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ETHIK/1249: Pränataldiagnostik auf dem Prüfstand - eine Streitschrift (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 122 - 2. Quartal 2017
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Pränataldiagnostik auf dem Prüfstand

Von Dr. med. Michael Kiworr, Professor Dr. med. Axel W. Bauer, Professor Dr. med. Paul Cullen


Die bisherigen Erfahrungen mit der Präimplantationsdiagnostik (PID) sowie der nicht-invasiven Pränataldiagnostik (NIPD) zeigen nach Ansicht der Verfasser des nachfolgenden Beitrags, dass das Aussortieren und die gezielte Tötung behinderter Menschen zur »neuen Normalität« zu werden drohen. - Eine Streitschrift.


Einleitung

Die Pränataldiagnostik (PND) als solche ist nicht neu, doch gewinnt die Diskussion um sie in den letzten Monaten erneut an Aktualität und Dynamik. So wird von verschiedener Seite versucht, Indikation und Bedingungen der Präimplantationsdiagnostik (PID) auszuweiten. Darüber hinaus hat überraschenderweise am 18. August 2016 der Gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen (GBA) ein Verfahren zur Bewertung der nicht-invasiven Pränataldiagnostik (NIPD) zur Bestimmung des fetalen Risikos einer Trisomie 13, 18 oder 21 bei Risikoschwangerschaften eingeleitet. Ein positiver Ausgang dieser Prüfung wird letztlich zu einer Übernahme der Kosten für die NIPD durch die gesetzlichen Krankenkassen führen, was wiederum sehr wahrscheinlich eine deutliche Ausweitung dieser Diagnostik nach sich ziehen dürfte.

Bei einer Bewertung der PID knapp ein Jahr nach ihrer Einführung schrieb ein Konsortium aus Lübeck und Hamburg 2015, die PID biete »Paaren mit erblicher Vorbelastung eine weitere Möglichkeit, ihren Kinderwusch zu erfüllen - trotz a priori hohem Risiko für eine genetisch bedingte Entwicklungsstörung beim Kind«. Aus dieser Formulierung wird indessen deutlich, dass es bei der Erfüllung des Kinderwunsches primär um die Erfüllung eines Wunsches nach einem gesunden Kind geht. Denn sowohl nach konventioneller als auch nach den neueren Formen der Pränataldiagnostik ist eine Behandlung nur selten möglich. In den meisten Fällen wird bei auffälligem Testergebnis stattdessen das Kind entweder abgetrieben oder, im Fall der PID, der Embryo nicht implantiert, sondern vernichtet. Somit handelt es sich bei diesen Untersuchungsverfahren um High-Tech-Varianten der klassischen eugenischen Selektion. Die Vorgehensweise ist dabei durchaus verschieden von derjenigen bei den schon bisher eugenisch motivierten Abtreibungen, die nach § 218a Absatz 2 StGB nur deshalb nicht rechtswidrig sind, weil im Rahmen einer ärztlichen Untersuchung die medizinische Indikation gestellt wurde, dass »der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann«. Durch die PID wird dagegen die »embryopathische Indikation«, die der Gesetzgeber 1995 mit Absicht gestrichen hatte, wieder schleichend eingeführt. Somit lebt erneut die Diskussion auf, ob unsere Gesellschaft es akzeptiert, dass es Menschen verschiedener »Güteklassen« gibt und dass wir das Recht haben, die »weniger guten« vor ihrer Geburt auszusortieren.

Manche Experten meinen, die PID sei inzwischen eine weithin akzeptierte Praxis, so Professor Georg Griesinger vom Universitärem Kinderwunschzentrum Lübeck, der im Deutschen Ärzteblatt vom 22. August 2016 mit den Worten zitiert wird, dass »[i]m Kernbereich der ethischen Diskussion (...) die Wogen geglättet [sind], weil wir bereits jetzt Entwarnung geben können«. Mit »Entwarnung« meinte Prof. Griesinger, dass im ersten Jahr der Freigabe bei den eingerichteten länderübergreifenden Ethikkommissionen nur wenige Hundert Anfragen auf eine PID eingegangen seien. Hierbei übersieht Prof. Griesinger jedoch, dass eine ethisch problematische Untersuchung nicht allein deswegen unbedenklich wird, weil sie zu Beginn ihrer Legalisierung seltener angefordert wird, als ursprünglich befürchtet. Aber vielleicht wird seine Logik klarer, wenn man eine weitere Bemerkung von ihm liest, angesichts der medizinisch-technischen Entwicklungen (hiermit ist gemeint die CRISPR/Cas9-Methode der »Genomchirurgie«) werde uns »die aufgeheizte Diskussion, die wir über die PID hatten, in ein paar Jahren reichlich überzogen erscheinen«.

Bezüglich der Bedeutung zukünftiger Technologien teilen wir die Meinung von Prof. Griesinger, doch leiten wir daraus eine gänzlich andere Konsequenz ab. Während für ihn die neuen Technologien die Bedenklichkeit der PID relativieren, zeigen sie für uns auf, wie wichtig es ist, auf die grundsätzliche Bedeutung der PID und NIPD für eine Verschiebung der Koordinaten in der Arzt-Patient-Beziehung nicht nur die Frauenärzte, sondern alle Ärzte gerade jetzt erneut und eindringlich hinzuweisen. Uns ist wohl bewusst, dass wir mit unserer Sicht eine Minderheiten-, vielleicht sogar eine Außenseiterposition in der Gesellschaft und wahrscheinlich auch in der Ärzteschaft vertreten. Doch sind wir uns sicher, dass diese Diskussion nichts an Aktualität verloren hat und von vielen Kolleginnen und Kollegen durchaus begrüßt wird.

Erste Erfahrungen mit der PID

Lange nachdem die PID in anderen europäischen Ländern eingeführt wurde, bestand in Deutschland Einigkeit darüber, dass sie aufgrund des 1990 erlassenen Embryonenschutzgesetzes (ESchG), das eine künstliche Befruchtung zu einem anderen Zweck als einer Schwangerschaft verbietet, nicht gestattet war. Doch im Juli 2010 entschied der Bundesgerichtshof nach der Selbstanzeige eines Frauenarztes aus Berlin, dass die PID zur Entdeckung »schwerer genetischer Schäden« nicht strafbar sei, wenn eine entsprechende genetische Veranlagung der Eltern vorliege. Als Reaktion auf dieses Urteil wurde im Juli 2011 durch eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes (ESchG) die PID zwar grundsätzlich verboten (§ 3a Absatz 1 ESchG), doch jedenfalls dann für nicht rechtswidrig erklärt (§ 3a Absatz 2 ESchG), wenn aufgrund der genetischen Disposition der Frau, von der die Eizelle stammt, oder des Mannes, von dem die Samenzelle stammt, oder von beiden für deren Nachkommen das »hohe Risiko« einer »schwerwiegenden Erbkrankheit« besteht. In diesem Fall handelt nicht rechtswidrig, »wer zur Herbeiführung einer Schwangerschaft (...) Zellen des Embryos in vitro (...) auf die Gefahr dieser Krankheit genetisch untersucht« oder »wer eine Präimplantationsdiagnostik (...) zur Feststellung einer schwerwiegenden Schädigung des Embryos vornimmt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Tot- oder Fehlgeburt führen wird«. Neben einer Aufklärungs- und Beratungspflicht der Frau sieht das Gesetz die Zustimmung einer eigens zu diesem Zweck einzurichtenden Ethikkommission vor. Auf der Grundlage des geänderten Embryonenschutzgesetzes hat die Bundesregierung die Verordnung zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik (Präimplantationsdiagnostikverordnung - PIDV) erlassen, die am 1. Februar 2014 in Kraft trat. Diese Verordnung regelt die Voraussetzungen für die Zulassung von PID-Zentren, für die Einrichtung der PID-Ethikkommissionen, für die zentrale PID-Dokumentationsstelle beim Paul-Ehrlich-Institut sowie für das PID-Meldeverfahren.

Nach dem Erlass der PIDV wurden konkrete Maßnahmen eingeleitet, um die PID in Deutschland zu etablieren. Erste veröffentlichte Erfahrungen mit dieser Technik liegen jetzt vor sowie ein erster Bericht der Bundesregierung. Im Folgenden wollen wir diese Erfahrungen auswerten und versuchen, aktuelle Trends bei der Entwicklung der PID in Deutschland zu identifizieren.

Zwei Gruppen haben über die Aktivitäten in den drei bis dahin zugelassenen PID-Zentren detaillierte Berichte vorgelegt, die sich in Lübeck und Hamburg (erster Bericht) sowie in Freiburg (zweiter Bericht) befinden. Vom 1. Februar 2014 bis zum 30. Juni 2015 wurden an das PID-Zentrum Lübeck 69 Anfragen, an das PID-Zentrum Hamburg 73 Anfragen nach Durchführung einer PID gestellt. Bis Juni 2015 hatten 13 Paare aus Lübeck und 21 aus Hamburg die Zustimmung der Ethikkommission-Nord für PID erhalten. Da bis zu diesem Zeitpunkt keine Ablehnung erfolgte, kann davon ausgegangen werden, dass die weiteren Anträge zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch in Bearbeitung waren. Die häufigste Indikation zur PID war eine balancierte Translokation, entweder beim Partner (Lübeck sechs von 13, Hamburg 18 von 21 Fälle) oder bei der Frau (ein Fall in Lübeck). In den übrigen Fällen wurde die PID durchgeführt, um nach monogenetischen Erkrankungen zu fahnden, die teilweise mit einem zwingend schweren Erscheinungsbild (Meckel-Gruber-Syndrom, AADC-Mangel, Morbus Hurler, Joubert-Syndrom), in anderen Fällen jedoch durchaus unterschiedliche Schweregrade aufweisen können (Mukoviszidose, Typ 1 Neurofibromatose, Muskeldystrophie Duchenne, Incontinentia pigmenti).

Obwohl bei den meisten berichteten Fällen der ursächliche Gendefekt bekannt ist, ist dies bei anderen (Joubert-Syndrom, Meckel-Gruber-Syndrom) nicht immer der Fall, so dass mittels genetischer Testung nicht immer möglich ist, ein Auftreten der Erkrankung beim Nachkommen auszuschließen. Inwiefern die genetische Ursache der beim Embryo zu testenden Krankheit etwa mittels Kopplungsanalyse in den Familien der Eltern vor der PID bestimmt wurde, wird nicht berichtet. Einige der angegebenen Erkrankungen sind mit einer normalen Lebenserwartung vereinbar (Incontinentia pigmenti, Typ 1 Neurofibromatose), andere lassen sich durch rechtzeitige Behandlung durchaus positiv beeinflussen (Mukoviszidose, Morbus Hurler). Im Berichtszeitraum wurden in Hamburg und Lübeck bei 13 Paaren 18 Embryonenübertragungen mit insgesamt 26 Embryonen nach PID durchgeführt. Bei elf Paaren konnte eine Schwangerschaft erreicht werden; bis Ende Juni 2015 wurden vier Kinder geboren. Wie viele Embryonen getestet worden sind, wird nicht berichtet; wurde die »3er-Regel« angewendet, so können wir von mindestens 39 ausgehen.

Im zweiten Bericht wurde anhand von neun Kasuistiken die Erfahrung im PID-Zentrum Freiburg dargestellt. Im Gegensatz zum Bericht aus Hamburg und Lübeck, wo Chromosomenaberrationen dominierten, wird im Bericht aus Freiburg ausschließlich über monogenetische Erkrankungen berichtet. Auch der Duktus der Arbeit ist ein ganz anderer, handelt es sich weniger um eine sachliche Darstellung der Erfahrung in diesem Zentrum, wie der Titel der Arbeit suggeriert, sondern vielmehr um ein Plädoyer dafür, dass die Untersuchung auf Chromosomenaberrationen, sofern diese nicht anhand von pluripotenten Blastomerzellen, sondern von oligopotenten Trophoblastzellen stattfindet, nicht - wie derzeit vom Gesetzgeber gefordert - der vorherigen Genehmigung einer Ethikkommission unterworfen werden sollte. Intellektueller Spiritus Rector dieser Arbeit scheint die Professorin Monika Frommel zu sein, ehemalige Direktorin des Instituts für Sanktionsrecht und Kriminologie an der Universität Kiel, eine Expertin für »Kriminologie aus der feministischen Perspektive« und Mitglied im Beirat der Humanistischen Union. Frau Professorin Frommel war es auch, die im Prozess gegen den Berliner Arzt Dr. Matthias Bloechle nach dessen Selbstanzeige im Jahre 2010 vor dem Bundesgerichtshof eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes und damit die Zulassung der PID in Gang gebracht hat. Im November 2015 erklärte die Expertin, dass Reproduktionsmediziner als »hilflose Opfer des (...) reichlich willkürlichen Berufsrechts« von der Bundesärztekammer »besonders schlecht« behandelt würden, was ihre besondere Unterstützung für diese Gruppe erkläre.

In dem genannten Bericht von Wetzka et al. wurden zwei Fälle aus der Universitäts-Frauenklinik Freiburg, drei Fälle aus der Praxis für Humangenetik Freiburg und vier aus dem Centrum für gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin Freiburg vorgestellt. Hierbei handelte es sich um einen Fall von L2-Hydroxyglutaryl-Azidurie (Eltern Cousin und Cousine 1. Grades), einen Fall von Okihiro-Syndrom, zwei Fälle von myotoner Dystrophie, einen Fall von Zystennieren, einen Fall von tuberöser Sklerose, einen Fall von Morbus Gaucher, einen Fall von Ornithin-Transcarbamylase-Mangel und einen Fall von Beta-Thalassämie. Weitere Paare hätten sich bei den genannten Zentren wegen des Risikos verschiedener anderer monogenetischer Erkrankungen vorgestellt, hätten aber insbesondere »wegen der hohen damit verbundenen Kosten« davon wieder Abstand genommen. Interessanterweise berichten die Autoren auch über sechs Fälle, in denen eine PID vom Zentrum in Freiburg abgelehnt wurde. In einem Fall von Epidermolysis bullosa wurde die Untersuchung abgelehnt, weil die Mutter selbst von der Erkrankung schwer betroffen war, in einem anderen wegen geringer ovarieller Reserven der Mutter. In einem Fall von myotoner Dystrophie des Vaters wurde die PID abgelehnt, weil »keine schwere Erkrankung zu erwarten« war. Dieses Paar hat dann die PID in Belgien durchführen lassen. In einem Fall von spinozerebellärer Ataxie wurde die PID abgelehnt, weil diese Erkrankung bei der Mutter zu schwerwiegend für die künstliche Herbeiführung einer Schwangerschaft war. Schließlich wurde die PID in einem Fall von neuraler Muskelatrophie und in einem Fall von Chorea Huntington abgelehnt, weil diese Erkrankungen erst spät auftreten.

»Die derzeitige Praxis läuft auf Willkür hinaus.«

Nach diesem Bericht aus Süddeutschland scheint wie in Norddeutschland bezüglich der Kriterien zur Durchführung der PID eine große Portion Willkür zu herrschen. Mal wird eine Erkrankung, die mit einer langen Lebenserwartung durchaus kompatibel ist, als Grund für eine PID akzeptiert (Zystennieren), in einem anderen Fall wird eine Erkrankung, die mindestens so schwerwiegend ist, wegen ihres späten Auftretens als Grund für eine PID abgelehnt (Morbus Huntington). Andere Erkrankungen, die als Grund für eine PID akzeptiert wurden, sind inzwischen einer Therapie zugänglich (Morbus Gaucher). Besonders interessant ist auch der Grund für die Durchführung einer PID bei einem Paar, bei dem beide Elternteile heterozygot für eine Beta-Thalassämie waren und das bereits ein Kind mit Thalassämia major hatte. Die Eheleute hatten sich deshalb für die PID entschieden, weil sie einen Schwangerschaftsabbruch nach positiver konventioneller Pränataldiagnostik ablehnten, aber kein weiteres Kind mit schwerer Erkrankung versorgen wollten.

Wie oben erwähnt, liegt aber die wahre Intention des süddeutschen PID-Berichts darin, die Vorbedingungen für die PID im Sinne einer Überprüfung durch eine unabhängige Ethikkommission aufzuweichen. In dieser Hinsicht muss der Bericht zusammen mit einem Rechtsgutachten gelesen werden, das Monika Frommel am 2. Juni 2016 für den Berufsverband Reproduktionsmedizin Bayern erstellt hat, dessen Mitglieder die reproduktionsmedizinischen Zentren im Zuständigkeitsbereich der Ärztekammer Bayern sowie einige an der Reproduktionsmedizin beteiligte Firmen sind. In diesem Gutachten mit dem Titel »Wann müssen genetische Untersuchungen von Embryonen im Blastozystenstadium von einer nach Landesrecht zuständigen Ethik-Kommission genehmigt werden?« kommt Frommel zum Ergebnis, dass die bayerische PID-Verordnung »nur für (...) monogene Erkrankungen und Untersuchungen von Blastomeren« gilt, also nicht für Chromosomenanomalien, die mittels Trophektodermbiopsie untersucht werden.

Für dieses Ergebnis sind zwei Argumente maßgeblich, erstens, dass die meisten Chromosomenanomalien mit einer weiteren embryonalen Entwicklung nicht kompatibel sind, so dass es sich bei einer solchen Untersuchung nicht um Selektion handelt, sondern überhaupt um die Ermöglichung einer Schwangerschaft, und zweitens, dass Trophektodermzellen nicht pluripotent und deshalb keine embryonalen Zellen im Sinne der PID-Verordnung und des Embryonenschutzgesetzes sind. Diese Position hat auch der Berufsverband Reproduktionsmedizin Bayern am 20. März 2016 in einem von Monika Bals-Pratsch verfassten Positionspapier vertreten. Der Berufsverband behauptet, die Kontrolle der Chromosomen (»Euploidie-Kontrolle«) sei keine Präimplantationsdiagnostik, und berichtet ferner, dass diese »Neubewertung des [Embryonenschutzgesetzes] (...) seit einigen Jahren bei der Beurteilung der Entwicklungsfähigkeit von Embryonen als sogenannter Deutscher Mittelweg (DMW) von immer mehr reproduktionsmedizinischen Zentren in Deutschland praktiziert [wird]«. Über diesen »Mittelweg« wird auch das in § 1 Satz 1 Absatz 5 des Embryonenschutzgesetzes formulierte Verbot einer Kultivierung von mehr als drei Eizellen umgangen, welches das Ziel hat, die Erzeugung von Embryonen »auf Vorrat« zu vermeiden. Laut dem Positionspapier ist nämlich »jeweils eine individuelle ärztliche Entscheidung über die Anzahl der in die Zellkultur zu gebenden befruchteten Eizellen notwendig«. Diese Anzahl »richtet sich nach dem (...) Alter der Patientin, Anzahl der bisherigen fehlgeschlagenen Vorbehandlungen und Qualität von Eizellen und Spermien. Nur so kann sichergestellt werden, dass der Embryotransfer auch mit der seitens der Patientin gewünschten Anzahl entwicklungsfähiger Embryonen durchgeführt werden kann.« Erstaunlicherweise kommt Bals-Pratsch zu dem Schluss, dass »bei dieser Vorgehensweise die planmäßige Entwicklung einer Überzahl von Embryonen ausgeschlossen [ist]«. »Denn dies«, so Bals-Pratsch, »wäre mit dem Embryonenschutzgesetz nicht vereinbar.«

»Die Bundesregierung hat sich zu dieser Frage eindeutig geäußert.«

Die Bundesregierung hat sich zu dieser Frage eindeutig geäußert. Sie vertritt die Auffassung, dass auch die PID an durch Trophektodermbiopsie gewonnenen Zellen dem Anwendungsbereich des § 3a EschG unterfällt, da die Methode, mit der embryonale Zellen zur Durchführung einer PID gewonnen werden, für die Frage der Anwendbarkeit des EschG unerheblich ist. Allerdings bemerkt die Bundesregierung, dass im Rahmen von anhängigen Verfahren eine endgültige verwaltungsgerichtliche Klärung dieser Frage zu erwarten ist.

Keinesfalls können wir die oben bereits zitierte, von Prof. Griesinger vertretene Meinung teilen, dass im Kernbereich der ethischen Diskussion »die Wogen geglättet [seien], weil wir bereits jetzt Entwarnung geben können«. Viel mehr ist vieles von dem, wovon Kritiker im Vorfeld der PID-Zulassung gewarnt hatten, bereits eingetreten.

1. Willkür der Entscheidungen führt zum »Sperrklinkeneffekt« bei der PID-Zulassung

Wie Heike Korzilius im Deutschen Ärzteblatt berichtete, muss nach der PID-Verordnung jedes PID-Zentrum Anzahl, Methode und Indikation (Chromosomenstörung, autosomal-dominante, autosomal-rezessive, geschlechtsgebundene erbliche Erkrankung) der Untersuchungen an das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) melden. Auf die Meldung der spezifischen Diagnose wurde aber bewusst verzichtet, betonte das Bundesgesundheitsministerium auf Anfrage von Frau Korzilius, um der Entstehung einer Indikationsliste vorzubeugen, wie sie beispielsweise im Vereinigten Königreich existiert. Obwohl alle Akteure, einschließlich der Bundesregierung, sich dessen rühmen, dass sich die im Vorfeld geäußerten Befürchtungen nicht bewahrheitet hätten, da weder die Zahlen der PID-Zentren noch die der Ethik-Kommissionen »ausgeufert« seien, läuft die derzeitige Praxis doch auf Willkür hinaus. Wie wir oben gesehen haben, werden Fälle zugelassen, in denen der Gendefekt nicht immer bekannt ist, wo der Betroffene durchaus eine nahezu normale Lebenserwartung haben kann oder die Ausprägung variabel ist oder wo Behandlungen existieren, während andere ähnlich schwerwiegende Fälle aus denselben Gründen abgelehnt werden. Die Bundesregierung mag »begrüßen«, dass »die Einrichtung gemeinsamer Ethikkommissionen (...) sowie der Erfahrungsaustausch der Ethikkommissionen (...) zur Herbeiführung möglichst einheitlicher Entscheidungen« führen wird, doch sehen wir hier vielmehr eine Zementierung der Willkür, die nahezu unvermeidlich zu einer Ausweitung der Indikationen führen wird. Denn jede PID-Zulassung erzeugt einen Präzedenzfall, hinter den man faktisch nicht mehr zurückfallen kann. Da nicht nur die vorliegende genetische Störung, sondern auch die Situation der Eltern in die Entscheidung einbezogen wird, werden immer wieder Härtefälle vorkommen, wo ein sonst »zumutbares« Kind gerade diesem Elternpaar nicht zugemutet werden kann. So entsteht ein »Sperrklinkeneffekt«, der nach und nach zur faktischen Freigabe der PID führen muss. Bereits heute ist dieser Effekt in Ansätzen sichtbar. Was man Familie Hansen in Flensburg gewährt, wird man Familie Brunner in Passau schließlich nicht verwehren können.

2. PID führt zu einer weiteren Aushöhlung des Embryonenschutzgesetzes

Aus dem Bericht der PID-Zentren in Süddeutschland, dem Rechtsgutachten von Prof. Frommel sowie dem Positionspapier des Berufsverbands Reproduktionsmedizin Bayern geht ein Impuls hervor, der eine deutliche Aushöhlung sowohl der PID-Verordnung als auch des Embryonenschutzgesetzes bedeutet. Hier wird über den Umweg der Trophektodermbiopsie zur Kontrolle des Chromosomensatzes versucht, einen Teilaspekt aus der allgemeinen PID-Diagnostik herauszulösen und somit faktisch ohne Überwachung freizugeben. Dass hierdurch menschliche Embryonen in großer Zahl erzeugt und dann zerstört werden, wird mit dem lapidaren Hinweis rationalisiert, dass diese sowieso nicht überlebensfähig wären. Zynischer geht es kaum, denn entweder genießen alle Menschen auch im frühesten Stand der Entwicklung den vollen Schutz des Grundgesetzes, oder dieser Schutz wird in letzter Konsequenz für alle in Frage gestellt. Der sogenannte »Wertungswiderspruch« zu den allgemeinen Regelungen über den Schwangerschaftsabbruch existiert zudem nicht, denn ein Schwangerschaftsabbruch ist nach wie vor grundsätzlich strafbar und lediglich insbesondere unter der Bedingung nicht rechtswidrig, dass die Fortführung der Schwangerschaft das Wohlergehen der Mutter deutlich beeinträchtigen würde. Bei der PID liegt aber noch gar keine Schwangerschaft vor, sondern es wird das vermeintliche Recht auf das Gebären eines gesunden Kindes über das Recht auf Leben eines, wenn auch sich im frühesten Stadium befindlichen anderen Menschen gestellt.

3. Der Druck zur Übernahme der Kosten für die PID steigt, wodurch die PID zur Regelleistung wird

Mehrere Autoren fördern eine Kostenübernahme für die PID durch die gesetzlichen Krankenkassen. Hier werden im Wesentlichen zwei Argumente ins Feld geführt. Erstens wird auf die soziale Gerechtigkeit hingewiesen, also auf die Tatsache, dass manchen Paaren mit genetischer Vorbelastung der Weg zur PID aus finanziellen Gründen versperrt würde. Zweitens wird darauf hingewiesen, dass bei Paaren, die wegen eines unerfüllten Kinderwunsches auf reproduktionsmedizinische Maßnahmen zurückgreifen, die Kosten von den Krankenkassen anteilig bis vollständig übernommen werden, und es wird die Frage aufgeworfen, weshalb diese Kostenübernahme für Paare, die nicht aus reproduktionsmedizinischen, sondern aus familienanamnestischen Gründen auf die »assistierte Reproduktion« zurückgreifen, nicht möglich sein soll. Die Antwort liegt aber bereits in der Frage. Bei der PID geht es gerade nicht um »assistierte Reproduktion«. Das Problem liegt nicht darin, dass die Paare keine Kinder bekommen können, sondern darin, dass sie nur - vermeintlich - gesunde Kinder bekommen wollen. Das Wesen der PID besteht einzig und allein in der Selektion, also in der Einteilung von Menschen in verschiedene Güteklassen.

4. Die PID fördert den eugenischen Gedanken und eine reine ökonomische Betrachtung des Menschen

Bereits 1978 führten Eberhard Passarge, damals Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik, und Hugo W. Rüdiger, damals Leiter der Klinik für Arbeitsmedizin am AKH Wien, eine Kosten-Nutzen-Analyse zur Prävention des Down-Syndroms durch und kamen zu dem Schluss, dass durch konventionelle Pränataldiagnostik »bei allen Müttern ab 38 Jahren (...) in der gesamten Bundesrepublik Deutschland die Kosten einer Untersuchung nur etwa ein Viertel der erforderlichen Aufwendungen zur Pflege der Kinder mit Trisomie 21 betragen. In den absoluten Zahlen ständen den Aufwendungen für die Pflege der Kinder von jährlich rund 61,6 Millionen die Aufwendungen für ihre Prävention in Höhe von rund 13,5 Millionen gegenüber.«

Seitdem wird dieses Argument selten offen ins Feld geführt. Dass dieses Schweigen eher mit taktischen Gründen als mit einem echten Sinneswandel zu tun hat, zeigt der PID-Bericht von Wetzka et al. In diesem Bericht schreibt Frau Wetzka, dass in »aktuelle[n] Studien, die die Kosten einer PID den Kosten für die Betreuung eines an Mukoviszidose erkrankten Kindes gegenüber gestellt haben, (...) sich ein deutlicher Vorteil für die PID ergab«. Als Quelle für diese Aussage zitiert Frau Wetzka ironischerweise ein Buch, dass durchaus die ethischen und moralischen Probleme der Pränataldiagnostik und PID anerkennt und ausspricht. Hier sehen wir eine Pervertierung der Medizin, die das unbedingte Lebensrecht und die Würde eines jeden Menschen offen ausgesprochenen Kosten-Nutzen-Analysen unterwerfen möchte.

5. Verfahren des Gemeinsamen Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen zur Bewertung der nicht-invasiven Pränataldiagnostik (NIPD)

Wie eingangs erwähnt, hat der Gemeinsame Bundesausschuss im August 2016 überraschend ein Verfahren zur Bewertung der NIPD eingeleitet, das bei positivem Ausgang zur Übernahme der Kosten des Verfahrens durch die gesetzlichen Krankenkassen führen wird. Diese Vorgehensweise erstaunt, denn üblicherweise erfolgt vor solchen Verfahren eine lange Vorbereitungsphase, in der eine breite Diskussion mit allen beteiligten Akteuren - Ärzteschaft, Krankenkassen, Gesundheitsministerium und Bevölkerung - stattfindet. Flankiert wird diese Entscheidung von einem erbarmungslosen Preiskampf zwischen den Test-Anbietern, der den Preis für das »Gesamt-Paket« (Untersuchung auf Trisomien der Chromosomen 13 (Pätau-Syndrom), 18 (Edward-Syndrom) und 21 (Down-Syndrom) sowie Bestimmung der Geschlechtschromosomen XX (weiblich), XY (männlich), X0 (Turner-Syndrom), XXY (Klinefelter-Syndrom)) bereits heute in die Nähe von nur noch 200 Euro gedrückt hat, mit weiter fallender Tendenz.

Eine Übernahme der Kosten dieses Tests durch die Krankenkasse wird mit ziemlicher Sicherheit eine deutliche Ausweitung dieser Diagnostik nach sich ziehen. Eine solche Ausweitung dürfte im Sinne der Test-Hersteller sein, wie auch Aktivitäten belegen, die Indikation für die NIPD auszuweiten, indem immer jüngere Frauen angesprochen werden. Mit dieser Vorgehensweise wird übrigens eines der Hauptverkaufsargumente der Testbefürworter entkräftet, denn obwohl alle Testverfahren über eine hohe diagnostische Sensitivität und Spezifität verfügen, führt, wie auch der Deutsche Ethikrat moniert hat, ihr Einsatz bei jungen Frauen aufgrund der niedrigen Prävalenz von Chromosomenanomalien bei Schwangerschaften in dieser Altersgruppe zu einer falsch-positiv Rate von bis zu 60 Prozent. Bisher haben die Hersteller nämlich argumentiert, dass der Vorteil der nicht-invasiven Testung gerade darin bestehe, durch Vermeidung der gefährlicheren invasiven Pränataldiagnostik (die Amniozentese, die in ca. einem von 1.000 Fällen zum Verlust des Kindes führt) die Anzahl der Fehlgeburten zu verringern. So wurde die NIPD bisher zu einer lebensrettenden Maßnahme hochstilisiert.

Laut § 12 SGB V erhält das Mitglied einer Krankenkasse eine Behandlung, die wirtschaftlich, ausreichend, notwendig und zweckmäßig sein muss. Bei den Überlegungen zur Übernahme der Kosten der NIPD scheint die erste Bedingung eine führende Rolle zu spielen. Die Erfüllung von mindestens zwei der drei weiteren Bedingungen ist jedoch mehr als zweifelhaft. Denn Zweck dieser Diagnostik, wie übrigens auch der konventionellen Pränataldiagnostik, ist es nicht, eine Behinderung zu behandeln oder zu lindern, sondern den Träger dieser Behinderung ohne seine Zustimmung zu eliminieren. Diese Art der Selektion als »notwendig und zweckmäßig« zu bezeichnen, grenzt an Zynismus.

Die Aufnahme der NIPD in den Leistungskatalog der Krankenkassen würde einen weiteren Effekt nach sich ziehen. Aufgrund der vier oben genannten Kriterien und der meist ausführlichen Prüfung, die einer Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung vorausgeht, herrscht in der Bevölkerung nicht zu Unrecht die Meinung, dass die Leistungen der gesetzlichen Krankenkasse ein Gütesiegel tragen, nicht nur in Bezug auf ihre medizinische Qualität, sondern auch in Bezug auf ihren moralischen Wert. Diese Haltung kann man in der Frage zusammenfassen: »Was kann daran schlimm sein, wenn die Kasse dafür zahlt?« Nicht zuletzt deshalb genießen individuelle Gesundheitsleistungen, die nicht das »Kassen-Gütesiegel« tragen, oft einen zweifelhaften Ruf. So würde die Kostenübernahme der nicht-invasiven Pränataldiagnostik, einer reinen Selektionsmethode, zu einer Verfestigung neo-eugenischen Gedankenguts in Bevölkerung und Ärzteschaft beitragen. Ein direkter Widerspruch zu den vielen löblichen Bemühungen um »Teilhabe« und »Inklusion« von Behinderten ist nicht zu leugnen. Über die Folgen einer solchen kognitiven Dissonanz für die mentale und moralische Hygiene einer Gesellschaft zu spekulieren, würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, sollte aber nicht unerwähnt bleiben.

Schlussfolgerung

Entgegen der allgemeinen Meinung in Öffentlichkeit und Ärzteschaft ist die Diskussion um die vorgeburtliche Diagnostik durch die neuen Techniken nicht zur Ruhe gekommen. Im Gegenteil lassen sich durch die Entwicklung gerade der letzten zwei Jahre vier Trends erkennen, die uns allesamt beunruhigen müssten: 1. Lockerung der ethischen Standards; 2. Ausweitung der Indikation mit willkürlicher Entscheidungsgrundlage; 3. drastischer und fortschreitender Preisverfall; 4. »Normalisierung« der Untersuchungsverfahren durch Übernahme in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkasse. Die Gesamtauswirkung dieser Trends wird sein, das Ausselektieren und gezielte vorgeburtliche Tötung behinderter Menschen zur »neuen Normalität« zu erklären. Wie man die erhöhte gesellschaftliche Sensibilisierung für die Bedürfnisse behinderter Menschen mit diesem starken neo-eugenischen Impuls vereinbaren kann, müssen andere klären. Dass dieser Impuls jedoch zumindest im diametralen Widerspruch zur Hippokratischen Tradition steht, kann nicht bezweifelt werden.


Quellennachweise und Literatur sind auf Wunsch bei der Redaktion erhältlich.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- »Next big thing«: die Genomchirurgie mittels der neuartigen CRISPR/Cas9-Methode
- Die Anbieter nicht-invasiver Gentests liefern sich einen erbarmungslosen Preiskampf
- Mädchen mit Down-Syndrom: Nach solchen Menschen fahnden Gentests
- Chromosomenanalyse: Selektion steht im Widerspruch zum Inklusionsgedanken

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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 122, 2. Quartal 2017, S. 4 - 9
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. September 2017

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