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BERICHT/007: Europas Auge - arte im Wandel ... (SB)


Ambitioniertes Fernsehen zwischen Krise und Kultur

arte-Jahrespressekonferenz am 5. Februar in Hamburg


Das Fernsehen bleibt mit durchschnittlich vier Stunden täglicher Nutzungsdauer das Leitmedium der Bundesrepublik. So groß die Vorteile interaktiver Medien, die die meisten Menschen ohnehin zu vielerlei Zwecken nutzen, sein mögen, so unverwüstlich ist die Vorliebe vieler Menschen, sich einfach mit der Fernbedienung in der Hand in den Sessel zu setzen und ein in der Breite des Angebots stetig wachsendes Spektrum audiovisueller Programme genießen zu können. Rund 180 von privatwirtschaftlichen Anbietern betriebene Fernsehprogramme, 22 Voll- und Spartenprogramme des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, zahlreiche regionale und lokale Fernsehprogramme, diverse fremdsprachige Angebote und rund 75 Pay-TV-Programme buhlen um die Gunst eines Publikums, dessen Aufmerksamkeit zudem von Radio, Internet und Printprodukten umworben wird.

In der konkreten Auswahl zeigt sich jedoch, daß sich vier Fünftel der Zuschauer auf lediglich fünf bis sechs große Sender verteilen. RTL, SAT.1, ProSieben, Das Erste und ZDF beherrschen das Feld des individuellen Medienkonsums, so daß die Bedeutung dieses Oligopols für das politische und kulturelle Klima im Lande kaum überschätzt werden kann. Um so wichtiger für die Bedürfnisse eines Publikums, das sich in der quotenorientierten Angleichung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens an das Niveau der Privatsender nicht wiederfindet, sind anspruchsvolle Programmangebote, wie sie von 3sat, arte und wenigen anderen Spartenkanälen geboten werden. Ihnen obliegt im Grunde genommen, das kulturelle Niveau, das vor der Einführung des dualen Systems aus öffentlich-rechtlichen und privatwirtschaftlichen Kanälen 1984 von engagierten TV-Journalisten und -Programverantwortlichen aufrechterhalten wurde, zu bewahren.


Projektion zur arte Jahrespressekonferenz 2016 - Foto: 2016 by Schattenblick

Foto: 2016 by Schattenblick

Der 1992 auf Sendung gegangene deutsch-französische Kulturkanal arte (Association Relative à la Télévision Européenne) verdankt seinen Ruf, dem allgemeinen Trend zur Verflachung nicht zu folgen und auch die Interessen kultureller Minderheiten zu bedienen, nicht nur der Absicht, Kultur und Politik auf besonders erkenntnisträchtige Art und Weise miteinander zu verbinden. Das mit einem aus Rundfunkgebühren bestrittenen Budget von rund 440 Millionen Euro ausgestattete Vollprogramm ist mit seinem europäischen Selbstverständnis auch publizistische Plattform eines kulturell arrivierten Bürgertums, das sich der Forderung nach unbedingter marktwirtschaftlicher Rentabilität und Effizienz nicht uneingeschränkt unterwerfen will. Kulturellen Traditionen und bildungsbürgerlichen Idealen verpflichtet, fürchtet es die Dekadenz kapitalistischer Vergesellschaftung ebenso wie es der hierarchischen Ordnung des bürgerlichen Staates durch Habitus und Distinktionsstreben verhaftet ist.

Bis heute ist dem durch einen Staatsvertrag zwischen der französischen Republik und den Ländern der Bundesrepublik ins Leben gerufenen Sender die Handschrift einer europäischen Kulturelite anzumerken, die es für erforderlich zu halten scheint, einer allzu großen Dominanz des US-amerikanischen Kinos und Fernsehens eigene Produktionen entgegenzusetzen. So bekräftigte der neue arte-Präsident, SWR-Intendant Peter Boudgoust, auf der Jahrespressekonferenz des Senders in Hamburg den europäischen Auftrag seines Hauses, das er als eine wichtige zivilisatorische Säule in einem Europa charakterisierte, das sich nicht nur durch ökonomische Interessen definieren dürfe. Der Auftrag von arte, durch ein inspirierendes, innovatives Programm zum Verständnis und der Annäherung zwischen den Völkern Europas beizutragen, sei in Anbetracht der Krisenhaftigkeit der Zeit noch nie so aktuell wie heute gewesen. Europa in seinen Grundfesten erschütternde Entwicklungen wie die Finanz- und Wirtschaftskrise, die zahlreichen Kriegsflüchtlinge und der anwachsende Rechtsruck seien eine vertiefte und hintergründige Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen entgegenzusetzen, so Boudgoust, dem mit Anne Durupty die Generaldirektorin von arte France als Vizepräsidentin im deutsch-französischen Tandem zur Seite steht.


Vor dem arte-Senderlogo - Foto: © 2016 by Schattenblick

arte-Vizepräsidentin Anne Durupty und arte-Präsident Peter Boudgoust
Foto: © 2016 by Schattenblick

Diesem Anliegen soll auch in Zukunft mit dienstäglichen Themenabenden, die gesellschaftlichen Debatten von aktueller Brisanz und historischer Relevanz gewidmet sind, durch jeweils mehrere Beiträge Rechnung getragen werden. Wird im Ausblick auf die Höhepunkte des Programms dieses Jahres eine Dokumentation vorgestellt, die den Weltfrauentag am 8. März mit positiven Beispielen gelungener Geschlechtergerechtigkeit unter anderem anhand der ehemaligen US-Außenministerin Hillary Clinton, der Geschäftsfrau Melinda Gates und der IWF-Chefin Christine Lagarde begeht, dann scheint allerdings der von arte-Vertretern bestrittene elitäre Charakter des Senders Triumphe zu feiern. Zahlreiche Feministinnen üben insbesondere an Clinton und Lagarde heftige Kritik als Sachwalterinnen einer Politik, die Frauen in den Ländern des globalen Südens kriegerischer Gewalt und sozialer Verelendung aussetzt.

Dies ist sicherlich nicht die durchgängige Lesart der Ko- und Fremdproduktionen, die arte im Bereich des Dokumentarfilms und Investigativjournalismus anbietet. Das für April angekündigte Schwerpunktthema der vor 30 Jahren erfolgten Atomkatastrophe in Tschernobyl, der Rückblick auf den Abschluß des Sykes-Picot-Abkommens am 19. Mai 1916, das in den Kriegen und Krisen des Nahen Ostens bis heute Wirkung zeigt, die angekündigte Geschichtsdokumentation "Das Ende des Erhabenen Staates" über den Untergang des Osmanischen Reiches oder der im März ausgestrahlte Dokumentarfilm "Die große Stromlüge" über die Interessen europäischer Energiekonzerne lassen auf kritische Einsichten hoffen. Auch ist dem Sender eine Berichterstattung über den kurdischen Befreiungskampf zugutezuhalten, die sich in der Anerkennung der legitimen Interessen dieser aktuell in der Türkei massiv unterdrückten Bevölkerung wohltuend von der ansonsten üblichen Ignoranz abhebt.

Von öffentlich-rechtlichen Programmen bei aller bekundeten Staatsferne zu erwarten, keinem Kulturverständnis zu frönen, das die Werte und Normen der sie konstituierenden Staatlichkeit und ihrer maßgeblichen Eliten repräsentiert, ist allerdings so abwegig wie die Forderung, zur Legitimation ihrer Existenz bedürfe es keines Nachweises ihres Publikumserfolges, weil dies im Rundfunkstaatsvertrag nicht vorgesehen ist. Deutschland und Frankreich als Führungsmächte einer vertraglich auf neoliberalen Grundlagen errichteten Europäischen Union bringen keine medialen Strukturen hervor, die die herrschenden Verhältnisse zugunsten derjenigen angreifen, die davon am meisten betroffen sind. Ist die kulturelle Produktivität der großen Medienkonzerne ohnehin von den Renditeerwartungen ihrer Aktionäre und Eigentümer bestimmt, so können sich öffentlich-rechtliche Sender dieser betriebswirtschaftlichen Logik ebensowenig entziehen wie der Legitimationsproduktion einer Gesellschaft, deren Bestand an den nationalen Erfolg in der globalen Staatenkonkurrenz gebunden ist. So wird zwar über die Probleme der griechischen Bevölkerung, die heute in nennenswerter Zahl hungert, weil Wettbewerbs- und Wachstumsorientierung angeblich keine sozialen Vergünstigungen zulassen, berichtet, aber sicherlich keine Konsequenz im Sinne einer Überwindung der gesellschaftlichen Verhältnisse gezogen, die in der EU anwachsende Armut, an ihren Grenzen tausendfachen Tod und in ihrer äußeren Peripherie langanhaltende Kriege bewirken.

Um so entschiedener widmet man sich einer kulturellen Produktivität, die bei allen subversiven Zwischentönen vor allem eins tut, für Unterhaltung zu sorgen. So setzt arte, wie der Präsident des Senders erklärte, verstärkt auf Serienformate, die international als Motor fiktionaler Erzählkultur gelten, und will Vorreiter für europäische Serienkompetenz sein, wie auf arte ausgestrahlte Serien aus europäischer Produktion wie "Occupied", "Gomorrah", "Real Humans", "Wölfe" oder "Stadt ohne Namen" belegen. Regelmäßige Retrospektiven auf bekannte Regisseure des internationalen Kinos, cineastische Raritäten und andere den Archiven entnommene Filmdokumente dokumentieren eine Historie des Films, die zu kennen nicht nur für Kulturwissenschaftler von Interesse sein sollte. Hier dürfen sich die Zuschauerinnen und Zuschauer im Mai zum Beispiel auf den Schwerpunkt "70 Jahre DEFA" über das Kino in der DDR freuen. Das Genre des Kurzfilms wird auf arte besonders betreut, was die dort vorgestellten Nachwuchstalente in Anbetracht der Abneigung anderer Sender, randständige Genres zu bedienen, sicherlich nötig haben.

Als gelte es, vielleicht unwiderruflich in Frage gestellte Lebewesen und Naturlandschaften zu dokumentieren, sind Sendungen über Pflanzen, Tiere und Landschaften in aller Welt ein Schwerpunkt dokumentarischer Produktionen auf arte. Auch wartet der Sender mit diversen kulturgeographischen Formaten auf, in denen Lebens- und Wohn-, Stadt- und Eßkulturen meist europäischer Regionen vorgestellt werden. Mitunter kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, hier werde eine Kultur des gehobenen Konsums zelebriert, die vor allem Menschen zur Verfügung steht, die es sich leisten können. Wer sich dort nicht wiederfindet, ist bei den der bildenden Kunst, Musik, Literatur, Tanz und Theater gewidmeten Formaten bestens aufgehoben, geht es dort auch häufig um die sozialen und gesellschaftlichen Umstände künstlerischen Schaffens gestern wie heute.

Anfang März wird beispielsweise Arbeit und Leben des genialen Science-Fiction-Autors Philip K. Dick in einer Dokumentation gewürdigt, und im April steht ein umfassendes Programm zum 400. Todestag des Dramatikers William Shakespeare an. Jeweils ein Dokumentarfilm über Orhan Pamuk im März und Gabriel García Márquez im April runden das literarische Kabinett ab. Ebenfalls im März wird in "Der letzte Ritt des Blauen Reiters" dem Maler Franz Marc ein filmisches Denkmal gesetzt. Konzertereignisse mit großen Orchestern und Stars der klassischen Musik wie aus der Welt der Oper, Auftritte avantgardistischer Bands und historische Filme über zentrale Ereignisse der Popgeschichte laden das Publikum ein, Vergangenheit und Zukunft akustischer Kunstformen kennenzulernen.

Ein weiterer Schwerpunkt besteht in Wissenschaftssendungen und Programmen zu technologischen Innovationen, die sich insbesondere mit dem Einfluß informationstechnischer Entwicklungen auf Mensch und Gesellschaft auseinandersetzen. Der Sender selbst hat frühzeitig damit begonnen, das Internet für seine Verbreitung zu nutzen, und scheint damit durchaus erfolgreich zu sein, wie 246 Millionen im letzten Jahr abgerufener Videos, 900 Performances auf der Webseite Arte Concert und rund 5 Millionen Fans und Follower in den sozialen Netzwerken des Senders belegen. So bietet arte diverse Webseiten an, die einzelne Programmschwerpunkte mit zusätzlichen Angeboten ergänzen und macht viele Sendungen auf der arte +7 Mediathek und anderen digitalen Plattformen unabhängig von ihrem jeweiligen Ausstrahlungstermin verfügbar.

Die Absicht, informationstechnische Verbreitungswege neben dem konventionellen Sendebetrieb zu nutzen, um bei dem allmählichen Übergang von der linearen zur interaktiven Medienwelt nicht abgehängt zu werden, scheint durchaus aufzugehen. Das von Programmdirektor Bernd Mütter erklärte Vorhaben, mit arte auf sämtlichen Verbreitungswegen wie Smart TV mit Hbb-TV, proprietären Apps, Apple TV, Drittplattformen, mobilen Endgeräten, Spielekonsolen, Livestreams, Webseiten von ARD und ZDF vertreten zu sein, ließ das ganze Ausmaß technischer Bewältigung ahnen, das dafür erforderlich ist. Damit wird der Sender auch zu einem Treiber wie Schaufenster einer Digitalisierung, die den Menschen so umfassend bedingt, daß die kritische Auseinandersetzung mit dieser Umwälzung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse den damit einhergehenden Herausforderungen für die Freiheit und Autonomie des einzelnen deutlich hinterherhinkt.

Auch können die hochauflösenden und technisch komplexen Formate moderner Fernsehproduktion ästhetische Standards prägen, die zu Lasten der inhaltlichen Aussage filmischer Produkte gehen. So neigen rechnergestützte Neuerungen wie CGI-Animationen oder 3D-Filme dazu, eine Eigendynamik der Bildgebung zu entwickeln, die zu Lasten der dargestellten Inhalte gehen kann. Wenn Natur- und Landschaftsfilme mit atemberaubenden Aufnahmen von Drohnen- oder Unterwasserkameras aufwarten, wenn Geschichtsdokumentationen mit computergenerierten Bildern historische Authentizität suggerieren, dann kann der analytische Anspruch an die bearbeiteten Themen hinter den eindrücklichen Bildern verschwinden. Etablieren sich solche Standards in bestimmten Genres als handelsübliche Norm, dann wird auch der Zugang für Dokumentarfilmer und Filmjournalisten, die sich ihrer nicht bedienen, zur TV-Öffentlichkeit erschwert.


Pressepublikum vor Projektionswand - Foto: © 2016 by Schattenblick

Reges Interesse an kommenden arte-Programmen
Foto: © 2016 by Schattenblick

In seiner Bilanz für das Jahr 2015 konnte Mütter verkünden, daß arte in der Bundesrepublik über einen stabilen Marktanteil von einem Prozent verfügt und in Frankreich um 10 Prozent auf 2,2 Prozent der Zuschauer zugelegt hat. In absoluten Zahlen wurde arte in Deutschland von 8,7 und in Frankreich von 11,3 Millionen Zuschauern wöchentlich für mindestens 15 Minuten eingeschaltet. Das versieht den Sender, der mit dem arte Magazin über eine eigene, vom Axel-Springer-Verlag mit einer verkauften Auflage von über 100.000 Exemplaren herausgegebene Programmzeitschrift verfügt, über beträchtliche Öffentlichkeitswirksamkeit. Das gilt um so mehr, als sich zahlreiche Multiplikatoren unter seinem Publikum befinden dürften und sein zweisprachiges Programm im Herbst durch ausgewählte Sendungen erweitert werden soll, die mit englischen, spanischen und polnischen Untertiteln versehen werden.

Daß arte darüber hinaus diverse europäische Partnerschaften eingegangen ist, sollte bei seinem erklärten Auftrag der Völkerverständigung selbstverständlich sein. So wertvoll der deutsch-französische Zusammenschluß für die Aufarbeitung und Überwindung der jahrhundertelang äußerst blutig verlaufenen Koexistenz beider Reiche oder Staaten ist, so sehr läuft er auch Gefahr, das Hegemonialstreben beider Republiken ideologisch wie kulturalistisch zu flankieren. Jüngste Entwicklungen wie die große Bereitschaft der Bundesregierung, die Bundeswehr zur Unterstützung Frankreichs nach Syrien und Mali zu entsenden, der antidemokratische Charakter des nach den Anschlägen in Paris vom Januar und November 2015 in Frankreich verhängten Ausnahmezustands und die Übernahme von der Bundesregierung in der ganzen EU durchgesetzter neoliberaler Rezepturen durch die sich sozialistisch nennende Regierung Frankreichs verlangen nach entschiedenem Widerspruch von unten.

Kunst und Kultur existieren nicht aus sich selbst heraus, sondern sind von den sozialen und gesellschaftlichen Umständen ihrer Zeit nicht zu trennen. In einem Europa, in dem immer mehr Menschen von Angst um ihr materielles Auskommen und Wut über die soziale Ungerechtigkeit, der sie unterworfen sind, umgetrieben werden, gehört es sicherlich zu den fortschrittlichsten und kreativsten Merkmalen kultureller Produktivität, sich dieser Entwicklung kritisch und streitbar entgegenzustellen. Jean-Luc Godard mag uns heute mit seiner vor 46 Jahren getroffenen Aussage, es sei ein Unterschied ums Ganze, politische Filme zu machen oder politisch Filme zu machen, Rätsel aufgeben. Die Ideen aus dieser gesellschaftlich besonders fruchtbaren Epoche des französischen Kinos zu dechiffrieren und aktualisieren, könnte mithin nicht interessanter sein.

11. Februar 2016


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