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REZENSION/033: "Greece on the Brink" - Dokumentarfilm von Manuel Reichetseder (SB)


Soziale Krise und politische Konsequenz im Lichte marxistischer Analyse




Im siebten Jahr wirtschaftlicher Rezession erweist sich das Krisenmanagement der Troika aus Europäischer Zentralbank, EU-Kommission und Internationalem Währungs-Fonds als ein Instrument sozialer Zerstörung, das die Hoffnung auf bessere Zeiten auf eine harte Probe stellt. Genaugenommen verhält es sich damit wie mit allen Wünschen, die dem in immer weitere Ferne rückenden Silberstreif am Horizont mehr Aufmerksamkeit schenken als der unmittelbaren Konfrontation mit Zwangslagen, aus denen es keinen schnellen Ausweg gibt. Der Glaube daran, daß am Ende alles gut wird, hält die Menschen davon ab, das ihnen bereitete Elend dort anzugreifen, wo es in seiner schmerzhaften Gewalt unmittelbar wirksam wird. Zum Zwecke einer Befriedung des sozialen Widerstands, die nichts an dessen Beweggründen ändert, wird dieser Glaube nach Kräften genährt.

Dies gelingt in Griechenland immer weniger, hat sich doch die Alimentierung der seit 2008 um ein Viertel geschrumpften Wirtschaft des Landes durch sogenannte Rettungspakete in der dünnen Luft fiktiven Kapitals aufgelöst, das das Geschäft der Banken und Investoren befeuert, während die Menschen in immer größere Abhängigkeit von staatlichen wie privatwirtschaftlichen Kreditgebern geraten. Die Logik von der notwendigen Durststrecke, nach der eine vom Ballast unproduktiver Kosten befreite Wirtschaft zu neuer Wettbewerbsfähigkeit und damit gesellschaftlicher Prosperität gelange, kann in Anbetracht der sozialen Katastrophe, in der sich Millionen Menschen in Griechenland befinden, nur als zynische Verhöhnung ihres Interesses an lebenswerten Verhältnissen bezeichnet werden. Dieses vom neoliberalen Dogma der "kreativen Zerstörung" geleitete Kahlschlagkonzept hat sich bereits bei den sogenannten Radikalreformen nach dem Ende der Sowjetunion als Hebel der Umverteilung von unten nach oben erwiesen, machen die dafür zuständigen Ökonomen doch die Rechnung betriebswirtschaftlicher Sanierung ohne den Wirt einer Produktivität, die nicht dem Weltmarkt Genüge tut, sondern schlicht den Bedürfnissen der Menschen dient.

Griechenland hat die "Schockdoktrin" (Naomi Klein) der Troika ein Wachstum der öffentlichen Verschuldung von 112 Milliarden Euro 2008 auf 160 Milliarden Euro 2013 beschert. 28 Prozent Arbeitslosigkeit, 4 Millionen Menschen einer Gesamtbevölkerung von 11 Millionen unter der Armutsgrenze, ein Drittel der Menschen von sozialen Sicherungssystemen und der Gesundheitsversorgung abgeschnitten, Hunderttausende ohne jedes Einkommen und ohne Elektrizität - was in diesem südeuropäischen Land in sogenannten Friedenszeiten unter dem Imperativ der Wettbwerbsfähigkeit an Lebensmöglichkeiten zerstört wird, macht grundsätzliche Kritik am sozialdarwinistischen Charakter kapitalistischer Marktwirtschaft unverzichtbar.

Wenn 240 Milliarden Euro an Krediten auf politischen Beschluß freigegeben werden, um ein derart desolates Ergebnis zu erzielen, dann steht mehr auf dem Spiel als die Refinanzierung angeschlagener Banken. Es geht um die fortgesetzte Aneignung von Arbeitskraft und Ressourcen unter Bedingungen, die die Befriedigung physischer Grundbedürfnisse immer weniger gewährleisten können, aber die herrschende Eigentumsordnung dennoch nicht in Frage stellen. So repräsentiert das für die Alimentierung Griechenlands bereitgestellte Geld im Kern die Forderung, sich dem Diktat der Troika und des durch sie vertretenen Kapitals zu praktisch jeder Kondition zur Verfügung zu stellen. Die Macht der Gläubiger ist mithin keiner ökonomischen Zwangsläufigkeit geschuldet, sondern sozial bestimmt. Sie schützt exklusive Formen des Überlebens und Wirtschaftens vor jedem Versuch, Forderungen geltend zu machen, die nicht der Logik des Werts unterworfen sind. Diese aufzuheben und den Menschen nicht mehr gleichgültig gegen sich selbst, sprich zur geldförmig vergleichbaren Ware Arbeitskraft zu machen, ist die direkteste Möglichkeit, dem sozialen Krieg den Brennstoff der Spaltbarkeit und Teilbarkeit durch fremde Interessen verfügbar gemachter Subjekte zu entziehen.

Wer etwas über das Ausmaß der sozialen Krise in Griechenland und die politischen Perspektiven ihrer Bewältigung erfahren will, der erhält in der englischsprachigen Dokumentation "Greece on the Brink - The Crisis of Capitalism and the Socialist Solution" einen Einblick nicht nur in die katastrophale Lebenssituation vieler Menschen, sondern auch den theoretischen Fundus der Internationalen Marxistischen Tendenz (IMT). Der Versuch der dem Trotzkismus zugerechneten Strömung IMT, die Situation in Griechenland einer marxistischen Analyse zu unterziehen, ist für das Verständnis möglicher politischer Konsequenzen durchaus zuträglich. In Interviews und im gesprochenen Text werden Positionen entwickelt, die im weitesten Sinn auf dem Linken Flügel der Partei SYRIZA zu verorten sind. So kritisieren mehrere Vertreter der Kommunistischen Tendenz innerhalb der Partei SYRIZA den sozialdemokratischen Kurs des Parteichefs und Spitzenkandidaten Alexis Tsipras als reformistischen Ausverkauf notwendig radikaler Forderungen.

Die These, daß das unterstellte Marktregulativ nicht in der Lage ist, die Krise der Überproduktion auf eine Weise zu lösen, die genügend bezahlbare Nachfrage schafft, um das Leben der Lohnabhängigen wie die Rentabilität der Marktakteure zu sichern, steht im Mittelpunkt des Grundsatzes, nur die Überwindung des Kapitalismus könne aus dieser Krise herausführen. Eine mögliche Stimulierung der Ökonomie durch Zinssenkungen entfalle aufgrund der bereits historisch niedrigen Leitzinsen, während die keynesanische Rezeptur größerer öffentlicher Ausgaben lediglich die Verschuldung erhöhe. Für die Autoren des Films führt ein systemimmanenter Mechanismus der Krisenbewältigung wie die Ausweitung der Geldmenge durch die Zentralbanken in die Irre weiterer Rezession, wie überhaupt zu fragen wäre, warum in Produktivitätssteigerungen investiert werden soll, wenn die dabei entstehenden Waren nicht verkauft werden können. Die Mittel der Krisenbewältigung seien ausgeschöpft, so die zentrale These des Films, was die Überwindung des Kapitalismus zum Gebot der Stunde mache.

Einig sind sich die befragten Aktivistinnen und Aktivisten in der von Tsipras nicht mehr erhobenen Forderung nach der völligen Einstellung des Schuldendienstes, handle es sich doch um einen revolutionären Akt, auf diese Weise die Machtfrage zu stellen. In der Krise des Kapitalismus seien Reformen nicht möglich, daher gelte es, die Kontrolle über die Arbeit in die Hände der Arbeiterinnen und Arbeiter zu legen und die Finanzwirtschaft auf nationaler Ebene zu verstaatlichen, um eine rationale Planung der Wirtschaft zu ermöglichen. Die Zerstörung des öffentlichen Sektors durch Massenentlassungen von Staatsbediensteten und die neoliberale Privatisierungspolitik sollen beendet und bereits privatisierte Staatsbetriebe rekommunalisiert werden, so eine zentrale Forderung der Autoren des Films.

Die Legitimität der Forderung nach der vollständigen Einstellung aller Schuldenrückzahlungen begründen der gewählte Leiter der IMT und Chefredakteur der Website "In Defence of Marxism", Alan Woods, und der italienische Ökonom Claudio Belotti, Autor des Buches "Crisi, Debito, Default - Rompere con l'utopia", in aller Ausführlichkeit. Aus diesem Schritt soll nichts Geringeres als die Ablösung der kapitalistischen Ordnung durch eine demokratisch kontrollierte und planwirtschaftlich organisierte Gesellschaft im Gemeinbesitz resultieren, was diesen Film über die Dokumentation gesellschaftlicher Mißstände hinaus in ein politisches Manifest verwandelt. Er fordert dem Zuschauer einige Aufmerksamkeit ab, bietet aber auch einen guten Einstieg in die qualifizierte Diskussion offenkundiger Widersprüche nicht nur des Kapitalverhältnisses, sondern auch linker Strategien zur Einhegung seiner destruktiven Auswirkungen.

Die von einem Aufnahmeteam unter Leitung von Manuel Reichetseder erstellte, 105 Minuten lange Dokumentation wird unter Creative Commons-Lizenz vertrieben und kann kann seit Jahresbeginn unter folgender Adresse im Internet heruntergeladen werden:

http://greeceonthebrink.com/


6. April 2014