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ETHIK/1184: Suizidprävention im Alter (AGORA - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


AGORA - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 1 - 2015

Suizidprävention im Alter

Von Arno Drinkmann


Etwa 10.000 Menschen nehmen sich in Deutschland pro Jahr das Leben. Dabei steigt die Suizidrate vor allem unter der Last des Alters. In einem Memorandum fordern Experten nun, die Suizidgefährdung alter Menschen als gesundheits- und versorgungspolitische Aufgabe anzugehen.


Unter dem Stichwort "assistierter Suizid" wird derzeit parallel zu den Beratungen im Deutschen Bundestag auch in der Gesellschaft eine lebhafte Diskussion geführt zur Frage der Rechtmäßigkeit von Suizidbeihilfe bei schwerstkranken und/oder hochbetagten Menschen, die nicht mehr weiterleben wollen. Andere europäische Länder haben hierzu teils freizügige gesetzliche Regelungen geschaffen, die sowohl Ärzten wie auch Sterbehilfeorganisationen die Beihilfe beim Suizid unter bestimmten Bedingungen erlauben. In Deutschland ist diese Form der Beihilfe bislang nicht gesetzlich geregelt und somit grundsätzlich auch nicht strafbar. Es liegt dazu jedoch ein entsprechender Gesetzentwurf der Bundesregierung ("Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit der gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung") vor, über den bis Herbst 2015 entschieden werden soll. Parteiübergreifend haben Gruppen von Abgeordneten Alternativen dazu formuliert. Danach könnte etwa Sterbehilfe zukünftig nur noch Ärzten erlaubt, (gewerbsmäßig) organisierte Sterbehilfe jedoch verboten sein.

Der Deutsche Ethikrat hat sich im Dezember 2014 in einer Adhoc-Empfehlung gegen ein Verbot der Suizidbeihilfe und eine entsprechende Änderung des Strafrechts ausgesprochen: "Die geltende Gesetzeslage, wonach weder ein Suizid noch eine Beihilfe zu einem im rechtlichen Sinne frei verantwortlichen Suizid strafbar sind, steht im Einklang mit den Prinzipien eines freiheitlichen Verfassungsstaates" (S. 3). Allerdings betont der Ethikrat in seiner Empfehlung auch die Notwendigkeit des Ausbaus einer umfassenden Palliativ- und Hospizversorgung sowie "... die Notwendigkeit, Suizidprävention im Sinne des Nationalen Suizidpräventionsprogramms zu stärken ..." (S. 4). Im Februar 2015 hat nun die Arbeitsgruppe "Alte Menschen" eben dieses Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland (NaSPro) zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) ein Memorandum unter dem Titel "Wenn alte Menschen nicht mehr leben wollen. Situation und Perspektiven der Suizidprävention im Alter" veröffentlicht. Zentrales Anliegen ist der Hinweis, auch bei Anerkennung eines generellen Selbstbestimmungsrechts von Menschen die Möglichkeiten der Suizidprävention nicht zu vernachlässigen. Vielmehr müssen bei erkennbarer Suizidgefährdung von Menschen präventive und therapeutische Bemühungen den Vorrang vor jeglicher Form der Suizidbeihilfe haben.

Rund 10.000 Menschen nehmen sich in Deutschland pro Jahr das Leben. Die Zahl der Suizide ist hier wie in vielen anderen Ländern altersabhängig, d.h. die Suizidrate steigt mit zunehmendem Alter deutlich an. Alte Menschen gehören damit zu den Hochrisikogruppen für Suizide. Alterstypische gesundheitliche Belastungen und soziale Probleme lassen für nicht wenige Personen im hohen Alter das Leben so sehr zur Last werden, dass sie nicht mehr weiter leben wollen. Vordringliche Aufgabe der Krisenhilfe und Suizidprävention ist daher, sowohl auf individueller wie auf Systemebene für Entlastung zu sorgen. Das kann im Einzelfall eine fachgerechte Linderung von Schmerzen, eine gute palliativmedizinische Versorgung oder auch die Befreiung aus sozialer Isolation und wirtschaftlicher Not bedeuten.

Aus der Suizidforschung gibt es eine Fülle von Erkenntnissen über Risiko- und Schutzfaktoren für Suizidalität. Eine besondere Rolle spielen psychische Störungen und unter ihnen vor allem Depressionen, Sucht- und Persönlichkeitsstörungen. Sie sind für über 90% aller Suizide (mit-)verantwortlich. Im höheren Alter haben körperliche Erkrankungen eine zusätzliche Bedeutung als Risikofaktor. Bei den Lebensbedingungen stellt generell gesagt die soziale Integration eine zentrale Größe dar. Unverheiratete, Migranten, Menschen mit familiären oder finanziellen Problemen, einsame und sozial isolierte Menschen tragen ein erhöhtes Risiko für Suizid. Bei den Schutzfaktoren lassen sich interne und externe unterscheiden. Allgemein gute Bewältigungsfähigkeiten, Frustrationstoleranz, Optimismus sowie eine positive Einstellung zu Religion und Transzendenz etwa gelten als innere Schutzfaktoren. Bei den externen ist soziale Unterstützung zentral, sei es in Form enger und stabiler familiärer Bindungen oder Beziehung zu einem Partner, oder sei es durch ein persönliches Netzwerk mit angemessenen Aufgaben und Herausforderungen.

Bei den verschiedenen Formen und Methoden der Suizidprävention werden (z. B. von der WHO) folgende Handlungsstrategien unterschieden:

• Strategien auf allgemein gesellschaftlichem Level. Dazu gehören z. B. die Reduktion von Suizidmethoden, die Bekämpfung von Alkohol- und Suchtmittelmissbrauch, die Verbesserung der Lebensbedingungen, z. B. im Heim, gesundheitliche Aufklärung und die sachgerechte Medienberichterstattung über Suizide.

• Strategien, die sich auf besondere Risikogruppen für Suizidgefährdung in der Gesellschaft richten. Genannt werden z. B. die Schulung von Ärzten, das "Gatekeeper" (z. B. Polizisten, Sozialarbeiter, Briefträger) Training, die Einrichtung kommunaler Krisenberatungszentren, einschließlich zugehender Angebote, und die Hilfen für Angehörige nach Suiziden.

• Strategien auf einem individuellen Level. Hier geht es vor allem um Erkennen und Behandeln psychischer Erkrankungen, die Nachsorge von Personen nach Suizidversuch und die Begleitung und Behandlung von Personen mit suizidalen Risikoanzeichen.


In einer eigenen Studie (Drinkmann & Würfflein, 2014) zeigte die Analyse der Einschätzungen von (Praxis-)Experten, dass das deutsche Versorgungssystem für Suizidprävention im Alter auf allen Ebenen der Spezialisierung kritische Defizite aufweist. Sie reichen vom Fehlen spezialisierter Einrichtungen der Krisenintervention für suizidale alte Menschen und mangelnder Erreichbarkeit allgemeiner Krisendienste für diesen Personenkreis über zu geringe diagnostische Kompetenzen und chronischen Zeitmangel auf der Ebene der Hausärzte als mittelgradig spezialisierter Institution bis hin zu einschlägigen Wissensdefiziten und ungenügender Vernetzung in der Altenpflege und bei subprofessionellen Diensten.

Ein wichtiges Anliegen im Sinne von generalpräventiven Maßnahmen muss darum der Ausbau und die qualitative Verbesserung des Versorgungssystems für suizidale alte Menschen sein. Die Perspektiven der Suizidprävention werden dabei auch von einer Reihe von gesellschaftlichen Trends geprägt. Zu bedenken sind etwa der demographisch bedingte Anstieg der Lebenserwartung mit der gleichzeitigen Zunahme von hochbetagten Menschen oder langfristige Änderungen unserer Lebensbedingungen. Zwar bietet sich gesunden, sozial integrierten und wohlhabenden Senioren einerseits eine Fülle neuer Chancen, Menschen mit entsprechenden Einschränkungen im Alter fehlt andererseits oft der früher selbstverständlichere familiäre Rückhalt und sie müssen vielfach damit rechnen, ihr Alter unter für sie schwer erträglichen Lebensbedingungen zu fristen. Den vielfältigen Verbesserungen der medizinischen Versorgung mit entsprechenden Konsequenzen für die Lebensqualität im Alter steht eine fast paradox erscheinende Unterentwicklung bei der Früherkennung suizidaler Gefährdung und entsprechenden psychosozialen Handlungskompetenzen der Akteure im Gesundheitssystem gegenüber.

Die Verfasser des Memorandums fassen den Handlungsbedarf abschließend in Form von acht Empfehlungen zusammen:

• Die erhöhte Suizidgefährdung alter Menschen muss stärker als bisher als ein gesundheits- und versorgungspolitisches Problem wahrgenommen und behandelt werden.

• Die meisten Menschen durchleben ihr Altwerden mit Hilfe innerer Anpassungskräfte und äußerer Hilfe. Dennoch dürfen diejenigen nicht übersehen werden, die unter ihrem Alter so stark leiden, dass sie nicht mehr leben wollen. Sie zu erreichen, ihre Not zu erkennen und Entlastung zu schaffen, ist Ziel und Aufgabe der Suizidprävention.

• Enttabuisierung des Suizids, Betonung des Selbstbestimmungsrechts und Hilfen zum Sterben sind gesellschaftlich zeitgemäße Anliegen. Dennoch darf der Alterssuizid nicht als "sozial verträglich" toleriert und die Suizidprävention bei Älteren nicht vernachlässigt werden.

• Bei jeder erkennbaren Suizidgefährdung bei alten Menschen müssen präventive und therapeutische Bemühungen den Vorrang vor jeglicher Form der Suizidbeihilfe haben.

• Eine wichtige Aufgabe besteht darin, für alte Menschen in Krisen offen zu sein und ihnen mit einem breiten, leicht erreichbaren Angebot von Fachdiensten und Einrichtungen zur Seite zu stehen.

• Suizidprävention im Alter hat die Versorgungskomplexität ins Kalkül zu ziehen, der alte Menschen ausgesetzt sind. Es muss untersucht werden, welche Formen von Suizidalität in einzelnen Versorgungseinrichtungen (z.B. in stationären Einrichtungen) vorkommen und wie ihnen präventiv begegnet werden kann.

• Es ist dringend geboten, Forschungsprogramme zu entwickeln, um die Versorgungslage und Vorbeugung suizidaler Gefährdung alter Menschen genauer zu untersuchen und zu verbessern.

• Die Wahrnehmung der grundsätzlichen Begrenztheit der eigenen Lebenszeit ist eine Aufgabe, die jeder Mensch sich vergegenwärtigen und die als eine Leitlinie soziales Handeln auf allen gesellschaftlichen Ebenen mitbeeinflussen sollte.

Gedruckte Exemplare des Memorandums sind beim
Verfasser erhältlich. Als pdf-Dokument ist es unter
http://edoc.ku-eichstaett.de/15206/ zugänglich.


AUTOR
Prof. Dr. Arno Drinkmann an der KU seit 2010 Inhaber der Professur für Psychologie an der Fakultät für Soziale Arbeit und Mitglied der AG "Alte Menschen" im Nationalen Suizidpräventionsprogramm für Deutschland.

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Quelle:
AGORA - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
31. Jahrgang / Ausgabe 1 - 2015, Seite 22-23
Herausgeberin: Die Präsidentin der Katholischen Universität
Redaktion: Presse- und Öffentlichkeitsreferat der KU, 85071 Eichstätt
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juni 2015

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