die nördlichste preußische Provinz mehr nationalsozialistische Anhänger hatte als andere Regionen Deutschlands, eher zu hoch gegriffen sein.

So war die Auswahl an Führungspersönlichkeiten nicht groß. Vermutlich war Köhler allein deswegen Gauobmann des NSDÄB Schleswig-Holstein geworden, weil er zur richtigen Zeit zur Verfügung stand und als durch und durch eingefärbter nationalsozialistischer "grober Klotz" auch die Gewähr bot, bedingungslos für die Ziele des Nationalsozialismus einzutreten. Besondere Fähigkeiten darüber hinaus waren bei der begrenzten Auswahl nicht zu erwarten und zunächst auch nicht gefordert. Köhler war in seinen Ämtern nicht vom Vertrauen der schleswig-holsteinischen Ärzteschaft getragen, sondern allein aufgrund seiner Funktion als Gauobmann und Beauftragter des Reichskommissars in sie hinein berufen worden. So verwundert es nicht, dass er in Ärztekreisen unbeliebt war. Sein mangelnder Rückhalt muss ihm auch bewusst gewesen sein. Wie anders sollen seine im Januar 1934 in der ersten Ausgabe des neu geschaffenen Ärzteblatts für Hamburg und Schleswig-Holstein "Den deutschen Ärzten und insbesondere meinen Mitarbeitern" gewidmeten herzlichen Neujahrsgrüße zu verstehen sein? Offenbar war die Sympathie zu den handverlesenen als Mitarbeitern tätigen Parteigenossen größer als zu den "deutschen Ärzten". Der Text des Neujahrsgrußes verstärkt diesen Eindruck. Ein wegen seiner kaum zu übertreffenden Eindeutigkeit etwas ausführlicher wiedergegebenes auszugsweises Zitat macht dies anschaulich: "[...] Es handelt sich für die nat.-soz. Ärzte nicht darum (wie die Gestrigen immer noch glauben) infolge des allgemeinen Umbruchs auch die Führung unseres Standes und Berufes in unsere Hände zu spielen und damit die Macht. Die das heute noch glauben, haben bestenfalls nicht begriffen und werden es nie begreifen; damit scheiden die Leute aus. Andererseits sind wir gewillt, alle, die um uns in fester Stellung zu gemeinsamer Aufbauarbeit zu sammeln, die nicht nur guten Willens sind, sondern auch sich fähig fühlen zur Mitarbeit, und diese rufe ich hiermit auf. Es ist der letzte Appell! Ein weiterer wird nicht mehr folgen, und wer nicht mit antritt zum Vormarsch, der wird nie da sein! [...] An und für sich brauchen wir niemand; wir haben im Kampf mit unseren Widersachern die Arbeit allein gemacht, wir werden sie in unserem Staat spielend machen; auch allein, wenn es sein müßte. [...] Wir werden in den kommenden Jahren klar scheiden zwischen denen, die uns wertvoll sind, weil sie wertvolle Mitarbeit leisten und denen, die für uns wertlos sind und damit auch wertlose Arbeit leisten. [...] Es muß Schluß gemacht werden mit den Meckerern und denen, die meinen, sie könnten es immer noch besser. Wer nicht will, braucht nicht; er soll sich aber nachher nicht wundern, wenn wir ihn einfach liquidieren, weil wir keine Zeit haben werden, uns mit ihm abzugeben."(19)

Auf den Punkt gebracht teilt Köhler den Kassenärzten mit, dass er als Führer der schleswig-holsteinischen Ärzte nicht deren Interessen, sondern die des NS-Regimes vertritt, weiter kann diesem "Neujahrsgruß" entnommen werden, dass eine Mitarbeit weiterer Ärzte eigentlich nicht notwendig ist und zum Dritten droht er den Meckerern mit Liquidation, wobei offen bleibt, ob er damit an die Konzentrationslager oder mehr gedacht haben mag.


Die preußische Ärztekammer Schleswig-Holstein Anfang 1934 bis Mitte 1936

Eine der letzten Amtshandlungen von Lubinus als Vorsitzender der Ärztekammer war die Beantwortung einer Anfrage des Oberpräsidenten bezüglich der Einhaltung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums bei den Angestellten der Ärztekammer. Er konnte am 10. Januar 1934 mitteilen dass "sowohl bei dem Kassenführer Oberstabsarzt a.D. Dr. Hüne wie auch der Sekretärin Fräulein Herzog über die Großeltern hinaus eine rein arische Abstammung vorhanden sei und dass beide niemals der sozialdemokratischen noch der kommunistischen Partei angehört hatten".(20) Mit Schreiben des Oberpräsidenten vom 22. Januar 1934 wurde Köhler Vorsitzender der schleswig-holsteinischen Ärztekammer.(21) Bevor dies geschah, gab es jedoch noch einiges Hin und Her zwischen dem preußischen Innenministerium, dem Oberpräsidenten Hinrich Lohse und Köhler. Der von Köhler dem Oberpräsidenten vorgeschlagene Hans Lubinus; Vertreter sollte nach eigenem Vorschlag Köhler selbst sein, als weitere Vorstandsmitglieder schlug er Reimers (Wandsbek), Schenke (Flensburg) und Schirren (Kiel) - "unpolitisch, aber vernünftig" - vor(22) fand nicht die Gnade Lohses. Lubinus war zu diesem Zeitpunkt ja lediglich Anwärter auf die Mitgliedschaft in der NSDAP, an seine Stelle sollte - mit Köhler abgestimmt - nunmehr der nahezu unbekannte Pallesen aus Heide treten.(23) Hans Köhler traute sich (zu recht) die Tätigkeit des Ärztekammervorsitzenden nicht zu, Vertreter wollte er schon sein, um sich einarbeiten zu können und das Ganze zu überwachen. Der Preußische Minister des Inneren seinerseits hielt es nicht für opportun, einen völlig unbekannten Arzt von der Dithmarscher Westküste zum Kammervorsitzenden zu machen. So wurde - eigentlich gegen seinen Willen - Köhler Vorsitzender und Pallesen sein Vertreter.(24)

Für die Ärztekammer Schleswig-Holstein mit ihrem kleinen Team aus zwei Angestellten,(25) begann schon etwa ein halbes Jahr davor eine Übergangsphase mit weitgehender Einflusslosigkeit. Die ohnehin nicht sehr umfangreichen Aufgaben der preußischen Ärztekammern wurden, soweit sie über den regionalen Zuständigkeitsbereich hinausgingen, auch schon in der Vergangenheit von mit Vertretern aller preußischen Ärztekammern besetzten Ärztekammerausschuss wahrgenommen und waren auf das Land Preußen begrenzt. Den deutschen Ländern waren jedoch mit dem Gesetz über den Neuaufbau des Reiches vom 30. Januar 1934 ihre föderalen Befugnisse genommen worden. Sie waren nun bei der Wahrnehmung ihrer Verwaltungstätigkeiten den jeweils zuständigen Reichsministerien unterstellt.(26) So waren berufs- und gesundheitspolitische Aktivitäten, die früher Hauptaufgaben der preußischen Ärztekammern waren, nicht mehr sinnvoll durchführbar, da der Adressat von Vorschlägen und Anregungen gleichzeitig der Vorgesetzte des Ärztekammervorsitzenden war. Der gegenüber dem Reichsärzteführer weisungsgebundene Führer der regionalen Ärzteschaft, Köhler, hätte Gerhard Wagner gegenüber, der ihn selbst eingesetzt hatte, Kritik und Vorschläge übermitteln müssen, ohne dass er für sich in Anspruch nehmen konnte, Sprachrohr der schleswig-holsteinischen Ärzteschaft zu sein. Die Einhaltung des Berufsrechts allerdings wurde weiterhin auf Landesebene durch das lediglich von der Ärztekammer finanzierte unabhängige ärztliche Ehrengericht unter Leitung des langjährigen Vorsitzenden Pg. Dr. Reimer ("der die Angelegenheiten bisher mit viel Geschick ausgeführt hat, wenn er auch schon sehr alt ist", so die Beurteilung Köhlers)(27) aus Wandsbek überwacht. Die weitere personelle Besetzung wurde nicht geändert. Die selbstständig geleitete Pensionskasse verblieb trotz der öffentlichen Attacken Hans Köhlers gegen Hüne(28) zunächst unter dem Vorsitz des ehemaligen Ärztekammervorsitzenden Hans Lubinus und seines Kassenwartes Hüne in der Caprivistraße in Kiel. Facharztanerkennungen gehörten damals nicht zu den Aufgaben der Ärztekammern, sie blieben beim Verein Schleswig-Holsteinischer Ärzte. Diese Aufgabe ging dann 1935 vorübergehend auf die KVD über, obwohl sie sich überwiegend auf Ärzte bezog, die ihr gar nicht als Mitglied angehörten. Dies war jedoch nur eine Übergangslösung, da die Facharztanerkennungen nach dem Inkrafttreten der Reichsärzteordnung am 1. Juni 1936 Aufgabe der neugeschaffenen Reichsärztekammer wurden. Die Beiträge zur Ärztekammer einschließlich der Pensionskasse wurden ab Mai 1934 für alle Ärzte des Bezirks durch die zuständigen Bezirksstellen der KVD eingezogen, also auch für die nicht der KVD angehörenden Assistenzärzte. Die "Ärztekammerkasse" wurde verpflichtet, entsprechende Daten an die KVD-Bezirksstellen zu geben.(29)

Die erste Amtshandlung Köhlers als Vorsitzender der Ärztekammer war die Neubesetzung des Vorstandes, der nicht mehr gewählt, sondern vom Vorsitzenden bestimmt wurde. Die von ihm noch Mitte Dezember 1933 vorgesehenen Personen sollten es nun aber doch nicht werden: Reimers nicht, weil die Ehrenämter Ehrengerichtsvorsitzender und Ärztekammervorstandsmitglied inkompatibel waren, Schirren und Schenke nicht, weil sie keine Parteigenossen waren. Mitglieder wurden neben dem Vorsitzenden Köhler (Neumünster), die Ärzte Vellguth (Meldorf), Borbe (Altona), Dieter (Kiel), Böge (Süderbrarup), Hadenfeldt (Kiel), Rinne (Segeberg). Wie auch bei den Vertretern(30) wurden ausschließlich Parteigenossen ausgewählt, die Köhler vermutlich auch schon durch ihre Mitgliedschaft im NSDÄB als zuverlässige Gefolgsleute bekannt waren.(31) Am 28. April 1934 fand im Bahnhofshotel in Neumünster die erste Sitzung des neuen NS-Kammervorstandes statt. Sie dauerte fünf Stunden und war erkennbar geprägt von dem Eifer des Vorsitzenden, es besonders gut machen zu wollen. Erstes Thema war die Pensionskasse. Köhler berichtete, dass sie von Lubinus und Hüne weitergeführt werden würde. Er plane aber eine Kommission, damit "diese beiden Herren" die Kasse nicht mehr allein führen. Diese sollte auch den tatsächlichen Wert und nicht den Nennwert der Anlagen feststellen. Auf Anregung von Hadenfeldt wurde beschlossen, dass Pg. Jentzen, der Geschäftsführer der KVD-Bezirksstelle Kiel, sich in die Führung der Kasse einarbeiten soll, da "Lubinus und Hüne beide schon alt" seien. Köhler teilte dem Vorstand mit, dass 8.000 RM aus dem Vermögen des Vereins Schleswig-Holsteinischer Ärzte für den Umbau von Arbeiterwohnungen in Alt-Rehse gestiftet worden seien. In Alt-Rehse entstand aus den an die KVD geflossenen Mitteln des Hartmannbundes eine "Führerschule der deutschen Ärzteschaft". Die Ärztekammerkasse wird zum 1. Mai 1934 nach Neumünster überführt. Die Kassenführung übernimmt der Geschäftsführer der KVD-Geschäftsstelle Neumünster und Schriftleiter des neuen Ärzteblattes für Hamburg und Schleswig-Holstein, Fritz Hinrichsen. Seitens der für den Ärztekammerbeitragseinzug zuständigen KVD-Bezirksstellen mussten künftig vier Prozent für den Individualfonds und 1,5 Prozent für den Allgemeinfonds an die Pensionskasse nach Kiel überwiesen werden, 0,5 Prozent für die Verwaltung der Ärztekammer sollten direkt nach Neumünster gehen. Mehre Anwesende stellten fest, dass sowohl die Verwaltung der Pensionskasse wie auch der Ärztekammer durch Hüne sehr sparsam erfolgt sei, sicher nicht gerade Balsam für die Ohren des Vorsitzenden Köhler, der wenige Monate zuvor noch versucht hatte, Hüne durch Rufmord aus seinem Amt als Kassenwart des Pensionsfonds zu drängen.(32) Dann ging es um die Verteilung der Gelder des Vereins schleswig-holsteinischer Ärzte und der regionalen Ärztevereine. Man war sich einig, dass möglichst alles verbraucht werden sollte, damit nicht unnötig Gelder an den Deutschen Ärztevereinsbund abgegeben werden müssen.(33)

Die nächste Sitzung des Ärztekammervorstandes fand fast ein Jahr später am 2. Februar 1935 statt. Köhler teilte in seinem Jahresbericht mit, dass er den Vorsitz der Pensionskasse zusammen mit Hinrichsen übernommen habe und dass die Geschäftsführer der KVD-Bezirksstellen zu Beauftragten der Ärztekammer für ihre Bezirke ernannt worden seien. Beschlüsse des Preußischen Ärztekammerausschusses seien nunmehr für die regionale Ärztekammer - so Köhler - Befehl. Der Vorstand befasste sich folgsam mit den Beschlüssen des Preußischen Ärztekammerausschusses vom 27. Oktober 1934.(34)

Das Referat des Staatsrats Conti (des späteren Reichsgesundheitsführers) über die Nichtarier im Gesundheitswesen führte zu einer Bestandsaufnahme in Schleswig-Holstein. Die acht "jüdischen Ärzte in der Provinz" werden namentlich benannt,(35) Rinne schlug vor, "die Nichtarier an alle Beauftragten der Ärztekammer zu melden, damit diese den Kassen und den Ärzten bekannt gegeben werden können, um Überweisungen an Nichtarier zu vermeiden". Köhler legte folgenden Beschluss fest: "Das Verbot, Patienten an Nichtarier zu überweisen, wird sehr streng gehandhabt, es betrifft Kassen- und Privatpatienten. NS-Patienten, die zum jüdischen Arzt gehen, werden aus ihrer Formation ausgeschlossen." Dieser Beschluss sollte Konsequenzen für die ausgegrenzten Ärzte haben, wie beispielhaft das unten dargestellte tragische Schicksal des Rendsburger Arztes Ernst Bamberger zeigt. Weitere zu beratende Tagesordnungspunkte aus der Sitzung des Preußischen Ärztekammerausschusses waren der Praxisverkauf ("Praxisverkauf ist verboten"), die Schilderfrage (soll in kürzester Zeit geregelt werden), saisonmäßiger Wechsel des Praxisortes (nicht erlaubt, Ausnahmen nur mit Zustimmung der Ärztekammer) und die frühzeitige Erkennung von Krebserkrankungen (Einrichtung von Fortbildungskursen verbindlich jeweils für ein Wochenende im Vierteljahr). Die Facharztfrage wurde eingehend behandelt: Ärzte, die "auf Gebieten arzten, für die sie nicht Facharzt sind, sind aufzufordern, diese Tätigkeit zu unterlassen und andernfalls zu bestrafen", Doppelbezeichnungen wie "Facharzt für Chirurgie und Gynäkologie" oder "Facharzt für Chirurgie und Orthopädie" durften nicht mehr geführt werden. Dem Flächenland Schleswig-Holstein wurde mit der Ausnahme Rechnung getragen, dass an kleinen von der Ärztekammer zu bestimmenden Orten Fachärzte von Fall zu Fall auch auf angrenzenden Gebieten "arzten" durften. Ausführlich wird über die Pensionskasse beraten. Die Sitzung dauerte vier Stunden.(36)

Diese war die letzte Vorstandssitzung unter der Leitung von Köhler, Anfang April 1935 legte er angeblich wegen Arbeitsüberlastung alle seine Ämter nieder, er war für das NS-Regime untragbar geworden.(37) Alles spricht dafür, dass Köhler seinen Ämtern nicht gewachsen und seine Unfähigkeit Ursache für gravierende Fehlentwicklungen in Schleswig-Holstein gewesen war. Am 19. Juni 1935 wird der Segeberger Chirurg Dr. Hans Rinne Nachfolger Köhlers als Amtsleiter der Provinzstelle Schleswig-Holstein der KVD. Die KV-Geschäftsstelle in Neumünster wird ebenso wie die neu geschaffene Zentral-Abrechnungsstelle zum 1. Juli 1935 nach Bad Segeberg, Klosterkamp 12, verlegt. Hans Rinne wird am 13. August 1935 auch Vorsitzender der Ärztekammer.(38)


Das Schicksal des jüdischen Chirurgen Dr. Ernst Bamberger

Das tragische Schicksal des Rendsburger Chirurgen Ernst Bamberger zeigt, mit welcher gnadenlosen Konsequenz das schleswig-holsteinische NS-Ärzteregime unter Hans Köhler und später unter seinem Nachfolger Hans Rinne mit Kollegen umging, die unter die antisemitische Gesetzgebung, insbesondere die Nürnberger Gesetze vom 15. September 1935 fielen. In Rendsburg betrieb der mit vier jüdischen Großeltern als Volljude eingestufte Ernst Bamberger seit 1922 eine chirurgische Privatklinik. Seine Freundschaft mit dem NSDAP-Kreisleiter und Landrat Wilhelm Hamkens sowie mit dem Augenarzt und Kreisobmann des NSDÄB für den Kreis Rendsburg, Carl Brinkhaus, bewahrten den seit 1921 nach seiner Taufe der evangelischen Kirche angehörenden Bamberger vorerst vor nachteiligen Auswirkungen seiner Abstammung. Sein Freund Brinkhaus wurde Anfang 1934 zum Amtsleiter der KVD-Bezirksstelle Mitte ernannt. Die Adresse der Geschäftsstelle der KVD-Bezirksstelle Mitte (Moltkestr. 6) war für kurze Zeit sogar mit der der Privatklinik Bambergers identisch, bis die Bezirksstelle in den Jungfernstieg 11 verzog. Brinkhaus allerdings bekam die freundschaftliche Beziehung zu Bamberger trotz enger Beziehungen zum Landrat Hamkens und Gauleiter Lohse (beide waren, wie auch Ernst Bamberger, Jagdfreunde von ihm) nicht gut. Wegen seiner Freundschaft zu Bamberger war es zu schweren Auseinandersetzungen mit der schleswig-holsteinischen Ärzteführung gekommen, das schon dargestellte Revirement im April 1935 ermöglichte die Entlassung des ehrenamtlichen Amtsleiters der Bezirksstelle Mitte. Wie die Geschäftsführer der anderen Bezirksstellen auch, wurde der bisherige Geschäftsführer Hans Nordmann neuer hauptamtlicher Amtsleiter, Brinkhaus musste im Mai 1935 seine Augenklinik aufgeben und seine Praxis aus Rendsburg nach Kiel-Gaarden verlegen. Kreisobmann des NSDÄB wurde Justus Schultz aus Büdelsdorf. Bamberger hatte seinen Schutz verloren. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde ihm die Kassenzulassung entzogen, allerdings ohne dass dies zunächst nennenswerte finanzielle Auswirkungen für ihn hatte, da sich auch weiterhin selbst hochrangige Nationalsozialisten von ihm operieren ließen.(39) Letztendlich half ihm alles nichts. 1938 musste er Rendsburg verlassen. In auswegloser Situation setzte er drei Jahre später seinem Leben im Dorf Remmels bei Hohenwestedt, wo er Zuflucht gefunden hatte, ein Ende.(40)


Literatur und Quellennachweis beim Verfasser oder im Internet unter www.aeksh.de.

Dr. med. Karl-Werner Ratschko, MA, Havkamp 23, 23795 Bad Segeberg


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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 11/2010 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2010/201011/h10114a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Der jüdische Chirurg Dr. Ernst Bamberger (Jüdisches Museum Rendsburg)


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt November 2010
63. Jahrgang, Seite 64 - 69
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Dezember 2010