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GESCHICHTE/619: 1950 bis 1970 - Medikamentenversuche an Schleswiger Heimkindern (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 12/2017

Film
Kinder als Versuchsobjekte

von Dirk Schnack


Fernsehdokumentation des NDR über Medikamentenversuche an
Schleswiger Heimkindern. Preview im Kieler Landeshaus.


Die Medikamententests an Kindern im früheren Landeskrankenhaus Schleswig sind vom Norddeutschen Rundfunk (NDR) multimedial aufgearbeitet worden. Neben einem Radiofeature und einer Online-Multimediastory ist auch eine Fernsehdokumentation entstanden, die im vergangenen Monat ausgestrahlt wurde.

Die Doku lässt insbesondere den Betroffenen Franz Wagle zu Wort kommen, der von seinen Erlebnissen als Kind in der Schleswiger Psychiatrie berichtet. Wagle und wahrscheinlich rund 1.000 weitere Kinder wurden zwischen den 1950er und 1970er Jahren gezwungen, Medikamente zu nehmen, obwohl dafür keine Indikation vorlag. Mit den Ergebnissen dieser Tests lieferte das Landeskrankenhaus namhaften Pharmafirmen Informationen über Verträglichkeit und Nebenwirkungen ihrer neuen Produkte.

Wagle selbst war in Schleswig nicht aus Krankheitsgründen untergebracht, sondern weil er als "schwierig" galt. Im Landeskrankenhaus war damals ein Arzt für 100 Patienten zuständig. Kinder, die die Medikamente ablehnten, wurden zur Einnahme gezwungen. Ein Pfleger von damals sagt in dem Film: "Wir waren blind auf dem Gebiet. Es wurde verordnet, wir haben ausgeführt. Da wurde nicht gefragt."

Nicht gefragt haben offenbar auch die Ärzte des damaligen Landeskrankenhauses. Medizinhistoriker Prof. Volker Roelcke sagt über das Verhalten der damaligen Ärzte aus heutiger Sicht: "Ärzten wurde auch damals zugetraut, dass sie Grenzen erkennen und einhalten." Genau das traf auf die an den Medikamententests beteiligten Ärzte aber nicht zu. Ein Unrechtsbewusstsein lag bei ihnen offensichtlich ebenfalls nicht vor, schließlich wurden die Ergebnisse ihrer Studien publiziert und waren zugänglich. Die Pharmazeutin Sylvia Wagner, die sich in ihrer Promotion mit dem Thema beschäftigt, stieß in ihrer Recherche auf zahlreiche Quellen, wie sie in einer Podiumsdiskussion nach der Preview im Kieler Landeshaus berichtete.

Im Film und in der Diskussion wurde neben der Verantwortung der Ärzte und der Pharmaindustrie auch die des Landes thematisiert. Das Land Schleswig-Holstein ist inzwischen zwar nicht mehr Träger, hat aber lange Zeit klare Aussagen zu den Geschehnissen in Schleswig gemieden. Der zum Thema eingerichtete regionale Fachbeirat hat nicht die erhoffte Wirkung entfalten können. Der frühere Landtagsabgeordnete Wolfgang Dudda, der als Mitglied der damaligen Piratenfraktion frühzeitig Kontakte zu den Betroffenen hatte und Medienkontakte herstellte, hält den Beirat schlicht für ein "Alibi". Betroffene reden von einer "Schutzfassade". Nun ist auch auf politischer Ebene Bewegung zu erkennen. Erst kürzlich hatte sich der neue Sozialminister Dr. Heiner Garg wie berichtet ausdrücklich bei den Opfern entschuldigt und eine wissenschaftliche Aufarbeitung angekündigt. Mit Ergebnissen wird aber nicht vor 2020 gerechnet. Ob daraus irgendwann auch Entschädigungen resultieren, ist offen. Die Pharmafirmen sehen dazu bislang keine Veranlassung, obwohl der stellvertretende Geschäftsführer des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller (B.A.H.) dies laut Doku für angezeigt hält.

Die Dokumentation macht deutlich, dass die Medikamententests möglich waren, weil Personen und Institutionen eigene Vorteile wichtiger waren als die Gesundheit der Kinder. Roelcke formuliert so: "Das Patientenwohl wurde zugunsten von Karriere und ökonomischen Interessen zurückgestellt."


Preis

Das Journalistenteam des NDR, das die Beiträge rund um die Medikamententests im früheren Landeskrankenhaus Schleswig erstellt hat, wurde in diesem Jahr mit dem Medienpreis der Interessengemeinschaft der Heilberufe (IDH) Schleswig-Holstein ausgezeichnet.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 12/2017 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2017/201712/h17124a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
70. Jahrgang, Dezember 2017, Seite 19
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Januar 2018

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