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DIAGNOSTIK/593: Genomsequenzierung - Entwicklungsland Deutschland (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 1/2019

Genomsequenzierung
Entwicklungsland Deutschland

von Uwe Groenewold


Experten beklagen, dass Deutschland bei der Genomsequenzierung den Anschluss verliert. Thema bei der Wissenwerten in Bremen.


Die Sequenzierung des menschlichen Erbgutes bedeutet vor allem für Krebspatienten und Menschen mit seltenen Gendefekten eine große Chance. International laufen derzeit große Anstrengungen, die Technik für Diagnose und Therapie intensiv nutzbar zu machen. Deutschland, das haben Experten kürzlich bei einer Veranstaltung in Bremen beklagt, kommt bei dieser Entwicklung aktuell nicht mit. Sie fordern die Politik zum raschen Handeln auf.

Mit Einführung der Hochdurchsatz-DNA-Sequenzierung (HDS) ist es bedeutend einfacher geworden, menschliche Gene zu entziffern. Eine vollständige Genomsequenzierung ("Whole Genome Sequencing", WGS) ist dank der modernen Hightech-Analyseverfahren innerhalb von 24 Stunden möglich und kostet noch rund 1.000 Euro - nur ein Bruchteil der Zeit und des Geldes, die noch vor wenigen Jahren auf die Untersuchung genetischer Erkrankungen verwendet werden mussten. "Für die Aufklärung der molekularen Ursachen genetisch bedingter Krankheiten bedeutet die Einführung der HDS eine Revolution", sagte Prof. Hans-Ulrich Ropers, emeritierter Direktor des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik in Berlin, bei der Veranstaltung "Wissenswerte" Ende November in Bremen.

Dem neuen Verfahren sei es zu verdanken, dass heute krankheitsverursachende Mutationen in über 4.000 der rund 20.000 proteinkodierenden menschlichen Gene bekannt sind und jedes Jahr etwa 200 weitere genetische Krankheitsursachen identifiziert werden. Vor allem für die seltenen Krankheiten, von denen rund vier Prozent der Bevölkerung betroffen seien, habe die WGS große Bedeutung, seien doch in vielen Fällen einzelne Gendefekte für die jeweilige Erkrankung verantwortlich. Neuen Studien zufolge könne mithilfe der WGS bei etwa der Hälfte aller Patienten mit einer seltenen Erkrankung die kausale Genmutation identifiziert werden. Ropers: "Der Fortschritt ist spektakulär!"

Prof. Jeanette Erdmann, Direktorin des Instituts für Kardiogenetik an der Universität Lübeck, berichtete von ihren persönlichen Erfahrungen. Sie leidet seit Geburt unter einer seltenen Muskelerkrankung, die 45 Jahre ohne Diagnose geblieben ist und eine Odyssee von Arzt zu Arzt beinhaltete. Vor einigen Jahren habe sie dann eine eigenfinanzierte Gensequenzierung vornehmen lassen und die zugrunde liegende Mutation gefunden. "Das hat für mich viel verändert. Deswegen kann ich auch nur unterstützen, dass Eltern, die ein Kind mit einer Auffälligkeit haben, eine Diagnose wollen. Für sie ist eine Gensequenzierung sicherlich ein probates Mittel."

Die Wirklichkeit, so Prof. Ropers, sieht jedoch anders aus. Krankenkassen würden die Genomsequenzierung gar nicht und den Ableger, die weniger aufwendige Exom-Sequenzierung, nur in seltenen Ausnahmefällen bezahlen. "Wenn man ein Instrument hat, das 1.000 Euro kostet und mit dem man bei 50 Prozent aller Betroffenen eine Diagnose stellen kann, dann kann man das nicht der Öffentlichkeit vorenthalten." In anderen Ländern werde anders verfahren, so Ropers. Vorreiter sei England, dessen Regierung 2012 das "Genomics England Project" mit dem Ziel initiiert habe, 100.000 Genome vor allem von Patienten mit seltenen Erkrankungen und mit Krebs vollständig zu sequenzieren. Aufgrund des erfolgreichen Verlaufs des Programms habe England die WGS zum 1. Oktober 2018 im Rahmen der genetischen Routinediagnostik landesweit eingeführt. Frankreich, die USA und China hätten ebenfalls umfangreiche Programme aufgelegt. Auch die "European Alliance for Personalized Medicine" (EAPM) will laut Beschluss von April 2018 in einem Verbund aus 13 Ländern bis 2022 mindestens eine Million Genome sequenzieren - allerdings ohne Beteiligung Deutschlands, "das damit hinter nahezu alle west- und mitteleuropäischen Staaten zurückgefallen ist", so Ropers.

In Deutschland seien bislang maximal 20.000 Exome und erst 3.000 bis 5.000 Genome sequenziert worden, erklärte Prof. Olaf Ries, Direktor des Instituts für Medizinische Genomik und angewandte Genomik der Uniklinik Tübingen. "Damit sind wir ein Entwicklungsland!" In Deutschland werde Genom-Medizin an den universitären Einrichtungen betrieben; allerdings nur für einen kleinen Teil der Patienten. Universitäten seien selbstverständlich auch Teil der Krankenversorgung, aber ein Großteil von dem, was in den Universitäten passiere, sei momentan noch Forschung, so Riess. "Wir brauchen große Mengen an Forschungsdaten, auf die wir zurückgreifen können. Wir müssen wissen, warum ein Tumorpatient sich mit einem Medikament gut behandeln lässt und der andere nicht. Wenn wir das nur etwa bei uns in Tübingen analysieren, dann bekommen wir vielleicht 1.000 Datensätze. Wir brauchen aber 100.000 oder noch mehr Datensätze, um relevante Schlüsse daraus ziehen zu können." Eine größere Infrastruktur und eine bessere Vernetzung seien deshalb unbedingt notwendig. Wenn nur ein Bruchteil der rund 250.000 Krebstodesfälle pro Jahr in Deutschland vermieden werden könne, rechtfertige dies jede Investition, so Riess.

Ins gleiche Horn blies die Lübecker Expertin Jeanette Erdmann: "Wir blicken fast schon neidisch auf die Kollegen in den USA und in Großbritannien; so große Datensätze haben wir in Deutschland nicht zur Verfügung. Auch deswegen kam es mir schon ein bisschen wie ein Offenbarungseid vor, dass Deutschland sich nicht an dem europäischen Eine-Million-Genom-Projekt beteiligt. Warum sind wir nicht dabei? Brutal könnte man sagen, es ist das Unvermögen der Politiker zu begreifen, worum es hier geht."

Erdmann und ihre Kollegen auf dem Podium beklagten insbesondere, dass das vom BMBF mit über 600 Millionen Euro geförderte Nationale Genomforschungsnetz (NGFM) 2013 nach zwölf Jahren ersatzlos ausgelaufen ist und die Genomforschung in Deutschland seitdem ein geradezu stiefmütterliches Dasein fristet. Im Deutschen Zentrum für Herzkreislauf-Forschung (DZHK) habe man die Sequenzierung von 1.200 Genomen "mit sehr viel Mühe" finanziert, erläuterte Erdmann. Ziel sei es, eine erste Referenzdatenbank für die deutsche Population öffentlich zu machen. "Das hat uns neben dem Geld sehr viel Anstrengung gekostet. Was haben wir gelernt? Dass schon die Handhabung der großen Datensätze schwierig ist. Denn dazu braucht man Erfahrung, und die gibt es in Deutschland noch nicht."

Prof. Michael Krawczak, Direktor des Instituts für Medizinische Informatik und Statistik der Uni Kiel, unterstrich, dass genomische Medizin extrem hilfreich bei der Aufklärung der Ursachen von seltenen Erkrankungen und bei der Therapiesteuerung onkologischer Erkrankungen sein kann. Gleichwohl hob er einen warnenden Zeigefinger: Die komplexe Materie der Genommedizin laufe Gefahr, zu große Erwartungen zu wecken, wenn verschiedene Dinge miteinander vermischt werden. In den vergangenen Jahren habe man feststellen müssen, dass die Suche nach den genetischen Ursachen von Volkskrankheiten nahezu ergebnislos verlaufen sei; er als Humangenetiker habe diesen "schmerzhaften Prozess" unmittelbar miterlebt. "Bei den Volkskrankheiten gibt es eine Vielzahl von genetischen Varianten, die Einfluss haben; aber jede einzelne trägt sehr wenig zum Krankheitsgeschehen bei und das Wirkungsgeflecht ist sehr kompliziert. Mit dieser Erkenntnis müssen wir leben." Wenn trotzdem in der Öffentlichkeit Ideen diskutiert werden, dass zum Beispiel aus den genetischen Informationen vorhergesagt werden könne, mit welcher Wahrscheinlichkeit jemand einen Herzinfarkt oder Diabetes bekommt, könne dies "die berechtigten Anliegen der Genom-Medizin diskreditieren". Mit solch ethisch fragwürdigen Forderungen wolle man Embryonen darauf untersuchen, welche genetische Prädisposition sie für einen Herzinfarkt hätten; eine amerikanische Firma plane gar, in-vitro fertilisierte Embryonen auf ihre Intelligenz-Disposition zu testen. Abgesehen davon, dass es keine validierten diagnostischen Prädiktionstests dieser Art gebe, bleibe die Frage, wem solche Informationen nützen, so Krawczak. "Werden sie tatsächlich dazu führen, dass Menschen, die bisher nicht auf den Arzt gehört haben und weniger getrunken oder nicht geraucht haben, jetzt ihr Verhalten drastisch ändern, weil sie wissen, dass ihr Risiko für einen Herzinfarkt nicht mehr fünf, sondern zwölf Prozent beträgt? Da sind ernsthafte Zweifel angemeldet."

Die Wissenschaftler wollten bei der Veranstaltung in Bremen Alarm schlagen, damit in Deutschland eine wegweisende Entwicklung wie die Genomsequenzierung nicht verpasst wird. Dass es noch Chancen gebe, wurde gleichwohl deutlich: In der Tumorforschung sei man auch international gut aufgestellt, im Rahmen des "Nationalen Aktionsplans für Menschen mit seltenen Erkrankungen" (NAMSE) werden erste Projekte zur Gensequenzierung bei Verdacht auf eine genetisch bedingte Krankheit umgesetzt, hieß es vonseiten der Experten. In einem bei der Veranstaltung ausgegebenen Paper fordert Ropers, dass Deutschland Anschluss an die internationale Entwicklung gewinnen müsse. "Mit seinem Netz aus humangenetischen Instituten und Zentren für seltene Krankheiten und seiner im Aufbau befindlichen Infrastruktur für Hochdurchsatzsequenzierung verfügt Deutschland bereits über wichtige Bausteine zur Realisierung dieses Konzepts." Oder, wie der Tübinger Riess bilanzierte: "Letztendlich geht es überhaupt nicht darum, ob Genom-Medizin in Deutschland eine Zukunft hat, sondern ausschließlich darum, wie schnell und vor allen Dingen, ob sie flächendeckend eingeführt wird."


20.000

Exome und zwischen 3.000 und 5.000 Genome sind bislang in Deutschland sequenziert worden. Für relevante Schlussfolgerungen halten Experten deutlich größere Datenmengen für erforderlich.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 1/2019 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2019/201901/h19014a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
71. Jahrgang, Dezember 2018, Seite 26 - 27
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Februar 2019

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