Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → FACHMEDIZIN


GENETIK/563: Die Gene sind nicht nur starre Träger von Erbeigenschaften ... (Securvital)


Securvital 4/2019 - Oktober-Dezember
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen

Molekularbiologie
Mehr als Genetik

von Norbert Schnorbach


Forschungen zur Vererbungslehre überraschen mit neuen Erkenntnissen: Die Gene sind nicht nur starre Träger von Erbeigenschaften, sondern agieren weitaus dynamischer. Das erweitert den Blick darauf, was der Lebensstil für die Gesundheit bedeutet.

Welche gesundheitlichen Auswirkungen hat Rauchen während der Schwangerschaft? Wissenschaftler aus Leipzig und Heidelberg, die dieser Frage nachgingen, haben eine erstaunliche Entdeckung gemacht: Nikotin und Teer aus dem Tabakrauch schädigen nicht nur auf direktem Weg die Gesundheit von Mutter und Kind. Sondern die Folgen gehen weitaus tiefer - sie haben auch negative Wirkungen auf die Erbanlagen des noch ungeborenen Babys. Das Rauchen verändert bestimmte Gen-Regionen im Erbgut des Kindes, die für die spätere Entwicklung eine Rolle spielen, unter anderem bei der Entstehung von Diabetes und Krebs. Für den Genom-Forscher Prof. Roland Eils ist das eine bahnbrechende Entdeckung: »Wir beginnen, die Mechanismen zu verstehen, die dazu führen, dass das Rauchen zu so unterschiedlichen Krankheiten führen kann«.

Den Schlüssel zu dieser Erkenntnis liefert die Epigenetik, ein junger Forschungszweig der Genetik, der das starre Verständnis vom Menschen als Produkt seiner Gene erweitert. Die Epigenetik (vom griechischen Wort epi: darüber) erforscht, wie die etwa 20.000 menschlichen Gene aktiviert und deaktiviert werden, warum ein Großteil von ihnen stummgeschaltet ist und nur zeitweise aktiv wird und welchen Einfluss Umweltfaktoren darauf haben. Man weiß inzwischen, dass die Gene beeinflussbar sind, etwa durch Methyl- und Azetylmoleküle, die die Gen-Aktivität ein- und ausschalten können.

Dynamik der Gene

Experten sprechen hier von einer Regulierung der Gen-Aktivität. Sie bewirkt, dass sich der Organismus (auch mit gleichem Erbgut, etwa bei Zwillingen) unterschiedlich entwickeln kann. Die Gen-Regulation wirkt sich auf zahlreiche Eigenschaften aus, darunter auch auf die Anfälligkeit für Krankheiten. So wird zum Beispiel bei Bluthochdruck und Diabetes deutlich, dass es nicht nur auf die Gene selbst, sondern auf ihre Steuerung und Dynamik ankommt. Der Wissenschaftsautor Dr. Peter Spork, der sich auf Epigenetik spezialisiert hat, spricht von einem »zweiten Code«, der die Gen-Aktivität steuert. Gesundheit sei nicht einfach durch die Gene vorbestimmt und das Genom kein fixierter, unveränderlicher Bauplan. Lebensstil und individuelle Lebenserfahrungen wirken sich auf die Erbanlagen aus, sogar über Generationengrenzen hinweg.

Bei der Frage, in welchem Maß Eigenschaften wie Intelligenz und Gesundheit ererbt oder durch die Umwelt bzw. Erfahrungen erworben werden, bietet die Epigenetik neue und differenziertere Erklärungen. Ausgangspunkt ist dabei, dass die Gene nicht statisch sind, sondern auf äußere Einflüsse reagieren und gesteuert werden. Das zeigt das Forschungsprojekt zum Rauchen in der Schwangerschaft: Alle Erbanlagen sind im Kind vorhanden, beispielsweise für das Immunsystem, doch äußere Einflüsse wie der Tabakrauch beeinflussen, wie aktiv das Immunsystem etwa bei Entzündungen im späteren Leben reagiert.

»Das Leben prägt zweifelsfrei unsere Gene, und diese Prägungen wirken in den folgenden Generationen fort.«
Dr. Peter Spork, Wissenschafts-Autor (»Gesundheit ist kein Zufall«, »Epigenetik - wie wir unser Erbgut steuern können«)

Was sich beim Rauchen in der Schwangerschaft feststellen lässt, gilt vergleichbar auch bei großem Stress und Traumata: Sie beeinflussen die Gen-Aktivitäten, hinterlassen Spuren in den Zellkernen und setzen sich in den Erbanlagen fest. Hier kommen die Ideen von Vererbung und lebenslangem Lernen zusammen. Forscher sprechen von einem »epigenetischen Gedächtnis der Zellen«, das körperliche und psychische Erfahrungen (Lebensstil, Ernährung, Krankheiten, Traumata) speichern kann. Schlimme Kriegserfahrungen zum Beispiel wirken sich demzufolge nicht nur auf die individuelle Gesundheit aus, sondern prägen auch das Erbgut mit. Vieles spricht dafür, dass dieses »Gedächtnis der Zellen« zumindest teilweise sogar vererbt wird. Auf diese Weise könnten Erfahrungen nicht nur das eigene individuelle Leben prägen, sondern auch an die Nachkommen weitergegeben werden. Nach Angaben der Max-Planck-Gesellschaft haben diverse Studien mittlerweile nachgewiesen, »dass epigenetische Markierungen tatsächlich an folgende Generationen weitervererbt werden«. Wie genau das vor sich geht und mit welchen konkreten Auswirkungen für die Gesundheit von Kindern und Enkeln, muss noch weiter erforscht werden.

Vererbung von Erfahrung

Das gilt nicht nur für negative Einflüsse (wie etwa Nikotin, Stress, Umweltgifte), sondern auch für positive Erfahrungen. Gesunde Ernährung, Bewegung und stabile soziale Bindungen können, wie Tierversuche nahelegen, positive Auswirkungen auch noch in der nächsten oder übernächsten Generation haben. Entsprechende Zusammenhänge wurden zwischen Großeltern- und Enkelgenerationen gefunden. Mit anderen Worten: Ein gesunder Lebensstil stabilisiert nicht nur die eigene Gesundheit, sondern kann auch die genetische Ausstattung von Kindern und Enkeln positiv mitbestimmen. »Wir erben mehr als nur die Gene von unseren Eltern«, meint Dr. Nicola Iovino vom Max-Planck-Institut in Freiburg - nämlich auch die von Umwelt und Lebensstil beeinflussten Mechanismen, die die Aktivität des Genoms steuern.

Dass die Erbanlagen kein unveränderlicher Bauplan sind und dass sie aktiv gesteuert werden können, gehört zu den vielschichtigen Erkenntnissen der Epigenetik-Forschung. Bekannt ist das Phänomen bereits von den Bienen: Aus einer Larve kann - bei identischem Erbgut - eine Arbeitsbiene oder eine Bienenkönigin heranwachsen. Entscheidend ist, ob das in den Genen gleichermaßen angelegte Potenzial in diese oder jene Richtung gesteuert wird. Bei den Bienen erfolgt die epigenetische Steuerung durch die Ernährung. Nur jene Bienenlarve, die im frühen Lebensstadium mit Gelee Royale gefüttert wird, entwickelt sich zu Königin.

*

Quelle:
Securvital 4/2019 - Oktober-Dezember, Seite 24 - 25
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen
Herausgeber: SECURVITA GmbH - Gesellschaft zur Entwicklung alternativer Versicherungskonzepte
Lübeckertordamm 1-3, 20099 Hamburg
Telefon: 040/38 60 800, Fax: 040/38 60 800
E-Mail: presse@securvita.de
Internet: www.securvita.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2019

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang