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NEUROLOGIE/867: Forschung - Wird das Immunsystem des Gehirns doppelt aktiviert, tötet es Nervenzellen ab (idw)


Universitätsklinikum Heidelberg - 16.02.2016

Aus Freund wird Feind: Wird das Immunsystem des Gehirns doppelt aktiviert, tötet es Nervenzellen ab


Heidelberger Neurophysiologen haben entdeckt, unter welchen Bedingungen Abwehrzellen das Gehirn schädigen / Forschungsergebnisse helfen, Erkrankungen mit entzündlicher Neurodegeneration wie Morbus Alzheimer und Multiple Sklerose besser zu verstehen / Veröffentlichung in PNAS

Bruchstücke von Bakterienhüllen zusammen mit einem Botenstoff des Immunsystems veranlassen Abwehrzellen des Gehirns, Mikrogliazellen, zum Großangriff - bei dem sie neben den Eindringlingen auch Nervenzellen abtöten. Ein Forscherteam um Professor Dr. Oliver Kann, Neurophysiologe am Universitätsklinikum Heidelberg, beschreibt in der renommierten Fachzeitschrift "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS) erstmals, was Mikrogliazellen dazu bringt, körpereigene Nervenzellen massiv zu schädigen. Bisher standen Wissenschaftler und Mediziner den überschießenden Entzündungsreaktionen im Gehirn, die bei verschiedenen Erkrankungen auftreten können, ratlos gegenüber. Der zugrundeliegende Mechanismus ließ sich mit bisher genutzten Methoden nicht hinreichend klären. Bekannt ist allerdings, dass er nicht nur bei bakteriellen Infektionen, sondern auch bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Morbus Alzheimer und Multipler Sklerose eine Rolle spielen könnte: Hier wüten die Mikrogliazellen ebenfalls in den körpereigenen Reihen. Die Ergebnisse rücken nun einen potentiellen Ansatzpunkt für neue Therapien in den Fokus: die Interaktion zwischen Mikrogliazellen und den Immunzellen des restlichen Körpers.

Die neuen Erkenntnisse gewannen die Wissenschaftler aus einem sehr komplexen Gewebemodell: Dabei werden nicht nur verschiedene Typen von Hirnzellen, sondern ganze Hirnschnitte in einem Nährmedium am Leben erhalten. So lassen sich der natürliche, hochkomplexe Zellverband aus verschiedenen Nerven- und Gliazellen, deren Funktionen und Interaktionen über längere Zeit beobachten und daher lebensnah studieren. An solchen Hirnschnitten testeten die Forscher die Reaktion des Zellverbands auf Substanzen, die bei Erkrankungen im Gehirn eine Rolle spielen und für die Mikrogliazellen Detektoren besitzen.

Bakterienbaustein allein aktiviert nur mäßig - keine Gefahr für Nervenzellen

Das ist zum einen ein Baustein von Bakterienhüllen, ein Lipopolysaccharid (LPS). Mikrogliazellen erkennen es mit Hilfe des sogenannten Toll-like-Rezeptor 4 (TLR4) und nehmen so die Fährte eingedrungener Bakterien wie beispielsweise den Hirnhautentzündung auslösenden Meningokokken oder Kolibakterien auf. Außerdem reagieren die Zellen auf den körpereigenen Botenstoff Interferon-gamma (IFN-γ), den nur bestimmte Immunzellen von außerhalb des Gehirns, zum Beispiel die sogenannten T-Lymphozyten, bei Kontakt mit Krankheitserregern freisetzen. Im Experiment ließen sich die Mikrogliazellen sowohl von dem bakteriellen Lipopolysaccharid als auch von dem Botenstoff der T-Lymphozyten, jeweils separat dem Gewebemodell zugesetzt, aktivieren. Die Nervenzellen beeinträchtigte diese Aktivierung jedoch kaum.

Bakterienbaustein und körpereigener Botenstoff - höchste Gefahr für Nervenzellen

Anders, wenn Lipopolysaccharid und Interferon-gamma gemeinsam zugegeben wurden: Die Mikrogliazellen gaben eine so große Menge an Abwehr- und Entzündungsstoffen ab, dass sie damit auch die Nervenzellen vergifteten.

Besonders das von den Mikrogliazellen zur Bakterienabwehr freigesetzte Gas Stickstoffmonoxid (NO) setzte den Nervenzellen zu. Unterdrückten die Wissenschaftler die NO-Bildung in den Mikrogliazellen durch Zugabe eines speziellen Hemmstoffs, verlief die Abwehrreaktion milder, die Nervenzellen überlebten. "Eventuell eröffnet sich damit eine neue therapeutische Möglichkeit, um die Nervenzellen bei entzündlichen Erkrankungen zu schützen", erklärt Professor Kann, Leiter der Arbeitsgruppe Allgemeine Neurophysiologie am Institut für Physiologie und Pathophysiologie.

Mikrogliazellen reagieren auf Proteinablagerung bei Alzheimer

"Die neuen Daten sind eine Überraschung", so Kann. "Denn bisher ließen Studien mit einfachen Zellkulturen darauf schließen, dass für die Überreaktion der Mikrogliazellen ein einzelner Stimulus, z.B. das bakterielle Lipopolysaccharid, ausreicht. Es scheint aber noch das Startsignal der Lymphozyten nötig zu sein. Das ist bedeutsam für das Verständnis und die weitere Erforschung entzündlicher Hirnerkrankungen."

Obwohl Bakterien bei Alzheimer oder Multipler Sklerose (MS) nicht im Spiel sind, könnte dieser Mechanismus bei neurodegenerativen Erkrankungen wie diesen trotzdem relevant sein: Der Toll-like-Rezeptor 4 der Mikrogliazellen funktioniert nur sehr ungenau und reagiert auch auf ein Eiweiß, das sich bei der Alzheimer-Erkrankung im Gehirn ablagert. Die Mikrogliazellen sind dauerhaft in Alarmbereitschaft. Kommen jetzt noch aktivierte T-Lymphozyten hinzu, insbesondere im Rahmen einer weiteren Erkrankung, startet die Entzündung im Gehirn. Auch bei MS sind Interaktionen zwischen T-Lymphozyten und Mikrogliazellen bekannt. "Es werden noch weitere experimentelle Studien nötig sein, um zu klären, bei welchen Erkrankungen und Reizen dieser Mechanismus in Gang gesetzt wird", sagt der Neurophysiologe. An der experimentellen Studie war das Forscherteam des 2015 verstorbenen Professors Dr. Uwe-Karsten Hanisch, Institut für Neuropathologie an der Universität Göttingen, beteiligt.


Kontakt
Prof. Dr. Oliver Kann
Institut für Physiologie und Pathophysiologie
Universitätsklinikum Heidelberg
E-Mail: oliver.kann@physiologie.uni-heidelberg.de

Weitere Informationen finden Sie unter
http://www.medizinische-fakultaet-hd.uni-heidelberg.de/Kann-Prof-Dr-med-Oliver.110979.0.html?&FS=0\%27&L=
Prof. Dr. Oliver Kann, Institut für Physiologie und Pathophysiologie

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution665

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Universitätsklinikum Heidelberg, Julia Bird, 16.02.2016
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Februar 2016

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