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REZENSION/025: "Auf der Suche nach dem Gedächtnis - Der Hirnforscher Eric Kandel" (ARTE) (SB)


Neurobiologie und Humanismus ... ein widersprüchliches Verhältnis

"Auf der Suche nach dem Gedächtnis - Der Hirnforscher Eric Kandel"


Anhand zweier großer Geschichten wird die Suche nach dem Gedächtnis dokumentiert, auf die sich der Hirnforscher Eric Kandel begeben hat. Die eine ist biografischer Art und betrifft die persönliche Vergangenheit des 1929 in eine jüdische Mittelklassefamilie in Wien geborenen Nobelpreisträgers. Die andere illustriert die wissenschaftlichen Errungenschaften Kandels, die insbesondere die Korrelation zwischen geistigem Erinnerungsvermögen und dem neuronalen Substrat des Gedächtnisses zum Gegenstand haben. Beide Erzählstränge werden von Regisseurin Petra Seeger kunstvoll und mit einer durchaus beabsichtigten inhaltlichen Parallelität miteinander verknüpft. Langzeiterinnerungen, am Beispiel der von antisemitischer Verfolgung betroffenen Kindheit des Protagonisten im vom NS-Staat einverleibten Österreich und ihrem Wiedererstehen im Rahmen einer Reise an die Orte des Geschehens ausgeführt, sind Voraussetzung jeglichen historischen Fortschritts, lautet der unmißverständliche Subtext der im Juni 2009 in Deutschland uraufgeführten Dokumentation.

"Es ist schwierig, die komplexen Interessen und Handlungen eines Erwachsenenlebens zurückzuführen auf bestimmte Erfahrungen in der Kindheit. Doch ich bin sicher, dass mein späteres Interesse am Geist, am Verhalten, der Unberechenbarkeit von Motiven und der Fortdauer von Erinnerungen, auf mein letztes Jahr in Wien zurückgeht. Nach dem Holocaust lautete ein Motto der Juden, niemals zu vergessen. Wachsam gegen Antisemitismus, Rassismus und Hass zu sein, gegen die Geisteshaltungen, welche die Nazi-Gräuel ermöglicht hatten. Meine Arbeit widmet sich den biologischen Grundlagen des Mottos und den Prozessen im Gehirn, die uns zur Erinnerung befähigen."

Dieses aus den deutschen Untertiteln seiner englischsprachigen Worte zitierte Bekenntnis Kandels ist zentral für das Verständnis eines Wissenschaftlers, der seine Karriere in den USA als Flüchtling begann und heute zu den führenden Neurobiologen der Welt zählt. Dabei ist seine den biologischen Voraussetzungen menschlicher Erkenntnis gewidmete Forschungsarbeit gerade deshalb, weil sie ein emanzipatorisches Anliegen artikuliert und beim Verständnis geistiger Prozesse einem radikalen biologischen Reduktionismus folgt, nicht frei von Widersprüchen. So sind Kandels Erkenntnisse zur Verwandlung kognitiver Einflüsse in neuronale Strukturen einem neurowissenschaftlichen Paradigma zuzuordnen, das im weitesten Sinne einer Biologisierung des Sozialen Vorschub leistet.

Die von Kandel untersuchte Biologie des menschlichen Geistes, die von ihm propagierte Theorie eines seine neuronalen Bedingungen zwar beeinflussenden, aber auch von diesen abhängigen Lernens und der von ihm gebahnte biologische Zugang zur Psychiatrie arbeiten einer behavioristischen Empirie zu, die als Einfallstor biopolitischer Regulative fungieren. Wo der Mensch auf den Horizont seiner Kognition und der neurobiologischen Bemeßbarkeit reproduzierbaren Wissens reduziert wird, bleiben darüber hinausgehende Entwürfe, die das Entwicklungspotential sozialer Interaktion und solidarischer Kämpfe in den Mittelpunkt stellen, auf der Strecke eines letztlich auf seine Verwert- und Verfügbarkeit orientierten Menschenbilds.

Zwar befindet sich Kandel mit seinem Konzept von der hochdynamischen Plastizität des Gehirns auf der Höhe einer Hirnforschung, die die platte Gleichsetzung der Grundlage des menschlichen Bewußtseins mit einem Computer überwunden hat. An der Vergesellschaftung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse, laut der etwa die Ursachen kriminellen Fehlverhaltens vor allem in den Strukturen des Gehirns und weniger in gesellschaftlichen Widersprüchen angesiedelt seien, ändert dies jedoch nichts. Sie frönt einem vulgärmaterialistischen Determinismus, dessen Grundsatz, geistig-psychische Zustände unterlägen physikalisch-physiologischen Bedingungen, fatale Folgen hinsichtlich der anwachsenden Bereitschaft zeitigt, das Individuum auf seine genetische Ausstattung festzulegen und dieses schicksalhafte Dispositiv in Werturteile umzumünzen, die die persönliche Autonomie einschränken.

Auch neurobiologische Forschungen finden nicht im luftleeren Raum vermeintlich neutraler Erkenntnissuche statt, sondern sind Produkt der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Wissenschaft betrieben wird. Dem wird in dem Film auf scherzhafte Weise Rechnung getragen, als Kandel, der mit alten Freunden in Erinnerungen schwelgt, auf die Anmerkung, daß die Intellektuellen im Wiener Kaffeehaus die Revolution planten, antwortet, dafür habe es nicht gereicht, "deshalb machen wir Wissenschaft". Auch wenn der liberale Geist, den Kandel überzeugend verkörpert, der politischen Faschisierung unverdächtig erscheint, so begünstigen die Neurowissenschaften mit ihrem Anspruch, die Entwicklung des Menschen in seinem bioorganischen Substrat zu verorten, die Etablierung einer repressiven Anthropologie der individuellen Bezichtigung respektive Entmündigung.

Nun beansprucht Kandels Hinwendung zu Sigmund Freud, der seiner Ansicht nach heute Neurobiologe wäre, und der Psychiatrie gerade die Symbiose zwischen seiner naturwissenschaftlichen Disziplin und einem Humanismus, für den der Wiener Begründer der Psychoanalyse Sinnbild ist. Dies tut er allerdings unter dem Primat eines Gültigkeitsanspruchs, der die Neurobiologie zur kausalen Matrix der in ihren Erkenntnissen angeblich neuronale Prädispositionen reflektierenden Geistes- und Sozialwissenschaften erhebt. Wie im Bild der aufgeschnitten auf dem Seziertisch liegenden Meeresschnecke Aplysia californica, deren Nervengewebe Kandel und sein Team ihre wichtigsten Erkenntnisse zu verdanken haben und zu der Neurobiologe daher eine innige, ja empatische Beziehung aufgebaut hat, gerät das Vermächtnis geistiger Erkenntnis unter das Messer einer zerlegenden und zerteilenden Wissenschaft, die den gesellschaftlich atomisierte Menschen eben nicht mehr nur in seiner Physis, sondern auch all dem, was ihn in seinem Potential utopischer Grenzüberschreitung ausmacht, ihrem zellbiologischen Paradigma unterwirft.

Von daher ist dem sehenswerten, die politischen Abgründe und den kulturellen Reichtum des 20. Jahrhunderts ebenso illustrierenden wie in Methodik und Theorie der Gedächtnisforschung Kandels einführenden Film zu wünschen, daß seine zahlreichen positiven Rezensionen durch eine kritische Rezeption ergänzt werden. Gerade weil dort dargestellte Experimente zum Lernen den Eindruck erwecken, beim Menschen handle es sich um einen Reiz-Reaktions-Mechanismus, der der Biologie seines Geistes weitgehend ausgeliefert ist, gilt es, seine soziale Verfassung wieder auf die Füße einer Emanzipation zu stellen, die die von Kandel postulierte materielle Bedingtheit zur tätigen Überwindung der letztlich vom menschlichen Erkenntnisdrang selbst geschaffenen Grenzen öffnet.

"Auf der Suche nach dem Gedächtnis - Der Hirnforscher Eric Kandel"
wird am 03.06.2011 um 21.40 bei ARTE ausgestrahlt.

29. Mai 2011