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FORSCHUNG/4193: Long Covid - SARS-CoV-2 schädigt Blutgefäße im Gehirn (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 1, Januar 2022

SARS-CoV-2 schädigt Blutgefäße im Gehirn

von Uwe Groenewold


LONG COVID. Lübecker Wissenschaftler haben den Nachweis erbracht, dass eine SARS-CoV-2-Infektion Blutgefäße im Gehirn schädigt. Diese Beobachtungen, hofft Studienleiter Prof. Markus Schwaninger, könnten den Weg zu einer erfolgversprechenden pharmakologischen Intervention bahnen.


Es gab in der Literatur bereits Hinweise durch MRT-Untersuchungen und Autopsien, dass es bei COVID-19 zu einer Erkrankung der kleinen Blutgefäße des Gehirns, zu einer Mikroangiopathie, kommen kann", erklärte Prof. Markus Schwaninger auf Anfrage des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblattes. Der Wissenschaftler leitet das Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie und Toxikologie der Universität Lübeck. Die Forscher dort beschäftigen sich mit der Pharmakologie des Gehirns an der Schnittstelle zum Immunsystem, Stoffwechsel und Kreislauf. Ihre Erkenntnis: Infizieren sich die Gefäße mit dem Corona-Virus, führt dies zum Zelltod; es verbleibt lediglich die äußere Hülle der Gefäße, die aber nicht mehr von Blut durchströmt werden.

Welche Folgen dies hat, entdeckten die Forscherteams - die Lübecker Wissenschaftler kooperierten bei ihren Untersuchungen mit weiteren Experten aus Deutschland, Frankreich und Spanien - in Gehirnproben verstorbener COVID-19-Patienten sowie in Zell- und Tiermodellen einer SARS-CoV-2-Infektion.

"Diese haben wir mit hochentwickelten Technologien untersucht", erläuterte Schwaninger. "Mittels Einzelzell-RNA-Sequenzierung haben wir gezeigt, dass Endothelzellen im Gehirn Rezeptoren für das Virus besitzen und so eine Infektion möglich ist. Massenspektrometrie war die Basis für Untersuchungen, an welchen Stellen das körpereigene Protein NEMO durch die Virusprotease geschnitten wird. Wir haben insgesamt fünf Schnittstellen gefunden. Schließlich haben wir die zugrunde gegangenen Gefäße, die sogenannten Fadengefäße, mittels Super-Resolutions-Mikroskopie untersucht."

NEMO ist für das Überleben von Gehirnendothelzellen notwendig, seine Spaltung führt zum Untergang von Blutgefäßen durch Nekroptose. Nekroptose wird wie die Apoptose durch zelluläre Signalkaskaden gesteuert. Lässt sich die Nekroptose blockieren - das legen Tierversuche der Forscher nahe - bessert sich die Durchblutung im Gehirn von Mäusen. Dass auf diese Weise auch die Symptomatik bei COVID-19-Patienten verbessert wird, ist nun die Hoffnung des Lübecker Forscherteams.

Wie notwendig ein wirkungsvolles Eingreifen ist, unterstreichen aktuelle Zahlen: Rund 400.000 Menschen waren schon Ende 2021 von Langzeitfolgen der Erkrankung betroffen, mit stetig steigender Tendenz. Das haben Experten aus 21 Organisationen unter Leitung der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin ermittelt, die kürzlich eine S1-Leitlinie Post-COVID/Long-COVID ausgearbeitet und veröffentlicht haben (MMW Fortschr Med. 2021; 163 (16); Long-COVID: Beschwerden vier Wochen nach Infektion, geschätzt 10 % aller Infizierten; Post-COVID-Syndrom: Beschwerden zwölf Wochen nach Infektion, geschätzt 2 % aller Infizierten). Viele Betroffene leiden unter neurologischen Komplikationen, vor allem unter kognitiven Beeinträchtigungen wie Vergesslichkeit, Sprachstörungen, geringe Verarbeitungsgeschwindigkeit. Die Berliner Charité hat die Symptomatik der ersten 100 Patienten ausgewertet, die seit September 2020 in der dortigen neurologischen Post-COVID-Ambulanz vorstellig wurden (https://doi.org/10.3389/fneur.2021.738405). Von ihnen klagten 72 % über kognitive Beeinträchtigungen, 67 % waren von Fatigue betroffen, 36 % von Kopfschmerzen. Schwindel und Schmerz wurden bei jedem fünfte Patienten registriert, 5,5 % zeigten Anzeichen einer schweren Depression.

Ob und wie sich die Symptome lindern lassen, ist noch unklar. Schwaninger ist vorsichtig optimistisch. "Noch sind viele weitere Untersuchungen nötig. Nach unseren Befunden ist zu erwarten, dass Pharmaka in der Akutphase eingesetzt werden müssen, um Long-COVID zu verhindern." Sinnvoll und denkbar wären etwa Hemmer der Protease Mpro, die die Spaltung des Proteins NEMO initiiert. Solche Substanzen seien bereits in der Phase-2-Testung bei COVID-19. Hemmer der Nekroptose befinden sich ebenfalls bereits in der Phase-2-Testung, allerdings vorwiegend bei anderen Erkrankungen. "Da bei diesen klinischen Prüfungen ebenfalls neurologische Erkrankungen untersucht werden, gehe ich von einer guten Gehirngängigkeit aus." Langfristig, so Schwaninger, könnten diese pharmakologischen Ansätze eine neuartige Strategie zur Überwindung neurologischer Langzeitsymptome ermöglichen.

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 1, Januar 2022
75. Jahrgang, Seite 27
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 12. Februar 2022

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