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MELDUNG/205: Nachrichten aus Forschung und Lehre vom 28.09.10 (idw)


Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilungen


→  Die Neuromedizin gewinnt weiter an Bedeutung
      Besucherrekord bei der Neurowoche 2010 in Mannheim
→  Schneller sehen dank Vorwarnung vom Zell-Nachbarn
→  Bernstein Preis 2010 - 1,25 Millionen Euro für die Hirnforschung

Raute

Deutsche Gesellschaft für Neurologie - 26.09.2010

Die Neuromedizin gewinnt an weiter an Bedeutung
Besucherrekord bei der Neurowoche 2010 in Mannheim

Der Rekord ist erreicht: Mehr als 7000 Spezialisten für Gehirn und Nerven besuchten die Neurowoche in Mannheim. Mit über 2500 wissenschaftlichen Einzelbeiträgen ist diese Tagung der größte neuromedizinische Kongress, der jemals in Europa stattgefunden hat.

"Die Bedeutung neuromedizinischer Fächer in der Gesundheitsversorgung wächst immens - wir haben bei der Neurowoche festgestellt, dass sich die Neuromedizin neben der Inneren Medizin und der Chirurgie zur dritten großen Säule der Medizin entwickelt gat", sagt der Koordinator der Neurowoche, Professor Werner Hacke aus Heidelberg.

Migräne, Schlaganfall, Rückenschmerzen oder Demenz sind Volkskrankheiten. Der Schlaganfall habe inzwischen den Herzinfarkt als bedrohlichste Gefäßerkrankung überholt. "Die Patientenzahlen haben sich in nur 15 Jahren verdoppelt - und der Trend verschärft sich weiter, weil die Menschen immer älter werden und die Wissenschaft und Therapie große Fortschritte machen", meint Professor Heinz Reichmann, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, die größte neuromedizinische Organisation in Deutschland. Mit den rasant steigenden Patientenzahlen wird auch dringend Nachwuchs gesucht. Um die besten Köpfe zu finden, wurde die Kampagne "Deutschland behält die Nerven - Zukunft braucht Neurologen" gestartet.

Die Neurowoche findet nur alle vier Jahre statt und endete am Samstag. In diesem Jahr hat der Kongress erstmals fünf Fachgesellschaften und ein Dach versammelt: die Deutsche Gesellschaft für Neurologie, die Deutsche Gesellschaft für Neuroradiologie, die Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie, die Gesellschaft für Neuropädiatrie und die Deutsche Gesellschaft für Neuropathologie und -anatomie.

Weitere Informationen finden Sie unter
www.dgn.org/presse

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung:
http://idw-online.de/pages/de/institution1276

Quelle: Deutsche Gesellschaft für Neurologie, Frank A. Miltner, 26.09.2010

Raute

Ruhr-Universität Bochum - 27.09.2010

Schneller sehen dank Vorwarnung vom Zell-Nachbarn

RUB Wissenschaftler entwickeln Modell für lokale Aktivitätswellen im Gehirn Computermodell: Neuronale Felder simulieren Gehirnaktivität

Fällt ein Lichtreiz auf die Netzhaut des Auges, werden innerhalb von wenigen Zehntel Millisekunden Millionen von Nervenzellen im Gehirn aktiviert. Jede Nervenzelle in der primären Sehrinde erhält dabei mehrere tausend Signale sowohl von benachbarten als auch von weit entfernten Zellen, und sendet ebenso viele Signale aus.

Während in den letzten Jahrzehnten die individuellen Eigenschaften und Verbindungen innerhalb dieses Netzwerkes charakterisiert und die Übertragungseigenschaften einzelner Nervenzellen abgeleitet wurden, ließ sich das komplexe Zusammenwirken verschiedener Zellaktivitäten noch nicht beschreiben. Das ist jetzt RUB-Wissenschaftlern der Bernstein Gruppe für Computational Neuroscience gelungen. Sie entwickelten ein Computer-Modell, das auf weitreichenden Interaktionen zwischen Nervenzellen aufbaut. Es erklärt unter anderem, wie Nervenzellen von Nachbarn "vorgewarnt" werden, so dass sie Reize schneller verarbeiten können. Die Forscher berichten in PLoS Computational Biology.

Aktivitätswellen im Gehirn

Ausgangspunkt für die Forschungen ist ein Phänomen, das die Wahrnehmungspsychologie "line-motion"-Illusion nennt, weil eine Schein-Bewegung wahrgenommen wird: Farbstoffe, die elektrische Spannungsänderungen von Nervenzellen in Leuchtsignale umsetzen, helfen zu zeigen, wie das Aufblitzen eines Lichtpunktes im Gesichtsfeld eine lokale Aktivierung im Gehirn auslöst, die sich rasch wellenförmig ausbreitet. Diese Aktivitätswellen sind zum größten Teil unterschwellig und daher nicht wahrnehmbar. Erscheint hingegen kurze Zeit später ein zweiter, balkenförmiger Lichtreiz, so wird die zuvor ausgelöste Aktivitätswelle nach und nach überschwellig. Die Folge: Die Versuchsperson sieht den Lichtbalken nicht augenblicklich in seiner realen Länge, sondern so als würde er sich ausgehend vom zuvor präsentierten Lichtpunkt ausdehnen. Die neuronale Grundlage für diese wahrgenommene Scheinbewegung könnten Prozesse im Gehirn sein, die fortschreitende Aktivitätswellen auslösen.

Neuronale Felder

RUB-Wissenschaftlern um Dr. Dirk Jancke vom Institut für Neuroinformatik gelang nun zum ersten Mal die Darstellung dieser komplexen Interaktionsdynamiken in einem Computer-Modell. Sie nutzten dazu ein neuronales Feld, in dem simulierte Nervenzellen durch die Reichweiten ihrer Wechselwirkungen beschrieben werden. In einem solchen Feld sind eng benachbarte Zellen durch starke, weiter entfernte durch schwache Kopplungen charakterisiert. Zwei Schichten dieser Nervenzellgruppen, eine erregende und eine hemmende Schicht, sind so verschaltet, dass ein lokaler Erregungseingang eine sich schnell ausbreitende und wieder abklingende Aktivierung erzeugt. "Das heißt, die gesamte Felddynamik wird sowohl durch direkte sensorische Eingänge, als auch durch weitreichende Wechselwirkungen zwischen den Nervenzellen bestimmt", erklärt Dr. Jancke. "Die Folge ist, dass Eigenschaften eines externen Reizes nicht einfach passiv abgebildet werden, sondern Nachbarzellen einen entscheidenden Einfluss auf die sich ausbildenden Aktivitätsmuster haben." Im diesem Modell führen die weitreichenden Wechselwirkungen zwangsläufig zu einer Voraktivierung entfernter Nervenzellen.

Nervenzellen werden vorgewarnt

Solche Voraktivierungen könnten eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung bewegter Objekte spielen. Denn durch neuronale Verarbeitungszeiten erfährt das Gehirn von Ereignissen in der Außenwelt stets mit Verzögerung. Dank der weitreichenden Interaktionen werden Nervenzellen gewissermaßen "vorgewarnt", sind schneller aktivierbar, und können dadurch wertvolle Verarbeitungszeit einsparen.

Herausforderung: Mathematische Handhabbarkeit komplexer Reizkonstellationen

Was leistet ein solches Modell für das Verständnis von Gehirnprozessen? Neuronale Felder bieten eine mathematische Beschreibungsebene, die es erlaubt darzustellen, wie das Gehirn externe Ereignisse nicht nur abbildet, sondern durch Wechselwirkung zwischen Nervenzellen inter-"aktive" Informationsverarbeitung betreibt und schließlich in bestimmten Grenzfällen das erzeugt, was wir Illusionen nennen. Die wichtige zukünftige Herausforderung ist der Einsatz solcher Feld-Modelle für komplexere visuelle Reizkonstellationen. Ein wesentlicher Vorteil des Konzepts könnte dabei sein, weitreichende Gehirnprozesse von der Aktivität einzelner Nervenzellen zu abstrahieren und so Funktionen des gesamten Netzwerkes mathematisch handhabbar zu machen.

Weitere Informationen

Dr. Dirk Jancke
Bernstein Group for Computational Neuroscience
Institut für Neuroinformatik ND 03/70
Ruhr-Universität Bochum
44780 Bochum, Germany
E-Mail: jancke@neurobiologie.rub.de
http://homepage.ruhr-uni-bochum.de/Dirk.Jancke/

Titelaufnahme
Markounikau V, Igel C, Grinvald A, Jancke D (2010).
A Dynamic neural field model of mesoscopic cortical activity captured with voltage-sensitive dye Imaging.
PLoS Comput Biol 6, e1000919.
doi:10.1371/journal.pcbi.1000919.
http://www.ploscompbiol.org/article/info%3Adoi%2F10.1371%2Fjournal.pcbi.1000919

Redaktion: Meike Drießen

Zu dieser Mitteilung finden Sie Bilder unter:

http://idw-online.de/pages/de/image125106
Die "Line-motion"-Illusion. Auf einem Bildschirm erscheinen in kurzer Zeitfolge ein Quadrat und ein Balken. Versuchspersonen nehmen eine Schein-Bewegung war.

http://idw-online.de/pages/de/image125107
Messungen mit spannungsabhängigen Farbstoffen zeigten Aktivitätswellen entlang der Oberfläche der Sehrinde. Diese Aktivitätswellen könnten durch weitreichende Horizontalverbindungen vermittelt sein.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung:
http://idw-online.de/pages/de/institution2

Quelle: Ruhr-Universität Bochum, Dr. Josef König, 27.09.2010

Raute

Nationales Bernstein Netzwerk Computational Neuroscience - 27.09.2010

Bernstein Preis 2010 - 1,25 Millionen Euro für die Hirnforschung

Udo Ernst, Wissenschaftler an der Universität Bremen, erhält hochdotierten Forschungspreis für die Erforschung des Sehsystems

Der Bremer Wissenschaftler Udo Ernst wurde für sein hervorragendes Forschungskonzept und seine wissenschaftliche Leistung von einer internationalen Jury für den Bernstein Preis 2010 ausgewählt. Zum fünften Mal vergibt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) den Bernstein Preis für Computational Neuroscience. Dieser ist mit 1,25 Millionen Euro einer der höchstdotierten Forschungspreise für Nachwuchswissenschaftler in Deutschland. Dr. Georg Schütte, Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung, hat den Preis am 27. September im Rahmen der Bernstein Conference 2010 in Berlin übergeben. Die Konferenz ist die Jahrestagung des bundesweiten Bernstein Netzwerk Computational Neuroscience. Ziel des Bernstein Preises ist, Nachwuchswissenschaftlern auf dem Gebiet der Computational Neuroscience optimale Forschungsbedingungen zu bieten, so dass sie sich mit einer eigenen Arbeitsgruppe an einer deutsche Forschungseinrichtung für Führungspositionen qualifizieren können.

Udo Ernst befasst sich mit der Frage, wie das Gehirn visuelle Informationen verarbeitet. Damit wir sehen können, repräsentiert das Gehirn seine visuelle Umwelt in Form von elektrischer Aktivität der Nervenzellen. Dabei erschafft das Gehirn allerdings nicht ein genaues Abbild seiner Umwelt, viel mehr ist die Repräsentation auf den jeweiligen Kontext optimiert. Wenn wir zum Beispiel etwas Bestimmtes suchen, blenden wir andere Dinge aus. Auch unser Vorwissen greift in die Bildverarbeitung ein - wir erkennen Formen, die uns bekannt sind, sehr viel schneller und ergänzen dabei unvollständige Konturen. Wie aber greifen Faktoren wie Wissen und Kontext in die Bildverarbeitung ein? Dies wird Udo Ernst im Rahmen des Bernstein Preises mithilfe von theoretischen Modellen und Experimenten untersuchen.

Ernst geht von der Hypothese aus, dass Faktoren wie Intentionen oder Bildkontext die neuronale Aktivität auf allen Stufen der Bildverarbeitung beeinflussen. Wie kann ein solcher Einfluss aussehen? Ist er ein kontinuierliches neuronales Signal, oder reicht ein kurzer Impuls, um das Netzwerk von einem Zustand in einen anderen zu bewegen und somit gezielt eine bestimmte Verarbeitungsfunktion auszuwählen? Welche Strategien und Mechanismen verwendet das Gehirn, um die visuelle Informationsverarbeitung blitzschnell an eine neue Situation in unserer Umwelt oder an eine andere Verhaltensaufgabe anzupassen? Diese Fragen wird Ernst mithilfe von computergestützten Modellen neuronaler Netzwerke analysieren. Die theoretischen Arbeiten werden dabei durch Experimente ergänzt, die in Kooperation mit verschiedenen Arbeitsgruppen am Zentrum für Kognitionswissenschaften in Bremen durchgeführt werden: In psychophysischen Versuchen mit menschlichen Probanden wird Udo Ernst untersuchen, wie sich die Verarbeitung von Bildinformation je nach Aufgabenstellung unterscheidet. In Experimenten an Makaken, in denen die Tiere ähnliche Aufgaben zu lösen haben, werden die Aktivitäten ihrer Nervenzellen im Gehirn gemessen und analysiert. Ergebnisse aus diesen Studien werden in die Computermodelle einbezogen. Ein besseres Verständnis der Bildverarbeitung wird bei der Entwicklung computergestützter Bildanalyse und visueller Neuroprothesen eine Anwendung finden.

Udo Ernst hat in Frankfurt Physik studiert und in Frankfurt und Göttingen promoviert. Schon zu seiner Promotion beschäftige er sich mit dem visuellen System des Gehirns. Im Jahre 2000 ging Ernst an das Institut für Theoretische Physik an die Universität Bremen und im Jahre 2006 an die École Normale Supérieure in Paris. Seit 2007 ist er wieder in Bremen und als Teilprojektleiter der "Bernstein Gruppe Bremen" bereits in das Bernstein Netzwerk Computational Neuroscience integriert.

Der Bernstein Preis ist Teil des "Bernstein Netzwerkes Computational Neuroscience", das im Jahre 2004 vom BMBF eingerichtet und durch verschiedene aufeinander aufbauende Fördermaßnahmen weiterentwickelt wird. Das Bernstein Netzwerk ist mit ca. 200 Arbeitsgruppen an 24 verschiedenen Standorten inzwischen einer der größten Forschungsverbünde im Bereich der Computational Neuroscience weltweit und wird vom BMBF mit einem Gesamtvolumen von ca. 150 Millionen Euro unterstützt. Computational Neuroscience ist ein noch recht junges Forschungsgebiet, das sich vor allem durch seinen interdisziplinären Forschungsansatz auszeichnet. Hier arbeiten experimentelle Neurowissenschaftler und Theoretiker eng zusammen, um die Funktionsprinzipien des Gehirns besser zu verstehen.

Kontaktinformation:
Dr. Udo Ernst
Institut für Theoretische Physik
AG Neurophysik - Cognium
Hochschulring 18
Universität Bremen
D-28359 Bremen
udo@neuro.uni-bremen.de

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung:
http://idw-online.de/pages/de/institution1019

Quelle: Nationales Bernstein Netzwerk Computational Neuroscience, Dr. Katrin Weigmann, 27.09.2010

Raute

Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. September 2010