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WIDERSPRUCH/001: Stellungnahme des International Solidarity Movement zu einem ZEIT Artikel (ISM)


International Solidarity Movement (ISM) - 6. Juli 2010

Stellungnahme von International Solidarity Movement zu dem am 1.7.2010 in der Zeit
erschienenen Artikel "Mal ein bisschen Krieg mitmachen" geschrieben von Victoria Kleber.

http://www.zeit.de/politik/ausland/2010-07/Nahost-Aktivisten


Sehr geehrte Damen und Herren der Redaktion "DIE ZEIT",

Ich schreibe Ihnen aufgrund des am 1.7. von Ihnen veröffentlichten Artikels "Mal ein bisschen Krieg mitmachen", von Viktoria Kleber. Im Namen vom International Solidarity Movement (ISM) bitte ich Sie, diesen Artikel in der nächsten Printausgabe sofort zu korrigieren und in seiner jetzigen Form vom Netz zu nehmen.
Der Artikel in seiner journalistisch schlecht recherchierten und diffamierenden Art schadet nicht nur dem Ansehen von ISM, sondern vielmehr dem Ansehen der ZEIT. Er basiert fast ausschließlich auf Behauptungen und falschen Aussagen.
Das beigefügte Bild zeigt nicht, wie die Bildunterschrift behauptet zwei Internationale Aktivisten "im Scharmützel" mit israelischen Soldaten, sondern zwei israelische Friedensaktivisten, die uns durch gemeinsame Aktivitäten persönlich bekannt sind.

Mit Erstaunen erfuhren wir von "Martin", der keinem in ISM bekannt ist. Nach Rücksprache mit unserem Büro in Ramallah kann ich Ihnen bestätigen, dass es "Martin" nicht gibt und seit einigen Monaten auch ansonsten niemand aus Deutschland aktiv an der Arbeit von ISM in der Westbank beteiligt war. Über 900 AktivistInnen pro Jahr aus Deutschland würden wir uns sehr freuen - leider gibt es sie bei weitem nicht.

ISM ist eine gewaltfreie und nicht-hierarchische Bewegung, die sich als palästinensisch geführt versteht. Das Selbstverständnis von ISM ist, dass unsere Präsenz auf Einladung der palästinensischen Zivilgesellschaft basiert und alle unserer Aktivitäten jeweils mit lokalen Organisationen der Zivilgesellschaft abgestimmt werden. So gibt es z.B. in den Dörfern, die Widerstand gegen den Mauerbau leisten, "popular committees", in denen die palästinensischen BewohnerInnen des Ortes gemeinsam diskutieren und entscheiden, welche Aktivitäten sie umsetzen wollen. Daraufhin kontaktieren sie uns und wir begleiten diese, solange sich unsere Aufgaben im Kontext des gewaltfreien Widerstandes bewegen. Ich möchte hier nochmals betonen, dass es sich um einen festgelegten Grundsatz bei ISM handelt, dass alle AktivistInnen sich zu absoluter Gewaltfreiheit (verbal und physisch) verpflichten während sie mit ISM arbeiten. AktivistInnen, die sich daran nicht halten, wurden und werden von ISM ausgeschlossen. Menschen, die rassistische bzw. antisemitische Aussagen machen werden sofort ausgeschlossen.

Der von Ihnen veröffentlichte Artikel versucht ISM den Grundsatz von Gewaltfreiheit und enger Kommunikation mit der palästinensischen Bevölkerung durch falsche Behauptungen, aber auch durch Suggestionen abzusprechen.

Die Arbeit bei ISM umfasst viele Bereiche: da die Besatzung den Lebensalltag der PalästinenserInnen in nahezu allen Bereichen dominiert und ihre Menschenrechte verletzt, sind auch die Formen ihres gewaltfreien Widerstands vielfältig - vom ganz alltäglichen Weiterleben trotz Ausgangssperren etc. bis hin zu Demonstrationen gegen den Mauerbau. Über diesen gewaltfreien und zum Teil sehr kreativen Widerstand wird im Ausland nur marginal und oft verfälscht berichtet.

ISM begleitet diesen Widerstand indem wir z.B. Schulkinder auf dem Weg in die Schule oder Kranke auf dem Weg ins Krankenhaus schützen, Demonstrationen begleiten, am (vom internationalen Gerichtshof in Den Haag für menschenrechtswidrig erklärten) "Zaun rütteln" oder Bauern bei der Arbeit auf ihrem Land beistehen, wo sie allzu häufig Ziel von SiedlerInnen und Soldaten werden. Die Olivenernten-Kampagne wurde maßgeblich von uns mit initiiert.

Viktoria Kleber behauptet, ISM würde seinen AktivistInnen in einem Seminar beibringen, wie sie "Siedler verärgern" können. Das Gegenteil ist der Fall - ISM legt großen Wert darauf, dass AktivistInnen nicht unvorbereitet in potentiell gefährliche Situationen gehen. Dazu gehört u.a. auch, durch Rollenspiele zu lernen, sich selbst besser einschätzen zu können, ruhig zu bleiben und angesichts verbaler und physischer Aggression von SiedlerInnen und Soldaten deeskalierend und gewaltfrei zu wirken.

Das Dokumentieren von Menschenrechtsverletzungen und gewaltsamen Übergriffen durch israelische Soldaten und SiedlerInnen ist wichtiger Bestandteil unserer Arbeit, so wie es bei vielen namhaften Menschenrechtsorganisationen der Fall ist. Warum wird das in Ihrem Artikel als "radikal" betitelt? Eine laufende Kamera schützt in vielen Fällen die Menschen, die wir begleiten, aber auch uns. Eine medial begleitete internationale Präsenz ist ein wirksames Mittel zum Schutz von Menschen oder Bevölkerungsgruppen in einer rechtlosen Situation, welches auch in anderen Konfliktzonen der Welt genutzt wird. Es MenschenrechtsaktivistInnen vorzuwerfen, dass SiedlerInnen Übergriffe gezielt dann unternehmen, wenn keine internationalen ZeugInnen präsent sind, ist absurd - das kann doch doch allenfalls ein Argument dafür sein, dass es mehr internationale ZeugInnen geben sollte.

Anders als es Professor Litvak in der zitierten Aussage einschätzt, ist unsere Arbeit leider alles andere als ungefährlich. Hunderte internationale AktivistInnen wurden bereits verletzt, einige so schwer, dass sie Behinderungen für den Rest ihres Lebens davongetragen haben (*). Zwei unserer AktivistInnen, Rachel Corrie und Tom Hurndall, wurden 2003 von der israelischen Armee im Gazastreifen umgebracht. Vor allem aber dem vielfältigen gewaltfreien Widerstand der palästinensischen Bevölkerung begegnet die israelische Armee mit exzessiver Gewalt. Alleine bei den Demonstrationen gegen die Mauer in der Westbank sind bisher 20 Palästinenser umgebracht und tausende zum Teil schwer verletzt worden. Unzählig sind die Toten und Verletzten aus den vielen verschiedenen Bereichen des gewaltfreien Widerstandes.(**)

Die Hauptthese Ihres Artikel, dass die AktivistInnen gegen den Willen der lokalen Bevölkerung agieren und dass sie die Gewalt der SiedlerInnen und Armee noch mehr provozieren als verhindern, liegt weitab von jeglicher Wahrheit. Die Menschenrechtsorganisation B'tselem hierfür heranzuziehen und zu behaupten, sie würde diese These stützen, ist falsch.

B'tselems Pressesprecherin Sarit Michaeli weist dies vehement zurück und schickte uns heute folgende Stellungnahme: " B'tselem hat nie behauptet, dass internationale AktivistInnen die Gewalt der Siedler in Hebron hervorrufen oder provozieren würden. Diese Aussage ist falsch. Ganz im Gegenteil: unsere Berichte zu Hebron zeigen, dass die Gewalt der Siedler vor allem durch die einseitige Nicht-Implementierung des geltenden Rechts durch die israelische Polizei und Armee gegenüber gewalttätigen Siedlern erst möglich gemacht wird."

Es ist immer möglich zu unterschiedlichen Erkenntnissen und Meinungen in einem Konflikt zu kommen, jedoch ist es sehr enttäuschend von einer Zeitung wie der ZEIT einen so verfälschenden Journalismus zu erleben. Bitte korrigieren Sie dies umgehend, auch in Ihrem eigenen Interesse als seriöse JournalistInnen. Sie könnten diesen Brief z.B. in Ihrer nächsten Ausgabe veröffentlichen.

Für Rückfragen stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung,

Maria Vogelsang
mariavogelsang@yahoo.de


Dies sind nur wenige Beispiele von getöteten und verletzten AktivistInnen:

(*) Zuletzt verlor die us-amerikanische ISM-Aktivistin Emily Henochowicz ein Auge, nachdem sieam 1. Juni 2010 bei einer Demonstration wegen des Überfalls auf die Schiffe gegen die Gazablockade aus kurzer Entfernung mit einem Hochgeschwindigkeitstränengasprojektil in den Kopf geschossen wurde.
http://palsolidarity.org/2010/05/12604/

Der us-amerikanische ISM-Aktivist Tristan Anderson befindet sich noch immer in Israel in Behandlung, nachdem er am 13. März 2009 bei einer Demonstration gegen die Mauer mit einem Hochgeschwindigkeitstränengasprojektil in den Kopf geschossen und lebensgefährlich verletzt wurde.
http://palsolidarity.org/tag/tristan-anderson/

Informationen über Rachel Corrie: http://www.rachelcorrie.org/

Informationen über Tom Hurndall: http://www.tomhurndall.co.uk/


(**) Unvollständige Liste der während Protesten gegen die Mauer Getöteten:

17. June 5th. 2009:
'Aqel Sadeq 'Abd a-Rahman Srur, 36 year-old resident of Ni'lin, killed in Ni'lin by 0.22-caliber bullets.

16. April 17th 2009:
Bassem Abu Rahma was shot with a high-velocity tear gas projectile in the chest by Israeli forces and subsequently died from his wounds at a Ramallah hospital.

15. December 28th, 2008:
Mohammad Khawaja, age 20
Shot in the head with live ammunition during a demonstration in Ni'lin against Israel's assault on Gaza. Mohammad died in the hospital on December 31st 2009.

14. December 28th, 2008:
Arafat Khawaja, age 22
Shot in the back with live ammunition in Ni'lin during a demonstration against Israel's assault on Gaza.

13. July 30th, 2008: Youssef Ahmed Younes Amirah, age 17 Shot in the head with rubber coated bullets during a demonstration against the wall in Ni'lin. Youssef died of his wounds on August 4th 2008.

12. July 29th, 2008:
Ahmed Husan Youssef Mousa, age 10
Killed while he and several friends tried to remove coils of razor wire from land belonging to the village.

11. March 2nd, 2008:
Mahmoud Muhammad Ahmad Masalmeh, age 15
Shot when trying to cut the razor wire portion of the wall in Beit Awwa.

10. March 28th, 2007:
Muhammad Elias Mahmoud 'Aweideh, age 15
Shot dead during a demonstration against the wall in Um a-Sharayet - Samiramis.

9. February 2nd, 2007:
Taha Muhammad Subhi al-Quljawi, age 16
Shot dead when he and two friends tried to cut the razor wire portion of the wall in the Qalandiya Refugee Camp. He was wounded in the thigh and died from loss of blood after remaining a long time in the field without being treated.

8. May 4th, 2005:
Jamal Jaber Ibrahim 'Asi, age 15 and U'dai Mufid Mahmoud 'Asi, age 14 Shot dead during a demonstration against the wall in Beit Liqya.

7. February 15th, 2005:
'Alaa' Muhammad 'Abd a-Rahman Khalil, age 14
Shot dead while throwing stones at an Israeli vehicle driven by private security guards near the wall in Betunya.

6. April 18th, 2004:
Islam Hashem Rizik Zhahran, age 14
Shot during a demonstration against the wall in Deir Abu Mash'al. Islam died of his wounds April 28th.

5. April 18th, 2004:
Diaa' A-Din 'Abd al-Karim Ibrahim Abu 'Eid, age 23
Shot dead during a demonstration against the wall in Biddu.

4. April 16th, 2004:
Hussein Mahmoud 'Awad 'Alian, age 17
Shot dead during a demonstration against the wall in Betunya.

3. February 26th, 2004:
Muhammad Da'ud Saleh Badwan, age 21
Shot during a demonstration against the wall in Biddu. Muhammad died of his wounds on March 3rd 2004.

2. February 26th, 2004:
Abdal Rahman Abu 'Eid, age 17
Died of a heart attack after teargas projectiles were shot into his home during a demonstration against the wall in Biddu.

1. February 26th, 2004:
Muhammad Fadel Hashem Rian, age 25 and Zakaria Mahmoud 'Eid Salem, age 28 Shot dead during a demonstration against the wall in Biddu.


*


Quelle:
ISM - International Solidarity Movement
ISM Media Office
Telefon: +972-2/297 18 24
E-Mail: info@palsolidarity.org
Internet: www.palsolidarity.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juli 2010