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GESCHICHTE/620: Chirurgen mit Humor über alle Klippen (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 1/2018

Medizingeschichte
Chirurgen mit Humor über alle Klippen

von Dr. Jutta von Campenhausen


Die Vereinigung Norddeutscher Chirurgen (NDCH) hat jüngst zum 200. Mal getagt. Rückblick der Medizinhistorikerin Dr. Jutta von Campenhausen auf die wechselvolle Geschichte der Gesellschaft.


Vom 30. November bis 2. Dezember 2017 trafen sich Chirurgen aus den nördlichen Bundesländern sowie aus Nachbarländern im alten Hansegebiet in Hamburg, um sich auszutauschen und zu diskutieren - zum 200. Mal.

Begonnen haben die Chirurgen mit ihren regelmäßigen Treffen im Jahr 1909, als die Vereinigung in Hamburg von Fritz König (1866 - 1952) aus Altona und Hermann Kümmell (1852 - 1937) aus Hamburg gemeinsam mit Wilhelm Müller (1855 - 1937) aus Rostock gegründet wurde. Damals hieß der Verbund noch NWCH, was für "Nordwestdeutsche Chirurgen" steht.

Erstmals trafen sich die Chirurgen aus dem Nordwesten des Deutschen Reiches am 23. Januar 1909 für einen Nachmittag im Tribünensaal des neuen Operationshauses des Allgemeinen Krankenhauses Eppendorf. Dr. Lauenstein vom Hafenkrankenhaus führte eine Babcock-Operation vor, es wurde lebhaft diskutiert und vor allem die Chirurgenvereinigung aus der Taufe gehoben.

"Wer die Überfüllung des Berliner Kongresses selbst erfahren hatte und am eigenen Körper manchmal als unheimlich empfand, wird es verstehen, daß mancher Chirurg den Wunsch hegte, in kleinerem Kreise zusammenzukommen, um fachliche und wissenschaftliche Aussprache zu pflegen," schrieb der Krefelder Chirurg Carl Erasmus. Die NWCH war zwar nicht die erste, aber von Anfang an die größte regionale Chirurgenvereinigung Deutschlands und ist es bis heute. Das Erfolgsrezept des Verbandes ist die Kombination aus wissenschaftlichem Anspruch, Kontaktpflege und Praxisorientierung. Die Fallvorstellungen, die traditionell jeden Kongress eröffnen, bieten gerade jungen Ärzten die Chance, sich vor großem Publikum auszuprobieren. Das hat Tradition: Schon bei der ersten Tagung nahmen die großen Ordinarien die junge Ärzte wohlwollend auf - daran sollte sich bis heute nichts ändern.

1948 erinnert sich Johann Carl Lehmann: "Unsere wissenschaftlichen Tagungen waren von Anfang an getragen von einem freundschaftlich kameradschaftlichen Geist; das machte unsere Diskussionen so fruchtbar. Man sprach frisch von der Leber weg, Übelnehmen gab's nicht, u. wenn die Meinungen einmal aufeinanderprallten, half frischer Humor über alle Klippen hinweg. Das danken wir in erster Linie unseren Alten, den Gründern unserer Vereinigung. Der Ton, in dem Kümmell und Müller miteinander verkehrten, übertrug sich auf alle Mitglieder." Als Kümmell, der mangels einer Universität in Hamburg immer noch kein Ordinariat hatte, 1913 immerhin zum königlich preußischen "Geheimen Sanitätsrat" ernannt wurde, hob Professor Müller beim nächsten Festabend im Atlantic sein Glas und rief durch den ganzen Saal: "Prost Kümmell, Du bist entjungfert!"

Dreimal im Jahr trafen sich die Chirurgen anfangs, nach dem Ersten Weltkrieg blieb die Frequenz bei zweimal im Jahr. Mit dabei waren auch die jungen schwedischen Chirurgen, die traditionell ihre Ausbildung in Deutschland erhielten und ihre ersten Kongresserfahrungen oft der NWCH verdankten. Aus diesem Grund tagten die nordwestdeutschen Chirurgen auch im schwedischen Lund, Malmö und Göteborg. Traditionell fand die Wintertagung stets in Hamburg statt, die Sommertagung dagegen führte die Mitglieder in die kleinen und großen Städte der Region. Eine Zeitlang funktionierte der Austausch der Chirurgen auch über die innerdeutsche Grenze hinweg. Doch mit dem Bau der Mauer wurde er schwierig, schließlich riss die Verbindung fast völlig ab. Im Frühjahr 1970 wurden alle DDR-Ärzte aufgefordert, aus den "westdeutschen" medizinischen Gesellschaften auszutreten. Die unterschriebene Austrittserklärung war dem Klinikchef vorzulegen.

Im Januar 1960 entstand die gemeinsame "Gesellschaft für Chirurgie an den Universitäten Greifswald und Rostock", die ab 1977 als "Regionalgesellschaft der drei Nordbezirke" und nach 1991 schließlich als "Vereinigung der Chirurgen Mecklenburg-Vorpommerns" firmierte. Zu deren Kongressen durften offiziell sechs Referenten aus dem "nichtsozialistischen" Ausland eingeladen werden, darunter höchstens ein bundesdeutscher Staatsbürger.

Mit der friedlichen Revolution in der DDR begann der lange Prozess, bei dem zusammenwachsen sollte, was zusammengehört. Medizinische Versorgung, Abrechnungssysteme und Ärzteausbildung mussten nach 45 Jahren getrennter Entwicklung zusammengebracht werden. Die Differenzen waren groß, die Herausforderung gewaltig. Versorgung und Gesundheitszustand der DDR-Bevölkerung waren dramatisch schlechter als die der alten Bundesrepublik.

Schon bei der Sommertagung der NWCH 1990 in Bremen tauchten Kollegen aus Mecklenburg-Vorpommern auf, doch noch fremdelten die Chirurgen aus alten und neuen Bundesländern. Erst 1993 entschloss man sich nach einer geheimen Abstimmung aller Mitglieder zu einer Wiedervereinigung der Nordwestdeutschen Chirurgen. Mit dem Mauerfall konnten NWCH-Tagungen in den neuen Bundesländern stattfinden. Die Organisatoren nutzten die Chance, den Westkollegen neue Horizonte zu eröffnen, indem sie sie in malerische Städte der Ex-DDR lockten. 1995 fand die Sommertagung deshalb in Schwerin statt, ein Jahr drauf erkundeten die Chirurgen Güstrow, 1998 Sellin und 2001 Wismar. Auch in Greifswald (2004), Rostock (2006) und Stralsund (2011) fanden sich die Norddeutschen Chirurgen (NDCH) zusammen.

So nennt sich die Vereinigung allerdings erst seit 2016. Gegründet wurde sie als Vereinigung Nordwestdeutscher Chirurgen, da sie die Provinzen Hannover und Schleswig-Holstein (Altona), die Städte Bremen und Hamburg sowie das Herzogtum Mecklenburg-Schwerin (mit Rostock, Schwerin und Wismar) und das Herzogtum Mecklenburg-Strelitz umfasste. Das Gebiet der Vereinigung erstreckte sich also über den Norden der heutigen Bundesrepublik Deutschland; zur Gründungszeit freilich war das die westliche Hälfte vom Norden des Kaiserreichs, das sich bis nach Königsberg erstreckte.

Die ostdeutschen Chirurgen schlossen sich 1927 zur Vereinigung Nordostdeutscher Chirurgen zusammen. Auch wenn sich durch Krieg und Grenzveränderungen Namen und Gebiete der regionalen Chirurgenvereinigungen änderten - ihre Funktion haben die Zusammenschlüsse nicht eingebüßt. Anlässlich der Hundertjahrfeier der Vereinigung Niederrheinisch-Westfälischer Chirurgen 1999 gaben Dieter Rühland und Friedrich-Wilhelm Eigler ein Buch über die regionalen Chirurgenvereinigungen in Deutschland heraus. Darin heißt es: "Im Übrigen darf man feststellen, dass die Intentionen, die vor 100 Jahren nach und nach zu den Gründungen der verschiedenen regionalen Vereinigungen geführt haben, auch in der heutigen Zeit fortbestehen. So ist es weiterhin wichtigste Aufgabe der regionalen Chirurgenvereinigungen, die kollegialen Beziehungen auf fachlicher und menschlicher Ebene zwischen allen Chirurgen sowohl im Niederlassungsbereich als auch an den Universitäten zu pflegen. Dabei haben die sich ständig ändernden politischen Rahmenbedingungen vor allem auch für die Chirurgie den Gesprächsbedarf über das fachliche Gebiet hinaus in das berufspolitische Umfeld hinein erweitert ... Die regionalen Chirurgenvereinigungen erfüllen darüber hinaus weitere wichtige Funktionen. So geben sie jungen Wissenschaftlern oft die erste Möglichkeit, ihre Forschungsergebnisse in Klinik und Experiment einem fachkundigen Gremium darzulegen und sich einer wissenschaftlichen Diskussion zu stellen. Gleichzeitig erfolgt der Austausch über die Erfahrungen in der täglichen Arbeit, und nicht selten sind gerade die Darstellungen der Einzelfallproblematik von besonderer Bedeutung sowohl für die Weiterbildung des Einzelnen wie auch als Anregung zu wissenschaftlicher Vertiefung."

So wichtig der wissenschaftliche Austausch ist - die Treffen waren von Anfang an auch gesellschaftliche Ereignisse. In den Gründerjahren endete die Tagung damit, dass der Vorsitzende einen ausgewählten Kollegenkreis in sein Haus einlud. Diese privaten Zusammenkünfte blieben lange ein geschätztes Ereignis, selbst als ein größerer offizieller Festabend zum Programm gehörte.

Als Bernhard von Langenbeck am 10. April 1872 den ersten "Congress" der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie eröffnete, sagte er: "Was die moderne Chirurgie insbesondere anbetrifft, so ist sie weit mehr bestrebt zu erhalten als zu zerstören. Man hat eingesehen, dass es weniger wichtig ist, neue Operationen und Operationsmethoden zu erfinden als die Mittel und Wege aufzusuchen, um Operationen zu vermeiden, oder wo sie unvermeidbar sind, ihre Erfolge zu sichern." Langenbeck stand mit dieser Einschätzung nicht allein da; man hielt die Chirurgie für abgeschlossen und bereitete sich auf die Konsolidierung des Erreichten vor. Heute würde man von Qualitätssicherung sprechen. Unnötige Eingriffe zu vermeiden war damals ein wichtiges, neues Thema und ist bis heute aktuell. Aber Langenbeck irrte gewaltig, wenn er glaubte, es sei "weniger wichtig, neue Operationen und Operationsmethoden zu erfinden." Tatsächlich hatten die Chirurgen alle Hände voll zu tun, die gängigen Möglichkeiten auszuschöpfen. Doch selbst dabei waren sie erstaunlich wenig erfolgreich. Langenbeck starb 1901 an einer Blinddarmentzündung, ebenso wie Friedrich Ebert. Der erste Reichspräsident der Weimarer Republik starb 1925, fünf Tage, nachdem Chirurg August Bier von der Charité den durchgebrochenen Wurmfortsatz operiert hatte. Es war also auch bei bekannten Eingriffen damals Luft nach oben.

Die Programme der modernen NDCH tragen technischen und wissenschaftlichen Entwicklungen Rechnung, auch der interdisziplinären Vernetzung sowie sozialen und politischen Problemen, allen voran dem ökonomischen Druck, der auf allen Akteuren lastet.


Randbemerkungen

200 Mal trafen sich die Nordwestdeutschen Chirurgen bislang. Nach den anfänglich drei Treffen pro Jahr einigten sich die Mitglieder nach dem Ersten Weltkrieg auf zwei jährliche Zusammenkünfte.

1970 fordert die DDR alle Ärzte auf, die westdeutschen medizinischen Fachgesellschaften zu verlassen. Die unterschriebene Austrittserklärung musste dem Klinikchef vorgelegt werden.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Ansichtskarte des Operationshauses des Neuen Allgemeinen Krankenhauses Eppendorf ca. 1920. In dem 1892 errichteten Gebäude sollten Licht und Luft die Infektionsgefahr verringern.

- Herrmann Kümmell Mitte der 1920er Jahre mit den Ärzten seiner Chirurgischen Klinik. Der "Eppendorfer Kittel" im Schnitt eines Offiziersmantels wird bis heute von Chef- und Oberärzten am UKE getragen. Der Visitenmantel ist wadenlang und tailliert, hat silberne Knöpfe und einen Rückenriegel. Assistenzärzte bekommen nur den knielangen Kittel ohne Taille und Riegel.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 1/2018 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2018/201801/h18014a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
70. Jahrgang, Januar 201, Seite 28 - 29
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Februar 2018

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