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GERIATRIE/219: Die Inseln des Gedächtnisses (wieder) verknüpfen (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 12/2008

Gespräch mit H. H. Storm

Die Inseln des Gedächtnisses (wieder) verknüpfen


Zahlreiche Bücher liegen vor ihm auf dem Tisch in der gemütlichen Wohnstube in Rendsburg - selbst verfasste Bücher, wohl bemerkt. Zwei davon interessieren das Ärzteblatt vorrangig. Über sie wollen wir sprechen mit Hans Hermann Storm, Jahrgang 1937, gelernter Landwirt, später Lehrer, seit einiger Zeit pensioniert.

Hans Hermann Storm

Abb.1: Hans Hermann Storm (Foto: wl)


SHÄ: Wie ist es dazu gekommen, dass Sie die überaus erfolgreichen Bücher "Bilder erzählen" vorlegen konnten, Herr Storm?

Hans Hermann Storm: Wie Sie schon erwähnt haben, habe ich zunächst Landwirtschaft gelernt und den elterlichen Hof in Elsdorf-Westermühlen geführt. Mein Bruder hat dann als der Ältere den Hof beansprucht. Ab 1963 war ich Lehrer an der landtechnischen Lehranstalt Deula in Rendsburg. Bis 1988 war ich im Amt, vorzeitig musste ich ausscheiden nach einer Bandscheibenoperation mit der Prognose Ruhestand.

SHÄ: Sie hatten also plötzlich sehr viel Zeit ...

Hans Hermann Storm: Ich hatte Zeit, und ich stieß auf den Fundus alter Bilder meines Großvaters Jürgen Friedrich Mahrt, (1882-1940, einer der ersten und wichtigsten volkskundlichen Fotografen Schleswig-Holsteins). Als ich die sah, nachdem sie 50 Jahre und länger auf dem Boden gelegen hatten, dachte ich mir, diese alten Fotos aus dem überwiegend landwirtschaftlichen Bereich - Pflügen, Eggen, Säen -, aber auch mit zahlreichen städtischen Impressionen, die musst du irgendwie nutzen, mit ihnen arbeiten, die können viele Menschen interessieren. Sie zeigen ja zumindest teilweise eine inzwischen untergegangene Welt. Ich habe mehrere volkskundliche Bücher mithilfe des alten Bildmaterials veröffentlicht und dabei immer wieder das Leben auf dem Land variiert dargestellt. So entstanden insgesamt sechs Bände. Hinzu kamen Vorträge, etwa in Vereinen, und ich habe Dias gezeigt.

Hans Hermann Storm: Bilder erzählen



SHÄ: Und irgendwann kam die Initialzündung für die Gestaltung der Bücher, die uns ganz besonders interessieren.

Hans Hermann Storm: Richtig. Ich hielt meinen Vortrag in einem Seniorenverein, eine der Zuhörerinnen bat um Rücksprache, das war vor rund fünf Jahren. Diese Frau sagte mir, ihr Mann habe seit mehreren Jahren Alzheimer, er könne sich nicht mehr artikulieren, in seiner Not schlage er um sich. Kürzlich habe sie ihm einige meiner Bücher vorgelegt, gleichsam um ihn abzulenken. Und dieser Mann erkannte einiges von dem wieder, was ihm als Kind vertraut gewesen ist. Er reagierte sehr angeregt auf die Bilder, und zum ersten Mal seit einem halben Jahr hat er plötzlich wieder gesprochen! Die Frau konnte seine Wünsche wieder abfragen. Meine Bilder seien für sie also eine große Hilfe gewesen. Daraufhin habe ich mit Therapeuten und Ärzten gesprochen und erfuhr, dass dieser Mann dank meiner Bilder einen Schlüssel ins noch vorhandene Langzeitgedächtnis gefunden hat. Wäre es möglich, damit auch Zugang zu anderen Betroffenen zu finden? Das war die Frage.

SHÄ: Und die Antwort?

Hans Hermann Storm: Es zeigte sich, dass mit diesen Fotos Erinnerungsarbeit möglich ist und Identitätsfäden neu geknüpft werden können. Pflegekräfte kamen zu mir und erklärten: "Ihre Bilder haben bei uns geholfen, Sie dürfen sie anderen Menschen nicht vorenthalten." Diese Gedanken habe ich aufgegriffen, und auf diese Weise entstanden schließlich die beiden Bände "Wenn Bilder erzählen - Handbuch zur Biografiearbeit mit alten Menschen".(*)

Fotos aus den Büchern von H. H. Storm



SHÄ: Hat es Rückmeldungen gegeben?

Hans Hermann Storm: Aber ja. Logopäden haben mir bestätigt, dass sie gern mit dem Buch arbeiten - der zweite Band ist ja gerade erst erschienen. Besonders erfolgreich sind sie mit den Bildern bei Schlaganfallpatienten, die wieder sprechen lernen. Das müssen Sie sich so vorstellen: Die Erkrankten sehen die Bilder, sie erkennen das Dargestellte, sie wollen darüber sprechen - es entsteht so etwas wie ein therapeutischer Druck. Ähnliche Erfahrungen haben mir die Ergotherapeuten bestätigt - nur so ist zu erklären, dass die erste Auflage von 750 Stück nach nur einem halben Jahr weg war, und das ohne Vertrieb. Da kommen dann Äußerungen wie: "Wir können mit den alten Bildern therapieren", oder, im Fall einer Familie: "Wir haben unsere Mutter wieder". Wir Gesunden müssen so weit zurück, dass wir auf Augenhöhe mit dem Gedächtnis der Alten sind, es kommt darauf an, die vorhandenen Inseln des Gedächtnisses wieder zu verknüpfen. Das habe ich bei Vorträgen auf Einladung der Alzheimer-Gesellschaft Schleswig-Holstein in Norderstedt erfahren, in Altenheimen, in Gesprächen mit Angehörigen und Pflegekräften, in Einrichtungen für Betreutes Wohnen.

Fotos aus den Büchern von H. H. Storm



SHÄ: Haben Sie auch Kontakt zu Ärzten?

Hans Hermann Storm: Ja, einer der ersten war Dr. Ribbat in Itzehoe, der im Bereich der Versorgung alter Menschen besonders engagiert ist. Einmal kam nach einer Veranstaltung in Bad Bramstedt ein Arzt auf mich zu und stellte sich als Hirnforscher aus Kiel vor, er ist stark interessiert an meinen Büchern. Mehrere Ärzte haben sich gemeldet, die die Bewohner von Altenheimen betreuen, sie wollen die Bücher nutzen, um ihre Patienten wieder aufzuschließen, wie sie es ausgedrückt haben. Es ist schon so - die meisten der inzwischen 1100 verkauften Exemplare der Bücher gingen neben den Angehörigen an Therapeuten und Ärzte.

Fotos aus den Büchern von H. H. Storm



SHÄ: Was zeichnet die beiden Bücher für diesen besonderen Gebrauch aus?

Hans Hermann Storm: Als vorteilhaft erweist sich für diese spezielle Verwendung der Spiralrücken - so bleiben die Bilder dort liegen, wo der alte Mensch das Buch aufgeschlagen hat. Die Seiten sind abwischbar. Bei jedem Kapitel gibt es eine Kurzinformation in Fettschrift, es gibt auf jeder Seite Hinweise fürs weiterführende Arbeiten, es gibt überall Hinweise auf Rezepte, die im Anhang stehen.

Fotos aus den Büchern von H. H. Storm



SHÄ: Auffällig sind die vielen abgedruckten Lieder, Liedertitel, ganz vieles dabei auf Platt ...

Hans Hermann Storm: ... das Platt wird hier verstanden wie auch in Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern. Wenn es hilft, die Erinnerung zu wecken, erfüllt es einen guten Zweck. Ähnlich ist es mit den Liedern. Wo in den genannten Inseln des Gedächtnisses nichts mehr haften geblieben scheint, da können Sie immer noch mit Liedern arbeiten, auch mit Schlagern der 20er und 30er Jahre. Vielleicht fällt das wieder jemandem ein, wenn er das alte Bild mit dem Leierkastenmann sieht. Oder sehen Sie sich das "Wannenbad im Flur" an - auch dazu gibt es Lieder, um das Gedächtnis anzuregen. Und glauben Sie mir: Sie erreichen damit alte Menschen!

SHÄ: Das glauben wir Ihnen, Herr Storm! Besten Dank für das
interessante Gespräch. (wl)


* Band 1 ISBN 3-00-017169-X; Band 2 ISBN 978-3-00-025916-6.
Beide Bände sind zu beziehen bei
H. H. Storm, Grüne Straße 7, 24768 Rendsburg. 19,90 Euro inkl. MWSt. und Versand.


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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 12/2008 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2008/200812/h081204a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Dezember 2008
61. Jahrgang, Seite 38 - 40
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Karl-Werner Ratschko (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-119, -127, Fax: -181
E-Mail: aerzteblatt@aeksh.org
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Februar 2009