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GERIATRIE/260: Depressionen im Alter - was tun? (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 2/2016

GERIATRIE
Depressionen im Alter - was tun?

Gespräch von Uwe Groenewold mit Dr. Wolf-Rüdiger Jonas und Dr. Christian Schulz-Du Bois


Ambulante und teilstationäre Versorgung erweitern, psychiatrische Gemeindeschwester einführen, effizientes Vermittlungssystem aufbauen. Vorschläge von Praktikern.


Depressionen sind bei älteren Menschen weit verbreitet und werden häufig nicht ausreichend behandelt - so lautete der Tenor der Ärzteblatt-Titelgeschichte im September 2011. Wie hat sich die Situation seitdem verändert? Was kann für eine bessere medizinische Versorgung getan werden? Das Ärzteblatt hat bei Dr. Christian Schulz-Du Bois, Oberarzt der HELIOS Fachklinik für Psychiatrie und Psychosomatische Medizin in Schleswig, und Dr. Wolf-R. Jonas, Ärztlicher Direktor der AMEOS Klinika Heiligenhafen, Kiel, Oldenburg und Preetz, nachgefragt.

Wie häufig sehen Sie ältere Patienten mit Depressionen in der ambulanten und stationären Versorgung Ihrer Einrichtung?

Dr. Wolf-R. Jonas: Im Jahr 2014 wurden im AMEOS Klinikum Heiligenhafen rund 600 Frauen und Männer über 65 Jahre aufgenommen, bei denen die Diagnose einer Depression gestellt wurde. Im selben Zeitraum betrug die Anzahl der über 60-Jährigen in der Institutsambulanz knapp 450. Über 95 Prozent dieser Patienten litten unter einer Depression.

Dr. Christian Schulz-Du Bois: Unsere Abteilung Gerontopsychiatrie und Psychotherapie in der HELIOS Fachklinik Schleswig besteht aus einem beschützten Intensiv-Behandlungsbereich und einer offenen Psychotherapiestation. Auf der Psychotherapiestation, die etwa ein Siebtel der Betten des gesamten Hauses belegt, machen die Alterspatienten mit Depressionen, Depressionen in Lebenskrisen, somatoformen Störungen und Angststörungen den Löwenanteil aus. Den zweiten großen Teil machen die Patienten mit schweren Verhaltensstörungen bei Demenzen auf der intensiven Station aus. Vergleichbar ist der jeweilige Anteil der Demenz- und Depressionspatienten in unserer Gerontopsychiatrischen Ambulanz; er beläuft sich ungefähr jeweils auf die Hälfte.

Laut Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung (Faktencheck Gesundheit 2014) erhalten 25 Prozent der über 60-jährigen Patienten mit Depressionen gar keine Behandlung, nur zehn Prozent werden leitliniengerecht versorgt. Woran könnte das liegen?

Schulz-Du Bois: Die Gründe sind nach meiner Beobachtung überwiegend darin zu finden, dass ältere Menschen mit Depressionen tatsächlich zu gebrechlich und zu depressiv sind, um sich Hilfe zu suchen. Wirklich depressive Menschen sind eher still und fügsam, sie werden in ihrem Leiden leicht übersehen, und die Depression bringt es mit sich, dass man die Ursache für die Not eher in sich sucht als in einer Krankheit. Der Übergang von einer seelischen Notlage zur Depression verläuft schleichend.

Ein besonderer Faktor könnte auch sein, dass sich ältere Menschen weder über die wichtige Bedeutung psychischer Vorgänge und die Notwendigkeit psychischer Unterstützung bewusst sind, noch ausreichend Kenntnis über Möglichkeiten psychischer Behandlung haben. In einem Flächenland wie Schleswig-Holstein spielt aber sicher auch die Erreichbarkeit der Angebote eine wichtige Rolle.

Jonas: Diese Zahlen gelten meines Wissens in ähnlicher Größenordnung auch für Depressionen bei unter 60-Jährigen. Trotz umfangreicher Aufklärungskampagnen werden Depressionen immer noch zu selten erkannt und nur ein geringer Prozentsatz wird adäquat behandelt. Im Alter kommt noch die Multimorbidität hinzu mit vielfältigen körperlichen Beschwerden, hinter denen die depressive Symptomatik verborgen bleibt. Der alte Begriff der larvierten Depression, einer Depression, die sich quasi im körperlichen Gewand verbirgt, war plastisch und hilfreich.

Hinzu kommt, dass von jüngeren Menschen das zunehmende Alter und die dann oft auftretenden Beschwerden wie Verlust an Schwung, Lebensfreude und Tatkraft fast als selbstverständlich angesehen und gar nicht als Symptomatik einer Depression wahrgenommen werden. Zumeist wird schlicht nicht an das mögliche Vorliegen einer Depression gedacht. Wenige gezielte Fragen würden hier schon weiterhelfen.

Wie beurteilen Sie die Versorgungssituation in Schleswig-Holstein? Finden ältere Menschen mit Depressionen in angemessener Zeit ausreichend medizinische Hilfe?

Jonas: Eine Aussage zur Situation in Schleswig-Holstein ist mir nur bezogen auf die Versorgungsregion der Klinika der AMEOS Krankenhausgesellschaft Holstein möglich, die den Bereich Lübeck, die Kreise Ostholstein und Plön sowie anteilig die Stadt Kiel umfasst. Wir haben uns schon vor Jahren gezielt mit dieser Problematik auseinandergesetzt und speziell Angebote für ältere Menschen mit Depressionen entwickelt. So gibt es am AMEOS Klinikum Heiligenhafen eine Station zur Behandlung von Depressionen im Alter. In Eutin befindet sich eine Tagesklinik, die ihren ausdrücklichen Schwerpunkt in der Behandlung von gerontopsychiatrischen Patienten mit depressiven Störungen besitzt. Das AMEOS Klinikum Neustadt behandelt ebenfalls im Rahmen der Gerontopsychiatrie auf einer gesonderten Station depressiv Erkrankte. Im AMEOS Klinikum Lübeck befindet sich ein Gerontopsychiatrisches Zentrum, das aus einem vollstationären sowie tagesklinischen Behandlungsbereich besteht und sich im Schwerpunkt mit depressiven Störungen befasst. Hinzu kommt eine Schwerpunktambulanz und als Besonderheit ein aufsuchendes Angebot für Altenheime. In Preetz entsteht am Krankenhaus eine Tagesklinik ebenfalls mit einem gerontopsychiatrischen Schwerpunkt. Damit ist über die genannte Versorgungsregion eine gute Abdeckung mit voll- und teilstationären sowie ambulanten Angeboten erreicht.

Schulz-Du Bois: Nach meinen Erfahrungen in Rendsburg, Kiel und jetzt in Schleswig scheint mir die Versorgung gerade älterer Menschen noch lange nicht ausreichend. Aus dem ambulanten Sektor erreichen uns viele Anfragen von Menschen, die gar keine Möglichkeit für eine ambulante psychische Behandlung finden konnten, oder die wegen der Zeitknappheit ihrer Fachärzte nur eine medikamentöse Therapie, aber keine Psychotherapie erhalten konnten. Wegen eines Mangels an Psychotherapeuten müssen notgedrungen viele Menschen mit psychischen Krankheiten, hier speziell mit Depressionen, von Hausärzten betreut werden. Dass dadurch eine medizinische Versorgung mit Psychopharmaka immerhin noch gut funktioniert, aber die psychotherapeutische Behandlung der Depression unzureichend ist, liegt auf der Hand. Trotz einer wachsenden Zahl von Psychotherapeuten ist der Bedarf noch lange nicht gedeckt, Psychotherapie kann man nun mal nicht grenzenlos beschleunigen oder "effizienter" durchführen, sie kostet immer eine bestimmte Menge Zeit. Hier versuchen wir, mit den Angeboten unserer Institutsambulanz gegebenenfalls auch stationäre Aufenthalte zu verhindern.

Solange ältere Menschen noch alleine leben, was ja gewünscht ist, aber immer schlechter in der Lage sind, sich mit dem Notwendigen zu versorgen, wird diese Schieflage eher noch zunehmen. Nicht nur eingeschränkte Mobilität, auch verminderte Fähigkeit zur Teilhabe an den modernen Kommunikationsmitteln verringert die Chance, dass ein älterer depressiver Patient sich Hilfe beschaffen kann.

Darüber hinaus fehlt es in der Gesellschaft am Verständnis für die Schwächen alternder Menschen. Vielfach stecken hinter Depressionen Einsamkeit, Hilflosigkeit bei Gebrechlichkeit, Sinnlosigkeit, Langeweile, Verzweiflung und Ausweglosigkeit. Viele der genannten Probleme müssten nicht zwangsläufig dazu führen, dass die Betroffenen pathologisiert und hospitalisiert werden, sondern könnten auf der konkreten Problemebene angegangen werden - und diese ist häufig auch sozialer Natur.

Wo sehen Sie Optimierungsbedarf in der Versorgung?

Jonas: Vor allem in einem weiteren Ausbau der teilstationären Angebote. Und besonders wichtig ist eine Verbesserung der Versorgung von Menschen, die in Altenwohn- oder -pflegeeinrichtungen leben. Hier erscheint die Versorgungssituation verbesserungsbedürftig, weil Depressionen wie erläutert nicht erkannt beziehungsweise verkannt werden.

Schulz-Du Bois: Nach meiner Beobachtung werden noch wesentlich mehr psychotherapeutisch tätige Psychiater und Psychologen benötigt, vor allem im Bereich der ambulanten Versorgung. Psychotherapeutische und psychoedukative Therapien werden von allen Patienten mit verschiedenen psychischen Störungsbildern benötigt. Gruppentherapien sollten bei den Psychotherapeuten wie bei den Patienten mehr Akzeptanz finden. Mit Gruppenbehandlungen könnten fehlende Mittel für Einzeltherapien wenigstens teilweise abgemildert werden. Gruppenpsychotherapie ist andererseits ein sehr wirksames therapeutisches Mittel.

Psychisch kranke Menschen, gerade depressionskranke Menschen, können selten rechtzeitig selber ihre Lage wahrnehmen, gar etwas unternehmen. Meiner Ansicht nach fehlt hier mindestens für den Bereich der schon einmal erkrankten Menschen eine aufsuchende Betreuung - eine Art psychiatrische Gemeindeschwester - die ein selbstständiges Absetzen der Medikamente oder Rückfälle rechtzeitig erkennen würde.

Dringend notwendig erscheint mir ein effizientes Vermittlungssystem für psychische Patienten. Bislang funktioniert die Versorgung in der Depressionsbehandlung so, dass ein Betroffener viele Psychiater oder Psychologen abtelefonieren muss, bis er wenigstens auf einer Warteliste geführt wird. Die Krankenkassen können nur selten mit Therapeutenlisten dienen. Die Hausärzte sind mit einer so komplexen Aufgabe nicht zu belasten. Die Psychiater und Psychotherapeuten selbst müssten eine solche Vermittlungsstelle einrichten, die allerdings Zeit und Geld kosten würde. Ein verbessertes Kommunikations- und Informationssystem könnte zu einer effektiveren Patientenbetreuung beitragen.

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EINE ALTERSDEPRESSION ERKENNEN

Hinweise auf eine Altersdepression gibt die Geriatrische Depressionsskala (GDS), bei der mit 15 Fragen ("Haben Sie viele Ihrer Interessen und Aktivitäten aufgegeben?", "Fühlen Sie sich häufig hilflos?") der seelische Zustand älterer Menschen untersucht wird. Sechs und mehr entsprechende Antworten weisen auf das Vorliegen einer Depression hin. Die im Internet abrufbare Skala ist eine gute Orientierungshilfe für Ärzte, Pflegende und pflegende Angehörige. Grundsätzlich ist eine umfassende diagnostische Abklärung durch einen Gerontopsychiater wünschenswert.

Der sogenannte Zwei-Fragen-Test wird laut S3-Leitlinie als Screening für unipolare Depressionen empfohlen. Mit zwei einfachen Fragen ("Fühlten Sie sich im letzten Monat häufiger niedergeschlagen, traurig, bedrückt oder hoffnungslos? Hatten Sie im letzten Monat deutlich weniger Lust und Freude an Dingen, die sie sonst gerne tun?") kann einer umfassenden Diagnostik der Weg bereitet werden, wenn der Patient auf beide mit Ja antwortet.

Hauptsymptome einer depressiven Episode laut ICD-10 sind tiefe Traurigkeit, Interessenverlust und Antriebs- und Energielosigkeit. Zusatzsymptome sind Appetitlosigkeit, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsdefizite, Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit, negative Zukunftsvorstellungen, reduziertes Selbstwertgefühl, Schlafstörungen, Suizidgedanken und -handlungen. Behandlungsbedarf besteht laut ICD-10 dann, wenn über mindestens zwei Wochen zwei Haupt- und zwei Zusatzsymptome vorliegen. Bei drei Haupt- und vier Zusatzsymptomen wird von einer schweren depressiven Episode gesprochen. (ug)


Dr. Wolf-Rüdiger Jonas
absolvierte seine Ausbildung zum Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie mit Schwerpunkt forensische Psychiatrie an der Universität Göttingen. Interessenschwerpunkte liegen in den Bereichen Allgemeine Psychopathologie, depressive Erkrankungen, postpartale seelische Erkrankungen und forensische Prognosebegutachtung. Jonas war zehn Jahre Bereichsleitender Arzt an der LWL-Klinik Herten und ist seit 1998 in Heiligenhafen tätig. Aufbau verschiedener Spezialstationen unter anderem mit Schwerpunkt in der Therapie von Depressionen und psychotraumatologischen Störungen. Langjährige Beschäftigung mit der Behandlung seelischer Erkrankungen im Wochenbett und Schaffung einer Station zur gemeinsamen Aufnahme von seelisch kranken Wöchnerinnen mit ihren Babies.

Dr. Christian Schulz-Du Bois studierte und promovierte an der Universität Kiel und ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und für Neurologie. Er ist Oberarzt der Station für Gerontopsychiatrie und Psychotherapie der HELIOS Fachklinik Schleswig. Die Station bietet stationäre, teilstationäre und ambulante Behandlungsmöglichkeiten für Menschen im höheren und höchsten Lebensalter. Ältere Menschen in seelischen Krisen, mit Depressionen, Angststörungen oder somatoformen Störungen erhalten psychotherapeutische und psychopharmakologische Behandlungen in einer offenen und freundlichen Atmosphäre. Menschen mit altersbedingten Gehirnerkrankungen, die hilflos geworden sind, oder deren Pflege wegen Verhaltensstörungen erschwert ist, können in einem geschützten Bereich psychiatrisch behandelt und gepflegt werden.


Infos

25 % der Patienten mit Depression über 60 Jahre erhalten laut einer Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung keine Behandlung, nur zehn Prozent werden leitliniengerecht versorgt. Ein Grund: Viele ältere Menschen sind zu gebrechlich und depressiv, um sich Hilfe zu holen.

Bedarf
Die Versorgung in Schleswig-Holstein erscheint den befragten Experten nicht ausreichend. Ein Indiz dafür: In der Klinik gibt es immer wieder Anfragen von Patienten, die keine Möglichkeit einer ambulanten psychischen Behandlung finden konnten.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 2/2016 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2016/201602/h16024a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
69. Jahrgang, Februar 2016, Seite 30 - 31
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. März 2016

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