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GESCHICHTE/496: Die Charité im Dritten Reich - Berliner Ärzte im Nationalsozialismus (IPPNWforum)


IPPNWforum | 113 | 08
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Die Charité im Dritten Reich
Neues Buch über Berliner Ärzte im Nationalsozialismus

Interview mit Dr. Sabine Schleiermacher


"Zur Dienstbarkeit medizinischer Wissenschaft im Nationalsozialismus", so lautet der Untertitel eines jüngst erschienen Sammelbandes über die Charité im Dritten Reich. Die Beiträge befassen sich exemplarisch mit den Mitgliedern der Berliner Medizinischen Fakultät. Dort waren einige der berühmtesten Ärzte des Deutschen Reiches beschäftigt: Ferdinand Sauerbruch, der Psychiater Karl Bonhoeffer oder der Anatom Hermann Stieve beschäftigt. Wir sprachen mit Privatdozentin Dr. Sabine Schleiermacher aus dem Forschungsschwerpunkt Zeitgeschichte im Institut für Geschichte der Medizin an der Charité, die zusammen mit Dr. Udo Schagen den Sammelband herausgegeben hat.


Forum: Inwieweit hatten sich die Berliner Wissenschaftler "dienstbar" gemacht?

Schleiermacher: Nur in einer Ausnahme haben Mediziner der heutigen Charité widersprochen, als die Nationalsozialisten 1933 mit ihren Rassegesetzen die jüdischen Kollegen aus dem Dienst drängten. Im vorauseilenden Gehorsam waren im Vorfeld schon die Listen erstellt worden, mit denen Kollegen entfernt werden konnten. Sauerbruch veröffentlichte zur Machtergreifung Hitlers zusammen mit anderen Gelehrten einen Aufruf, indem sie es begrüßten, dass Hitler an die Macht kam. Sie riefen andere Hochschullehrer auf, sich an der Unterstützung der neuen Regierung zu beteiligen. Die Nationalsozialisten waren auf Wissenschaftler von Rang und Namen angewiesen und brauchten deren Reputation für die Außendarstellung. Wissenschaftlern war die gegenseitige Abhängigkeit bekannt. Sie haben gewusst, wie man die Klaviatur der Macht bedient.

Forum: Was waren die Motive dahinter?

Schleiermacher: Es ging oft um die Durchsetzung eigener Interessen. In unserem Sammelband beschreibt Cay-Rüdiger Prüll wie der Pathologe Robert Rössle sein Institut neu strukturieren wollte und der Nationalsozialismus ihm dann den Rahmen lieferte. Als der Hygieniker Heinz Zeiss auf den Lehrstuhl für Hygiene berufen wurde, hat er die Entlassungen der jüdischen Mitarbeiter genutzt, um seine Vorstellungen von Wissenschaft zu etablieren. Der Nationalsozialismus bot für einzelne Wissenschaftler Möglichkeiten in der Forschung, die man vorher so nicht hatte.

Forum: Gab es ein Unrechtsbewusstsein auf der Seite der Wissenschaftler?

Schleiermacher: Die ethischen Wertsetzungen waren letztlich durch die Übereinkunft, dass die Volksgemeinschaft der oberste Wert ist und der Einzelne dieser Volksgemeinschaft untergeordnet ist, stark verschoben. Die Ordinarien hatten weder ein Unrechtsbewusstsein, noch konnten Anzeichen von Selbstzweifel in den Quellen entdeckt werden. Das ging Hand in Hand mit der hohen wissenschaftlichen Anerkennung, die sie von Seiten der Gesellschaft erhielten.

Forum: Aber es gab Ausnahmen...

Schleiermacher: Eine war Otto Krayer, der für kurze Zeit kommissarisch das pharmakologische Institut leitete. Er hatte im Sommer 1933 einen Ruf nach Düsseldorf bekommen. Krayer lehnte mit Hinweis auf den dort entfernten jüdischen Kollegen ab. Aber das war ein absoluter Einzelfall..

Forum: Wie weit standen die Schreibtische der Ordinarien von den Medizinverbrechen in den Lagern entfernt?

Schleiermacher: Von Mengele wissen wir, dass er von Auschwitz aus im wissenschaftlichen Austausch mit Otmar von Verschuer in Berlin stand. Von Verschuer war ab 1942 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik und zugleich Honorarprofessor an der medizinischen Fakultät. Gleiches gilt für das Verhältnis des Pathologen Rössle zu seinem ehemaligen Oberassistenten Robert Neumann, der u.a. im KZ Buchenwald Menschenversuche durchgeführt haben soll. Wir gehen davon aus, dass die Ordinarien, also die Institutsleiter, selbst nicht in den Konzentrationslagern gearbeitet haben, aber dort mit ihren Kollegen in einem gegenseitigen Austausch standen. In welcher Art und Weise die Kontakte bestanden, wird zukünftig zu eruieren sein.

Forum: Warum wird dies erst so spät erforscht?

Schleiermacher: Die Generation dieser Professoren prägte bis weit in die 60er Jahre den Hochschulbetrieb. Nicht ohne Grund gab es die Bewegung der 68er. Auf die freigewordenen Stellen rückten die Schüler dieser Ordinarien nach. In den 80er Jahren fing man an, die Rolle der Wissenschaftler in der NS-Zeit zu untersuchen. Dass Medizin und Wissenschaft auch ideologischen Parametern und bestimmten Erkenntnisinteressen unterliegt, war bis dahin überhaupt nicht diskutiert worden.

Forum: Welche Bedeutung hat die Auseinandersetzung mit der NS-Wissenschaft heute?

Schleiermacher: Die Fragen von damals stellen sich heute unverändert: Welche Rolle haben Wissenschaftler heute in der Gesellschaft? Wie werden ethische Fragen diskutiert und wie wird menschliches Leben dabei bewertet? Besonders im Bereich der genetischen Forschung finden wir diese Fragen wieder, z. B. in der Diskussion, inwieweit man an behinderten Menschen forschen darf, wenn das einen Mehrwert für die Gesellschaft zum Ziel hat - oder auch in den Euthanasie-Debatten. Wir bringen die Erkenntnisse der Geschichtsforschung auch in die Lehre ein. Es ist wichtig, die Studierenden zu motivieren, ihre medizinischen Handlungen kritisch zu hinterfragen: Was mache ich da eigentlich und inwieweit ist mein Tun gesellschaftlich eingebunden? Was setze ich mit meinem Handeln in Gang? Also die wichtige Frage ist die nach der eigenen Verantwortung.

Das Gespräch führte Sven Hessman.


Das Buch "Die Charité im Dritten Reich" ist im Ferdinand Schöningh-Verlag erschienen und kostet 19,90 Euro.


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Quelle:
IPPNWforum | 113 | 08, S. 33
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
Anschrift der Redaktion:
IPPNWforum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Januar 2009