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REZENSION/022: "Restrisiko" - Sat.1 inszeniert GAU in norddeutschem Atomkraftwerk (SB)


"Restrisiko"

Ein spannender Fernsehfilm zu einem hochaktuellen Thema


Mit "Restrisiko" hat der Fernsehsender Sat.1 am 18. Januar das Thema eines aktuellen politischen Diskurses aufgegriffen. In dem fiktiven norddeutschen Atomkraftwerk Oldenbüttel kommt es zum größten anzunehmenden Unfall, dem GAU. Unmittelbare Ursache der Katastrophe waren Konstruktionsmängel einer veralteten Akw-Reihe, mittelbar spielten auch die Laufzeitverlängerung der Anlagen durch die Bundesregierung, ganz allgemein das Profitstreben der Kraftwerksbetreiber, der persönliche Ehrgeiz des Werksleiters Ludger Wessel (Kai Wiesinger) sowie die vermehrte Inanspruchnahme von Leiharbeitern eine Rolle.

Sicherheitschefin Katja Wernecke (Ulrike Folkerts), Mutter zweier Kinder und von deren Vater Gerald Wernecke (Thomas Sarbacher) getrennt lebend, hatte zugestimmt, einen Trafobrand der INES-Stufe 0 - keine oder nur sehr geringe sicherheitstechnische Bedeutung - entgegen der Vorschrift nicht der Atomaufsichtsbehörde zu melden. Schließlich stand die Entscheidung über die Laufzeitverlängerung kurz bevor, da konnte man schlechte Nachrichten nicht gebrauchen. Kaum daß ein Arbeiter einen Schraubenschlüssel fallenlasse, müsse man das melden, empört sich Wessel bei einer Versammlung der Führungskräfte des Akw- eine der vielen plausiblen Szenen dieser TV-Produktion, die der Vertuschung fast ein menschliches Gesicht verleiht. Dumm nur, daß in einem Atomkraftwerk ein harmlos wirkendes Ereignis wie das Fallenlassen eines Schraubenschlüssels oder andere ähnlich "banale" Vorfälle tatsächlich weitreichende Folgen haben können.

Grundsätzlich ist festzustellen, daß es niemals technisches Versagen gibt, denn immer sind es Menschen, die Fehler machen. Das gilt auch für Fälle, in denen Material "ermüdet" - schließlich hätte es überprüft werden können. Der Umgang des Menschen mit Gegenständen beweist eigentlich tagtäglich seine Nicht-Kontrolle. So kommt es auf deutschen Autostraßen jedes Jahr zum Massentod. 2009 starben mehr als 4100 Personen im Verkehr (inklusive Fußgänger), die Zahl der im Verkehr getöteten Tiere kann nur geschätzt werden, übersteigt aber diesen Wert deutlich. Zudem kam es zu 886.122 meldepflichtigen Arbeitsunfällen in Deutschland, wovon 456 tödlich endeten. Unfälle im Haushalt oder im Garten mit technischen Geräten, Behandlungsfehler im Krankenhaus, Tippfehler in einem Zeitungsartikel ... die Liste der kleinen und großen menschlichen Fehlleistungen ist lang. Die obigen Zahlen sprechen für sich: Von kontrollierter Motorik oder Kognition kann nicht die Rede sein. Atomkraftwerke sind jedoch gefährlicher als viele andere Technologien, weil von den Folgen eines Unfalls sehr viel mehr Menschen betroffen sein können als beispielsweise von einem Unfall in einem Windpark.

Trotz mehrfacher Redundanz der Sicherheitssysteme in Atomkraftwerken bleibt ein Restrisiko. Das besteht allerdings nicht nur bei älteren Akws, wie der gleichnamige Fernsehfilm nahelegt. In "Restrisiko" wird zwar eine deutliche Anti-Akw-Position eingenommen, was für einen Fernsehsender wie Sat.1 zunächst ungewöhnlich ist. Allerdings wurde innerhalb des Spektrums der Anti-Akw-Bewegung wiederum ein moderater Standpunkt vertreten. Abgesehen von der Absage an Laufzeitverlängerungen für ältere Akws zeigte der Film keine Szenarien einer Fundamentalopposition zur Kernenergie. Denn die gefährlichen alten Meiler können durch neue ersetzt, der Anteil der Leiharbeiter kann begrenzt und Sicherheitsprotokolle können verbessert werden.

Der Film zeigt, daß die Produzenten nicht davon ausgehen, "gegen Kernkraft" zu sein sei ein gesellschaftlich marginaler Standpunkt. Die Einschaltquote scheint dies zu bestätigen: 3,69 Millionen Zuschauer schalteten zur Premiere ein, der Marktanteil lag bei 11,3 Prozent. Das ist nicht sonderlich berauschend, aber auch keine Pleite.

"Restrisiko" kann in zwei Richtung gedeutet werden. Zum einen als Anspielung auf einen zynisch anmutenden Fachbegriff der kerntechnischen Terminologie, wobei dazu der GAU, die Evakuierung der Bevölkerung Hamburgs aus der radioaktiv kontaminierten Zone und die verstrahlten Kinder in der Elbmarsch den menschlichen Kontrast bildeten. Diese Deutung legt der Film nahe. Blickt man allerdings auf die subtextualen Aussagen, dann impliziert der Film, daß es schwarze Schafe gibt, woraus umgekehrt folgt, daß es auch weiße Schafe geben muß. Das heißt, unter bestimmten Umständen könnten Atomkraftwerke sicher und akzeptabel sein; nach dieser Logik wäre das dann noch verbleibende Restrisiko vertretbar.

Es gibt eine Reihe anderer Gründe, nicht weniger wichtig als die Strahlengefahr, die gegen die Atomkraft sprechen. Ursprünglich waren Akws ein hochsubventionierter Spin-off der militärischen Nutzung der Kernspaltung für den Bau ultimativer Zerstörungsmittel (Uran- und Plutoniumbombe). Heute dient der zivil-militärische Nuklearkomplex hegemonialen Interessen wie Aufbau eines Gleichgewichts des Schreckens (das permanent mit dem Ungleichgewicht droht) und Einschüchterung der Nicht-Atomwaffenstaaten sowie als Vorwandslage, um Druck auf unliebsame Staaten wie den Iran zu verüben. Die vermeintlich zivile Atomenergie begünstigt den Aufbau und die Weiterentwicklung eines Repressionsapparats (Atomstaat). Was auch dann gilt, wenn, wie in Deutschland, nur gut ein Fünftel des Energiebedarfs einer Gesellschaft von Atomkraftwerken produziert wird. Akws begünstigen die Entstehung von Oligopolen und tragen als zentralistisch organisierte Energieproduktion zur Qualifizierung der staatlichen Verfügungsgewalt bei.

Dies alles berührt der Film "Restrisiko" nicht. Er deutet keinerlei außergesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten an (womit nicht das realsozialistische Modell gemeint ist, denn das betrieb viele Kernkraftwerke - siehe Tschernobyl) und bleibt in den propagierten Werten bürgerlich. Die Familie bildet einen wichtigen gesellschaftlichen Rückhalt. Nicht zuletzt mit Blick auf das Wohl ihrer Kinder bricht die im Verlauf des mit Rückblenden arbeitenden Films zur Akw-Kritikerin gewandelte Ingenieurin auf, um an patrouillierenden Bundeswehrsoldaten vorbei in die verstrahlte Zone einzudringen. Von dort will sie den Beweis dafür holen, daß nicht nur das Akw Oldenbüttel, sondern alle baugleichen Meiler dieser Reihe gefährlich sind. Dabei wird sie von dem Kommunikationsberater Steffen Strathmann (Matthias Koeberlin) unterstützt, der eine Imagekampagne für die Akw-Betreiber organisiert hat. Auch diese Figur erfährt eine Wandlung. Aus dem arroganten Fiesling wird ein Freund der Ingenieurin und ihr Retter in der Not. Ein PR-Berater mit Gewissen? Wie gesagt, es handelt sich um eine Fiktion ...

Bei aller Bescheidenheit hinsichtlich der Tiefe der Auseinandersetzung mit der Atomenergieproduktion kann für "Restrisiko" eine Empfehlung ausgesprochen werden. Er ist spannend, hat zumindest eine humorvolle Szene - Katjas Sohn trägt bei seinem ersten Besuch im Akw ein T-shirt, auf dem dick und fett die rot-gelbe Anti-Akw-Sonne prangt; was ein voller Erfolg war und mit den säuerlichen Gesichtern der Belegschaft belohnt wurde - und vor allem: Der Film bezieht Stellung. Sat.1 sollte dieser Art der Fernsehproduktion eine Chance geben.

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Personen und ihre Darsteller
Katja Wernecke: Ulrike Folkerts
Ludger Wessel: Kai Wiesinger
Steffen Strathmann: Matthias Koeberlin
Gerald Wernecke: Thomas Sarbacher
Gerhard Garbers: Bernd Mahlsdorf
Elke Krüger: Franziska Weisz
John Johannson: Helmut Zhuber
Hille Beseler: Nora Haug
Michael Moritz: Claus Hansen

Regie: Urs Egger
Drehbuch: Sarah Schnier, Carl-Christian Demke
Kamera: Martin Kukula
Komponist: Nikolaus Glowna
Schnitt: Andrea Mertens
Produzenten: Ivo-Alexander Beck, Alicia Remirez
Produktionsfirma: Ninety-Minute Film GmbH
Deutschland 2010

25. Januar 2011