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RADIOLOGIE/232: Strahlentherapie - Auf der Suche nach der richtigen Dosis (Uni Oldenburg)


Einblicke Nr. 57 - Frühjahr 2013
Das Forschungsmagazin der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Auf der Suche nach der richtigen Dosis

Von Björn Poppe, Kay C. Willborn, Hui Khee Looe, Ndimofor Chofor



Die Strahlentherapie ist eine der drei Säulen zur Behandlung von Krebs, neben der Chirurgie und medikamentösen Therapien. Doch wie gelingt es, den Körper möglichst wenig zu belasten? Oldenburger Wissenschaftler forschen seit zehn Jahren an Messgeräten, die die Verteilung der Strahlendosen im Körper erfassen. Nun ist es ihnen gelungen, ein Verfahren zu entwickeln, das weltweit Standards in der Strahlenforschung setzt.


Strahlentherapie bedeutet stets eine Gratwanderung: Sie muss die hochenergetischen ionisierenden Strahlen so dosieren, dass möglichst viel Tumorgewebe zerstört und das gesunde Gewebe geschont wird. Dazu bedarf es präziser Informationen über den Tumor und seinen Stoffwechsel. Man gewinnt sie unter anderem in aufwendigen mathematischen Berechnungen und durch verschiedenste bildgebende Verfahren. Meist sind es dabei Medizin-Physiker, die die jeweilige Strahlentherapie planen und in enger Partnerschaft mit den Medizinern zusammenarbeiten. Sie haben Methoden entwickelt, mit denen sich die Verteilung der jeweiligen Strahlendosis vorausberechnen lässt - in einem dreidimensionalen, computertomographisch erstellten Modell des Körpers. Diese Methode gehört mittlerweile zum Standard in jeder Strahlentherapie.

Zur Therapie eignen sich alle Strahlungen, die in der Lage sind, in den Körper einzudringen und dort einen Teil ihrer Energie durch Ionisation von Atomen zu deponieren. Als Ionisation bezeichnet man einen Prozess, bei dem ein Elektron aus einem Atom herausgestoßen wird und das Atom als positiv geladenes Ion zurückbleibt. Die Atome erhalten auf diese Weise neue Eigenschaften, die zum Bruch von Molekülbindungen in der Zelle und zu schweren Schäden in der DNA führen können - wodurch die Zellen absterben können. Damit das gesunde Gewebe sich besser erholen kann, verteilt man die gesamte Strahlendosis in kleine Portionen, so genannte Fraktionen, mit denen die Patienten in zahlreichen Einzelsitzungen bestrahlt werden. Im Idealfall verkleinert sich der Tumor stetig, bis er ganz abstirbt. Das Problem bleibt die Reaktion des gesunden Gewebes und die damit verbundenen Nebenwirkungen. Sie setzen der maximal zu verabreichenden Strahlendosis die Grenzen.

Hier kommt der Linearbeschleuniger zum Einsatz, ohne den die moderne Krebstherapie nicht denkbar wäre. Er beschleunigt Elektronen, bis sie hohe Energien aufbauen, und bremst sie dann schlagartig ab. Ein Teil der Bewegungsenergie verwandelt sich in hochenergetische Röntgenstrahlung, die dann auf den Patienten gerichtet wird. Damit möglichst wenig gesundes Gewebe zu Schaden kommt, passt ein am Linearbeschleuniger angebrachter Lamellenkollimator den Strahl an den Tumor an. Dieser nimmt den Tumor durch die Rotation des Bestrahlungsarms aus unterschiedlichen Richtungen regelrecht ins "Kreuzfeuer".

In den letzten Jahren hat sich die intensitätsmodulierte Strahlentherapie (IMRT) in der Praxis durchgesetzt. Sie nutzt Lamellenkollimatoren nicht nur zum Ausblocken von Risikoorganen, sondern auch zur Veränderung der Bestrahlungsintensitäten. Die Lamellen bewegen sich dabei entweder kontinuierlich über den zu bestrahlenden Bereich, oder die Strahlen wirken aus mehreren Richtungen in verschiedensten Feldkonfigurationen darauf ein. In den neuesten Geräten rotieren der Bestrahlungsarm und die Lamellen dynamisch, so dass sich nahezu jede rotationssymmetrische Dosisverteilung im Körper realisieren lässt.

Die neuen Methoden haben die massiven Nebenwirkungen der Strahlentherapie deutlich reduziert, die noch vor zwanzig Jahren häufig auftraten. Dennoch bewegen sie sich immer noch am Limit dessen, was einem gesunden Gewebe zuzumuten ist. Kleine Ungenauigkeiten bei der Dosierung können bei den Patienten völlig unterschiedliche Nebenwirkungen hervorrufen. Doch es war nur schwer möglich, die Dosisverteilung zu messen und zu überprüfen - weshalb viele Kliniken die intensitätsmodulierte Bestrahlung lange Zeit nicht anwendeten.

Die gemeinsam von der Universität Oldenburg und dem Pius-Hospital getragene Oldenburger Arbeitsgruppe "Medizinische Strahlenphysik" beschäftigt sich damit, hochgenaue Messgeräte zu entwickeln, die die Dosisverteilung durch intensitätsmodulierte Strahlentherapie im Körper erfassen. Sie setzen dabei auf die Messung der Strahlendosis in körperähnlichen Materialien wie etwa Wasser oder Kunststoffe, in denen sie Detektoren platzieren.

Vor der intensitätsmodulierten Strahlentherapie hat man vor allem einfache flache und homogene Intensitätsprofile in den menschlichen Körper eingestrahlt. Bei der Messung beschränkte man sich in der Regel auf punktförmige Detektoren. Das Standardmessgerät dafür ist die Ionisationskammer - ein luftgefüllter Hohlraum, in dem die Spannung zweier Elektroden ein elektrisches Feld erzeugt. Die durch die Strahlung erzeugten Elektronen werden zu den Elektroden gezogen und erzeugen dort ein Signal, das Aufschluss über die Strahlendosis gibt.

Der Fortschritt bei den Bestrahlungstechniken macht Messtechniken erforderlich, die komplexere Dosisverteilungen erfassen können. Zunächst hatte man keine Erfahrung, ob sich die für relativ einfache Feldformen entwickelten mathematischen Methoden überhaupt auf die komplexen und dynamischen Techniken der IMRT übertragen ließen. Um die berechnete Dosisverteilung mit der tatsächlichen im Körper zu vergleichen, sind exakte, mehrdimensionale Messungen notwendig.

Gewöhnlich kamen dafür Röntgenfilme zum Einsatz. Doch die Forschungen der Oldenburger Arbeitsgruppe zeigten, dass sie den gestiegenen Ansprüchen nicht mehr genügen, weil sie die Strahlendeposition im Körper nur unzureichend abbilden. Hinzu kam die Digitalisierung der Röntgentechnik. Sie hat den herkömmlichen Röntgenfilm und die dazugehörigen Entwicklungsmaschinen verdrängt. Es galt also neue Detektoren zu entwickeln, die den Fortschritten in der Strahlenforschung Rechnung trugen. Die in der Radiologie zunächst eingesetzten digitalen Detektoren sind auch nur von begrenztem Nutzen. Einerseits ist die Strahlungsenergie so hoch, dass die meist auf CCD-Basis arbeitenden Geräte relativ schnell zerstört werden. Andererseits lassen die physikalischen Eigenschaften der Detektoren präzise Dosismessungen nur mit äußerst hohem Aufwand zu.

Als Alternative haben die Oldenburger Physiker gemeinsam mit Wissenschaftlern der Freiburger Physikalisch-Technischen Werkstätten (PTW) zweidimensionale Detektoren auf der Basis von Ionisationskammern entwickelt. Bei diesen Detektoren sind die Ionisationskammern in einer Ebene angeordnet - ähnlich wie Pixel bei einer Digitalkamera. Die Detektoren sind deutlich größer als die einzelnen Pixel beispielsweise eines CCD-Chips. Doch wie groß dürfen die Detektoren sein, und wie viele braucht man für einen präzisen Vergleich zwischen vorherberechneter und tatsächlicher Dosisverteilung?

Die Antwort fanden die Physiker in der mehrdimensionalen Signalverarbeitung. Um dieses Verfahren praktisch umzusetzen, mussten sie zunächst die mathematische Beschreibung der Dosisdeposition anpassen und auf die Messverfahren anwenden. Nur so konnten sie die notwendige und optimale Anzahl der Kammern und deren Größe abschätzen. Für die Praxis realisierten sie zunächst einen Detektor mit etwa 1.000 Messkammern. Er erlaubt es für die meisten klinischen Anwendungen, die Dosisverteilung ausreichend genau zu überprüfen.

Nach anfänglicher Skepsis bei Physikern und Medizinern hat sich die Bauform dieser Kammer-Arrays inzwischen weltweit durchgesetzt. In den vergangenen Jahren haben auch andere Arbeitsgruppen die Ergebnisse der Oldenburger und Freiburger Wissenschaftler bestätigt und Detektoren nach ihrem Prinzip entwickelt. Heute dürfte sich in jeder strahlentherapeutischen Einrichtung, die intensitätsmodulierte Techniken anbietet, ein solches Detektor-Array finden.

Doch das war erst der Anfang: Theoretische Analysen des Strahlungstransports im menschlichen Körper konnten nachweisen, dass es einen minimalen Wert für die Detektorgröße und den Abstand zum Patienten gibt. Dieser liegt im Bereich von jeweils zweieinhalb Millimetern. Darunter lässt sich wegen der Wechselwirkung zwischen Strahlung und Materie mit den üblicherweise verwendeten Photonenstrahlen - auch theoretisch - keine Verbesserung erreichen. In der Praxis erhöhen sich die Ungenauigkeiten und liegen im Bereich von etwa fünf Millimetern. Ionenstrahlen könnten eine noch präzisere Bestrahlung ermöglichen. Ihre Erforschung steckt aber noch in den Kinderschuhen und ist vom klinischen Routineeinsatz weit entfernt.

Die Oldenburger Wissenschaftler und ihre Partner konzentrieren sich deshalb auf einen Detektor-Array, der an der minimalen Auflösungsgrenze arbeitet. Luft kommt wegen des geringen Volumens der Kammern nicht mehr als Detektionsmedium in Betracht. An die Stelle treten elektrisch nicht leitende Flüssigkeiten, etwa Isooktan. Aufgrund der unterschiedlichen physikalischen Eigenschaften der Flüssigkeiten ergeben sich hier neue Herausforderungen an die Medizinische Physik. So muss die Anzahl der Kammern bei den Geräten der Zukunft auf deutlich über 1000 ansteigen - das wiederum erfordert eine signaltheoretische Optimierung der Anordnung auf dem Array.

Im Rahmen einer Kooperation mit Partnern der Ashland Inc. in Wayne, New Jersey (USA) forschen die Oldenburger Wissenschaftler außerdem an Monomeren. Die Monomere bilden nach Absorption der Strahlung Polymere, die eine andere Lichtabsorption aufweisen. Werden diese Monomere auf eine dünne filmähnliche Basis gebracht, so ergibt sich durch die veränderte Lichtabsorption eine Art "Schwärzung". Da die Größe dieser Monomere nur im Bereich einiger Mikrometer liegt, ist es prinzipiell möglich, die Auflösung der Messungen fast beliebig zu steigern. Die physikalischen Eigenschaften dieser Prozesse und deren dosimetrische Anwendbarkeit sind Thema verschiedenster weltweiter Untersuchungen mit Beteiligung der Oldenburger Medizin-Physik.

Alle diese Bemühungen haben dabei letztendlich das Ziel, die Übereinstimmung zwischen berechneter und applizierter Dosis zu optimieren, um hierdurch eine weitere Verbesserung der strahlentherapeutischen Techniken zu erreichen. Um dies zu gewährleisten, arbeiten in der Strahlentherapie PhysikerInnen und MedizinerInnen so eng zusammen wie wahrscheinlich in keinem anderen Bereich der modernen Medizin.


DIE AUTOREN

Prof. Dr. Björn Poppe hat seit 2004 eine Stiftungsprofessur des Pius-Hospitals Oldenburg für Strahlenphysik inne und leitet die Arbeitsgruppe "Medizinische Strahlenphysik" an der Universität.

Dr. Kay Christel Willborn ist geschäftskoordinierender Direktor des Klinikzentrums für Strahlentherapie, Hämatologie und Onkologie am Pius-Hospital Oldenburg.

Dr. Hui Khee Looe ist seit 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsgruppe "Medizinische Strahlenphysik".

Dr. Ndimofor Chofor, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsgruppe "Medizinische Strahlenphysik".

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Quelle:
Einblicke Nr. 57, 28. Jahrgang, Frühjahr 2013, Seite 24-29
Herausgeber:
Präsidium der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juli 2013