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ETHIK/1284: Ad-Hoc-Empfehlung - Faire Versorgung für Menschen mit seltenen Erkrankungen (Infobrief - Deutscher Ethikrat)


Infobrief des Deutschen Ethikrates Nr. 24 - Januar 2019 - 01/19

AD-HOC-EMPFEHLUNG
Faire Versorgung für Menschen mit seltenen Erkrankungen

von Stephanie Siewert


Am 23. November 2018 hat der Deutsche Ethikrat seine Ad-hoc-Empfehlung "Herausforderungen im Umgang mit seltenen Erkrankungen" veröffentlicht. Darin verweist der Ethikrat auf die spezifische Verletzlichkeit von Menschen mit seltenen Erkrankungen und fordert eine angemessene Unterstützung in Forschung und Gesundheitswesen.


Wer in Deutschland zu den insgesamt etwa vier Millionen Menschen mit einer seltenen Erkrankung gehört, sieht sich oft mit einer Vielzahl von Problemen konfrontiert. Diagnosen werden häufig falsch oder erst verspätet gestellt. Die Betroffenen leiden an einem Mangel an Informationen und praktischer Unterstützung im Alltag und qualifizierte Facheinrichtungen sind oft schlecht erreichbar. Ausgrenzung, mangelndes Verständnis der Umgebung und fehlende Kontaktmöglichkeiten zwischen den oft weit voneinander entfernt lebenden Betroffenen stellen eine psychische Belastung dar und können zu einem Gefühl der Isolation führen. Strukturelle, medizinische und ökonomische Gründe erschweren in einem auf die großen Volkskrankheiten ausgerichteten Gesundheitswesen sowohl die medizinische Versorgung als auch die Forschung zur Verbesserung von Diagnose und Therapie.

Bereits am 25. April 2018 hatte der Deutsche Ethikrat im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung die spezifischen Herausforderungen im Umgang mit seltenen Erkrankungen erörtert (siehe INFO unten) und daraufhin beschlossen, dieses Thema zum Gegenstand einer Ad-hoc-Empfehlung zu machen. In diesem Papier spricht sich der Deutsche Ethikrat dafür aus, die medizinische Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen zu verbessern und ihre Partizipationsmöglichkeiten zu fördern. Es besteht weithin Konsens, dass eine solidarische Gesellschaft allen ihren Mitgliedern eine faire Chance auf adäquate Behandlung im Fall von Krankheit einräumen muss, unabhängig davon, ob es sich um eine häufige oder seltene Erkrankung handelt. Daher fordert der Deutsche Ethikrat eine Reihe von Maßnahmen, die die Bedürfnisse der Betroffenen in der klinischen Forschung und im Gesundheitswesen adäquat berücksichtigen.

Verbesserung der klinischen Versorgung

Die Versorgung in spezialisierten Zentren ist für Patienten mit seltenen Erkrankungen von großer Bedeutung. Aufgrund der geringen Patientenzahlen pro Krankheit kann eine qualitativ hochwertige Versorgung nur in spezialisierten Einrichtungen und durch besonders qualifiziertes Fachpersonal erfolgen. Der Ethikrat empfiehlt daher, zertifizierte Zentren für seltene Erkrankungen bundesweit einzurichten und zu finanzieren. Sie sollen eine multiprofessionelle Versorgung ermöglichen und für die Betroffenen eine Lotsenfunktion im Gesundheitswesen übernehmen. Wegen der geringen Anzahl der Betroffenen muss die klinische Forschung zu seltenen Erkrankungen auch länderübergreifend vernetzt arbeiten. Projekte wie die "Europäischen Referenznetzwerke" (ERN) dienen dazu, die Diagnostik zu standardisieren, Fachwissen auszutauschen und die Qualität der Behandlung zu überwachen. Deutschland ist mit insgesamt 122 Krankenhausabteilungen und Instituten von 42 Trägern an allen 24 Europäischen Referenznetzwerken beteiligt.

Aus- und Fortbildung des medizinischen Personals

Der schlechten Versorgungslage von Menschen mit seltenen Erkrankungen kann durch verbesserte Aus-, Fort-, und Weiterbildung innerhalb der Gesundheitsberufe begegnet werden. Es gilt, Medizinstudierende, Ärztinnen und Ärzte sowie Angehörige anderer Gesundheitsberufe für die spezifischen Probleme in der Diagnostik, Therapie und Prävention seltener Erkrankungen zu sensibilisieren. Zudem brauchen Erkrankte Zugang zu spezifischen und altersgerechten Schulungsprogrammen, die als Teil des therapeutischen Gesamtkonzepts verstanden und als solche von den Kostenträgern der Krankenversorgung finanziert werden sollten.

Intensivierung der Forschung

Überhaupt sollte die Forschung zur Verbesserung von Diagnose, Therapie und Prävention seltener Erkrankungen, auch unter Beteiligung von Erkrankten bei der Entwicklung und gegebenenfalls auch Priorisierung von öffentlich geförderten Forschungsprojekten, gestärkt werden. Am Beispiel der Mukoviszidose zeigt sich eindrücklich, dass sich die Möglichkeiten der Diagnostik, insbesondere im molekularbiologischen Bereich, verbessern lassen. Für einige seltene Erkrankungen können symptomatische oder sogar kausal wirksame Therapien entwickelt werden, die eine erhebliche Steigerung der Lebensqualität sowie Lebenserwartung ermöglichen.

Einbindung von Patientenwissen

Diesbezüglich verfügen Selbsthilfegruppen bzw. Patientenorganisationen von Menschen mit seltenen Erkrankungen über einen reichhaltigen Erfahrungsschatz, der zur Verbesserung von Diagnose, Behandlung und Prävention genutzt werden sollte. Mit Rücksicht auf die besonderen Probleme der Betroffenen spricht sich der Ethikrat dafür aus, das Gesundheitswesen "selbsthilfefreundlich" zu organisieren. Patientenregister sind bei seltenen Erkrankungen besonders wichtig, um noch bessere Evidenz auch nach der Zulassung von neuen Medikamenten zu gewinnen. Sie ermöglichen zudem die Bündelung und effizientere Ausnutzung von lokal vorhandenem Wissen sowie die bessere Vernetzung von Fachkräften und Betroffenen. Nach Ansicht des Ethikrates ist darauf zu achten, dass solche Register einer externen Qualitätssicherung unterliegen und weder von einem einzelnen Arzt noch von einem einzelnen pharmazeutischen Unternehmen geführt werden.

Perspektivisch ist es wichtig, die Vernetzung und Anstrengung lokaler und globaler Bündnisse voranzutreiben. 2010 wurde auf Empfehlung der Europäischen Union ein Nationales Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) gegründet, das bestehende Initiativen bündelt, Informationen sammelt und Betroffene zusammenführt. Die 28 Bündnispartner des NAMSE erarbeiteten bis 2013 einen "Nationalen Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen". Er enthält 52 konkrete Maßnahmen, u.a. in den Handlungsfeldern Versorgung, Forschung, Diagnose und Informationsmanagement, die in den kommenden Jahren kontinuierlich umgesetzt werden sollen. Die Arbeit des NAMSE ist gerade hinsichtlich der Partizipation von Patienten und damit auch der Qualität und Transparenz von Entscheidungen von großer Bedeutung.


INFO
LINKS

Der komplette Wortlaut der Ad-hoc-Empfehlung findet sich unter:
https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/herausforderungen-im-umgang-mit-seltenen-erkrankungen.pdf

Die Präsentationen und weitere Dokumentationen der öffentlichen Veranstaltung "Gar nicht so selten. Herausforderungen im Umgang mit seltenen Erkrankungen" vom 25. April 2018 finden sich unter:
https://www.ethikrat.org/forum-bioethik/gar-nicht-so-selten-herausforderungen-im-umgang-mit-seltenen-erkrankungen/

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Quelle:
Infobrief Nr. 24 - Januar 2019 - 01/19, Seite 4 - 5
Informationen und Nachrichten aus dem Deutschen Ethikrat
Herausgeber: Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates
Sitz: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
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Internet: www.ethikrat.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Februar 2019

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